Bundesverband
Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.


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ForseA unterstützt Forderung an zukünftige Koalitionäre

In Berlin wird derzeit angestrengt nach der Zusammensetzung einer Koalition gesucht.

Verbände und Vereine der Behindertenbewegung haben sich mit ihren Forderungen an die Parteien gewandt und wollen erreichen, dass diese in die Koalitionsverhandlungen einfließen. Es darf nicht mehr zu einer solch desaströsen Festlegung wie 2013 kommen.

Die Forderungen:

  • Umfassende Barrierefreiheit
  • Diskriminierungen müssen strafbewehrt werden
  • Entbürokratisierung der Teilhabe
  • Sonderregelungen weitgehendst vermeiden
  • Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 GG "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" muss im realen Leben erkennbar werden
  • UN-Behindertenrechtskonvention muss ehrlich und fair umgesetzt werden

Die vollständige Forderung wird zusammen mit der Liste der Unterstützervereine und Verbände vom Verein Mobil mit Behinderung (MMB) online bereitgehalten und ständig aktualisiert. Denn es werden sich hoffentlich noch viele Vereine und Verbände anschließen.

Vereine und Verbände, die in diese Liste wollen, melden sich bitte per Mail beim MMB-Vorsitzenden Heinrich Buschmann unter Nennung der Daten und Beifügung des Vereins-Logos als Grafikdatei.

Die Erfahrung der letzten Legislatur hat gezeigt, dass die entscheidenden Weichen zu Beginn gestellt werden. Also müssen wir jetzt aktiv werden!

Vorfahrt für Partikularinteressen? oder Wie man eine Grube auffüllt

Vorfahrt für Partikularinteressen?

oder

Wie man eine Grube auffüllt

Mit Illustrationen von David Siems, selbstbestimmung.ch

Von allen Türmen schallt er, der Ruf nach Beendigung der Einkommens- und Vermögensanrechnung für Menschen mit behinderungsbedingtem Assistenzbedarf, sofern sie am Tropf der Sozialhilfe hängen. Die Regierung tut, was sie für Menschen mit Behinderung schon immer gerne tut, sie verzögert, untersucht, debattiert, hört an - schlicht das ganze Instrumentarium, das man als Regierung hat, wenn sie nicht handeln will. Da die Regierung jedoch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen unterschrieben hat, dürfte sie es mit dieser Haltung nicht in die vierte Legislaturperiode nach der Unterschrift schaffen. Mürbe vom vielen Verhandeln, vom Fordern und Protestieren, haben sich viele Forderungen scheinbar in Luft aufgelöst. Übrig bleibt in der öffentlichen Diskussion als zentrales Element der Forderungen die Aufgabe der Einkommens- und Vermögensanrechnung. Deren Protagonisten haben eigenes Einkommen, sind jung, wollen Familien gründen und was vom Leben haben. Diese sind im bisherigen Konzert der Forderungen am deutlichsten herauszuhören gewesen. Sollte sich deren nachvollziehbare Forderung ganz oder in großen Teilen erfüllen, wird der Forderungschor deutlich schwächer daherkommen. Das ist die Befürchtung aller, die es heute schon sehr schwer haben, sich gegen die geschulte und kampferprobte Phalanx der Kostenträger durchzusetzen. Das sind behinderte, oft auch schwerstmehrfachbehinderte Personen, darunter Kinder, deren Eltern ihr ganzes Leben für ihre Nachkommen gesorgt und gekämpft haben. Sie hatten wie viele andere auch Hoffnungen in die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen gesetzt und wurden – wie viele andere auch – bislang bitter enttäuscht. Enttäuscht nicht nur von der Regierung, sondern auch von Verbänden, die ihre Interessen nicht oder nur halbherzig mit vertreten haben. Deren Sorge möchte ich anhand der beigefügten Zeichnungen hier erläutern.

Zeichnung der offenen Grube Das erste Bild zeigt Menschen in einer Grube. Diese symbolisiert die Menschenrechtssituation behinderter Menschen in Deutschland, denn sie unterscheidet sich wesentlich von denen der Menschen ohne Behinderung. Will man diese Diskriminierung behinderter Menschen ausglei-chen, also die Inklusion herstellen, dann füllt man die Grube so auf, dass sich die darin befindlichen Menschen mit Behinderung nach oben arbeiten können und dann das gesellschaftliche Niveau ihrer Mitmenschen erreichen.
Wenn wir dagegen uns weiterhin auf die Freiheit von Einkommens- und Vermögensanrechnung fokussieren, tritt das Beispiel von Bild zwei ein. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass diese Befürchtungen keineswegs konstruiert sind. Denn unter der Überschrift "Neid der Benachteiligten" wurde bereits ein entsprechender Artikel veröffentlicht. Zitat: "Doch kann hieraus abgeleitet werden, dass z.B. die Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit warten muss, bis auch diese Gerechtigkeitslücke geschlossen wird? Die Antwort lautet kurz und knapp: Nein!".

Zeichnung der gedeckelten GrubeSomit wird am oberen Ende der Grube eine Decke eingezogen, die fitten, jungen Menschen mit eigenem Einkommen sind dann oben, die anderen, auf welche obige Beschreibung nicht zutrifft, sind weiterhin unten, nunmehr durch den Deckel unsichtbar und unhörbar.

Nachfolgendes Beispiel eines Briefes eines Kostenträgers an eine Antragstellerin dokumentiert deren Probleme stellvertretend für viele andere, die uns im Rahmen unserer Beratungstätigkeit erreichen:

"… nach § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII (Sozialgesetzbuch XII) gilt der Vorrang der ambulanten Leistung nicht, wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Hieran ändert auch Artikel 19 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen nichts.

Es sind folgende Punkte zu klären:
1. Wäre die Einrichtung „…." in …… geeignet? Aus welchem Grund ggf. nicht?
2. Ist diese stationäre Einrichtung grundsätzlich zumutbar? Wie sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände?
3. In welcher Höhe fällt Hauswirtschaftliche Hilfe an? Was ist genau zu tun?
4. In welcher Höhe fallen Eingliederungshilfeleistungen an? (Punkt 3 und 4 muss getrennt verbucht werden, daher ist die Trennung wichtig)
5. Wie ist der Tagesablauf von Frau …..? Wer macht was für Frau ….? Wer, in welchem Umfang, bei welchen Tätigkeiten unterstützt sie noch neben diesen fünf Angestellten?"

Hier wird die ganzheitliche Betrachtung des Hilfebedarfes ignoriert Viele Menschen mit Behinderung benötigen Unterstützung in allen Dingen des täglichen Lebens. Die Einordnung in unterschiedliche Hilfearten macht das Thema vielleicht verwaltungstauglicher. Mit der Lebenswirklichkeit hat dies jedoch nichts zu tun. Kein Tag ähnelt einem anderen, unser Leben lässt sich nicht in Tabellen fassen. Das Bundessozialgericht hat längst festgestellt, dass auch Zeiten zwischen den Verrichtungen zum Bedarf gehören, da Assistenzpersonen nicht je nach Bedarf ein- oder ausgeschaltet werden können. Wörtlich: "Denn eine Hilfsperson kann regelmäßig nur für zusammenhängende Zeitabschnitte, nicht jedoch für einzelne Handreichungen herangezogen bzw. beschäftigt werden." Selbstverständlich gilt auch der § 13 SGB XII weiter. Lediglich der Kostenvorbehalt im ersten Absatz wurde durch den selbstvollziehenden und damit unmittelbar anzuwendenden Artikel 19 in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen abgestellt. Mit diesem Brief werden auch allgemeine Grundsätze verletzt wie z.B. die §§ 13 und 14 SGB I sowie § 6 SGB XII. Die Behörde erteilt falsche Beratungen und ignoriert ihre Verpflichtungen. Zudem ist zu erkennen, dass man dort auf dem betreffenden Gebiet weder aus- noch fortgebildet ist. Ob das Unwissen echt oder nur vorgegeben ist. Es ist ein Teil der Gewalt, der Antragstellerinnen und Antragstellern ständig ausgesetzt ist.

Nachdem die Forderungen der agilen, lauten Menschen mit Behinderungen erfüllt sind, lehnt sich die Politik zurück. Weitere Verbesserungen rücken wieder in weite Ferne. Denn das größte Protestpotenzial ist dann von der Straße. Die Verlierer bleiben beispielsweise schwerstmehrfachbehinderte Kinder und ihre Eltern, aber auch Menschen, die durch Krankheiten oder selbstverschuldete Unfälle zu ihrer Behinderung gekommen sind. Diese werden weiterhin der Gewalt von Behörden ausgeliefert sein, mit der sie in schöner Regelmäßigkeit überzogen werden. Diese werden weiterhin ihren Bedarf mit Zähnen und Klauen verteidigen müssen. Gegen Argumente, die einander in Sachen Absurditäten den Rang ablaufen. Sie werden in unschöner Regelmäßig-keit weiterhin Gutachtern ausgesetzt sein, die mit unserer Lebenswirklichkeit nicht vertraut sind, die sehr oft unsere Behinderungsart und deren Folgen nicht mal kennen.

Das alles, weil eine kleine, aber sehr laute, mobile und durchsetzungsfähige Gruppe durchaus verständlich ihr Recht auf uneingeschränkte Nutzung des eigenen Einkommens und Vermögens einfordert, aber sich wenig darum kümmert und dazu beiträgt, dass andere Menschen mit Behinderung die Chance bekommen, auf ihr gesellschaftliches Niveau aufzuschließen. Wer anderen Menschen Solidarität verweigert, sollte sie nicht für sich selbst einfordern!

Eine Behinderung macht aus Menschen keine besseren Menschen. In der heutigen Zeit kommt man scheinbar nur noch mit einem ausgeprägten Egoismus voran. Dennoch erwarte ich von Menschen mit Behinderung, dass sie nicht dieselben Fehler begehen wie die Menschen ohne Behinderung. Wir kennen die Lebenswelten der Menschen am unteren Ende der Skala oder können sie wenigstens besser einschätzen als die Nichtbehinderten. Gleichwohl versuchen wir, unsere Interessen zuerst durchzusetzen. Für mich ist das kein solidarisches Verhalten.

Mir wurde mal ins Stammbuch geschrieben:

"Wer nicht sagt, was er will, muss nehmen was er kriegt."

Wenn wir Menschen mit Behinderung uns das Fordern abtrainieren, nur weil andere für ihr Thema Vorfahrt beanspruchen und uns dabei noch einreden, wir hätten eh keine Chance, dann sind wir selbst schuld. Die Früchte der Behindertenrechtskonvention sind für alle da. Was ist so verwerflich an der Vision, dass sich alle Menschen mit Behinderungen hinter einem Speer versammeln und damit den gesammelten Forderungen den nötigen Nachdruck verschaffen? Dann kommen wir am Ende alle zusammen über die Ziellinie. Lassen wir jedoch zu, dass Partikularinteressen nach Lautstärke oder gesellschaftlichen Rangfolgen bedient werden, dann werden die Positionen der nachrangigen Gruppen wesentlich geschwächt.

Von Visionen zu träumen ist schön. Zurück in der Realität muss man dann erkennen, dass auch Menschen mit Behinderung eben Menschen sind, auch mit Schwächen. Diese Schwächen werden von den Regierenden gnadenlos ausgenutzt.

Abschließend noch ein Hinweis auf die Juli-Kolumne von Harald Reutershahn in den kobinet-Nachrichten: "Vielen Dank für Garnichts", in der die Sozialpolitik in der Vergangenheit sehr gut beschrieben wurde.

Gerhard Bartz
ForseA-Vorsitzender
24. September 2014

 

 

 

21.03.2015 Erklärung von MMB, ForseA und weiterer Vereine

Gemeinsame Erklärung der Vereine

Abwicklung der Nachteilsausgleiche behinderter Menschen mittels der Sozialhilfe ist ohne Zweifel eine zwingend abzustellende staatliche Diskriminierung!

Veraltete, nicht mehr angepasste Gesetzgebung im 12. Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII):

In vielen Köpfen geistert noch die Vorstellung herum, dass die Sozialgesetzbücher bereits die von der Behindertenrechtskonvention geforderten Standards abbilden. Dem ist nicht so. Noch immer werden behinderte Menschen, die ihre Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen wollen, von unmittelbaren behördlichen Eingriffen bedroht. Ihr Leben wird komplett auf den Prüfstand gestellt. Dazu kommt die diskriminierende Behandlung als Sozialhilfeempfänger. Nur wegen unserer Forderung, unsere behinderungsbedingten Nachteile – wenigstens dort, wo es möglich ist – auszugleichen, werden wir behinderungsbedingt arm gemacht. Wir müssen Einkommen und Vermögen offenlegen und uns Teile davon als "zumutbaren Eigenanteil" anrechnen lassen. Lebenspartnerschaften entstehen erst gar nicht oder gehen deshalb in die Brüche. Dass die Familie unter dem besonderen Schutz des Staates steht, gilt - behinderungsbedingt – ebenfalls nicht. Ein Nachteilsausgleich, der unmittelbar zu weiteren Diskriminierungen führt, ist unter den heutigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht mehr akzeptabel. Wir haben untenstehend zum Beweis dieser Aussagen gesetzliche Festlegungen zitiert. Dass wir mit unseren Interpretationen nicht alleine stehen, beweist eindrucksvoll die Sicht des Bundesverfassungsgerichtes.

Nachfolgende Punkte unterstreichen die Unrechtmäßigkeit der andauernden Diskriminierungen:

  • Ãœbereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Dort, wo die Artikel nicht direkt anwendbar sind, müssen bestehende Gesetze in ihrem Licht interpretiert werden. Grundsatz: Neues Recht interpretiertaltes Recht (Lex posterior derogat legi priori).

  • Grundgesetz: Artikel 3 Absatz 3, Satz 2: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Das Bundesverfassungsgericht gab am 10. Oktober 2014 zu verstehen, wie die Anwendung des Artikel 3 GG korrekt ist: "Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinder-ter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmög-lichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen." Az.: 1 BvR 856/13

  • Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz: § 1 Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.

Fazit:

Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes sind wir nicht mehr darauf angewiesen, sämtliche Rechtszüge zu durchlaufen. Die Kostenträger dagegen sind zwingend verpflichtet, ihre Sozialgesetzbücher (nicht nur das 12.) daraufhin zu prüfen, ob das einschlägige Gesetz Menschen mit Behinderung diskriminiert. Denn eine auf die Gesetze verpflichtete Behörde kann an dieser Entscheidung vorbei nicht so weiter agieren wie in der Vergangenheit. Vor diesem Hintergrund muss ebenfalls der Gesetzgeber seine haushaltsschonenden Verzögerungen aufgeben. Denn er kommt an dieser an Deutlichkeit nichts vermissenden Feststellung des Bundesverfassungsgerichtes ebenfalls nicht mehr vorbei. Dabei spielt es auch keine Rolle mehr, ob den Milliarden des Bundes an die Kommunen eine Zweckbindung mitgegeben wird oder nicht. Unsere Ansprüche an ein inklusives Leben stehen nicht mehr im Befinden einzelner Gruppen, egal ob in der Politik, der Verwaltung oder in sonstigen Interessengruppen. Wir fordern:

  1. Das Ende der gesetzlichen Enteignungen als Begleiterscheinung unserer in Anspruch genommenen Rechte auf gesetzliche Nachteilsausgleiche.

  2. Das Einstellen der generellen Bestrebungen, unsere Bedarfe herunter zu verhandeln. Diese werden als Versuche, uns unsere Freiheit zu nehmen, abgelehnt.

gez.: Heinrich Buschmann Vorsitzender MMB e.V.
gez.: Gerhard Bartz, Vorsitzender ForseA e.V.

21.07.2015 Gesetzliche Ermessensspielräume fördern Machtmissbrauch - Ein wiederkehrendes Drama

Gesetzliche Ermessensspielräume fördern Machtmissbrauch

Ein wiederkehrendes Drama

Jede/r behinderte Budgetnehmerin oder Budgetnehmer kennt es: Nach spätestens zwei Jahren steht die Budgetverlängerung an. Die wenigsten Kostenträger lassen sich darauf ein, in der Zielvereinbarung nach der ForseA-Empfehlung festzulegen, dass sich diese so lange automatisch verlängert, bis sie gekündigt wird.

Denn dieser Befristungsablauf und die anstehende Verlängerung bietet den Kostenträgern eine Möglichkeit, wieder voll in das Leben der Budgetnehmer einzusteigen, alles infrage zu stellen und den Bedarf herunter zu verhandeln. Um diesem Ansinnen Nachdruck zu verleihen, greift man gerne auch zum Mittel der Budgeteinstellung, um ein "günstiges" Verhandlungsklima zu erzeugen. Dabei fallen auch schon mal Sätze wie beispielsweise "Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, gibt es gar nichts."

Dieses Verhalten ist durch Gesetzgebung und die Rechtsprechung nicht gedeckt. Das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt urteilte am 8.1.2013 (L 8 SO 17/12 B ER) "Die Beteiligten sind an die Zielvereinbarung gebunden. Denn diese stellt einen öffentlichrechtlichen Vertrag dar (vgl. zur Eingliederungsvereinbarung nach § 15 Abs. 1 SGB II: Sächsisches LSG, Urteil vom 19. Juni 2008 - L 3 AS 39/07 -, juris Rn 42, m.w.N.). Die Wirksamkeit eines ordnungsgemäß zustande gekommenen Vertrages kann regelmäßig nur durch eine Kündigung beseitigt werden. Dies ist so auch in der BudgetV vorgesehen. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 BudgetV können die Beteiligten die Zielvereinbarung aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung schriftlich kündigen, wenn ihnen die Fortsetzung nicht zumutbar ist. Für den Leistungsträger kann nach § 4 Abs. 2 Satz 1 BudgetV ein wichtiger Grund dann vorliegen, wenn die Antrag stellende Person die Vereinbarung, insbesondere hinsichtlich des Nachweises zur Bedarfsdeckung und der Qualitätssicherung nicht einhält. Ein wichtiger Grund kann für die Antrag stellende Person insbesondere in der persönlichen Lebenssituation liegen (§ 4 Abs. 2 Satz 2 BudgetV). Für die Ast. bedeutet dies, dass sie an die Zielvereinbarung vom 16. Januar 2012 gebunden ist, bis sie diese nach Maßgabe von § 4 Abs. 2 Satz 1 und 2 BudgetV wirksam gekündigt hat."

Damit wird klar, dass Zielvereinbarungen nach ihrem Ablauf nachwirken, entweder bis sie verlängert oder gekündigt werden.

Bayerische Bezirke beispielsweise behandeln das Thema unterschiedlich. Ein Bezirk stellte kürzlich unter Hinweis auf die noch nicht vereinbarte Verlängerung der Zielvereinbarung die Zahlung vollständig ein. Ein anderer Bezirk machte unter Hinweis auf das Urteil aus Sachsen-Anhalt darauf aufmerksam, dass ein höheres Budget erst vereinbart werden muss und bis dahin die alte Zielvereinbarung weiter gilt.

Auch hier wird offenbar, dass Sozialhilfeträger nach wie vor ihre Macht ausnutzen, um Menschen mit behinderungsbedingtem Mehrbedarf um ihre Rechte zu bringen. Dabei schreckt man auch vor Nötigungen und Falschinformationen nicht zurück. Solange das längst geforderte Leistungsgesetz nicht kommt, wird diese Praxis nicht aufhören. Wie kann der Gesetzgeber davon ausgehen, dass die Macht auf Seiten der Kostenträger auf der einen und die hilflose Notlage der Antragsteller auf der anderen Seite zu fairen Ziel-vereinbarungen führen kann? Ein behinderter Mensch bittet beispielsweise die Gesellschaft, ihn täglich 10 Stunden lang zu unterstützen. Dies führt reflexhaft zur Ablehnung, mindestens jedoch zum massiven Her-unterverhandeln. Während der behinderte Mensch mit seinem erhöhten Bedarf alleine dasteht, bieten die Kostenträger Legionen von Sachbearbeitern, Sachverständigen, Wissenschaftlern auf, die unter dem Deckmantel des wissenschaftlichen Verfahrens Methoden der Bedarfsermittlung entwickeln, die mir klar machen sollen, dass mein Bedarf an 10 Assistenzstunden täglich total überzogen ist.

Selbst wenn im Einzelfall der Bedarf mal zu hoch eingeschätzt wurde, wird der Mensch mit Behinderung diese in der Regel schnell selbst reduzieren. Denn es ist kein Vergnügen, fremde Menschen ständig um sich rum zu haben und diese auch noch beschäftigen zu müssen. Unabhängig davon würden sich überzogene Bedarfe selbst noch dadurch amortisieren, wenn man die oben erwähnten Legionen einer sinnvollen Ersatzverwendung zuführen würde.

Überhaupt: Die Zielvereinbarung. Was haben wir im Rahmen unserer Beratungsarbeit nicht alles für schöne Ziele gelesen. Bis hin zur Ermöglichung des Besuches bei der Tante Ilona. Das ist doch alles Unfug, auf den wir uns einlassen, um das benötigte Budget zu bekommen. Unfug, an dem Fachleute lange gefeilt haben. Unfug, weil wir nur ein einziges Ziel haben, zu leben inmitten der Gesellschaft mit der erforderlichen, gesetzlich zustehenden Unterstützung dieser Gesellschaft. Sowenig wie wir Einzelziele in Tabellen schreiben, können wir mit Einzelbedarfen in addierten Minutensummen auskommen. Menschen mit Behinderung brauchen über eine oder mehrere individuelle Zeiten des Tages eine verlässliche Anwesenheit der Assistenz. Nur damit ist ein selbstbestimmtes Leben möglich. Alles andere führt lediglich zu weiteren Benachteiligungen. Wenn ein Mensch 15 Stunden am Tag benötigt, wer bitte soll ihn mit welchen Argumenten davon abbringen. Das geht nur, wenn man ihm in der Differenzzeit die Freiheit nimmt.

In diesem Zusammenhang noch ein anderer Effekt: Bislang war es egal, ob wir unsere Assistenz aus der Eingliederungshilfe, Hilfe zur Pflege, Hilfe zur Teilhabe und was es alles Einschlägige noch gibt, beziehen. Schwierigkeiten gab es selten, wenn beispielsweise in Rheinland-Pfalz Budgets zurückgefordert wurden, weil ein behinderter Mensch aus Mitteln der Eingliederungshilfe die Toilette aufsuchte, praktisch aus dem falschen Topf auf den Topf gegangen ist. Auch die Zuordnungen der Kostenträger ließen kein System erkennen. Einige Budgetnehmer erhielten ihr Geld aus der Eingliederungshilfe, andere – durchaus vergleichbare "Fälle" – aus der Hilfe zur Pflege.

Nunmehr schaut es so aus, dass die Hilfe zur Pflege, im Gegensatz zur Eingliederungshilfe, in der Einkommens- und Vermögensanrechnung verbleiben soll. Auch daran ist zu erkennen, wie krank das jetzige System ist. Behinderte Menschen mit Assistenzbedarf brauchen Assistenz während einer von ihnen festgelegten, verlässlichen Zeit, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Alles andere ist pseudowissenschaftlicher Humbug. Und die Wegnahme von Einkommen und Vermögen ist entweder Diebstahl oder staatliche Strafe für die Inanspruchnahme unseres gesetzlichen Nachteilsausgleiches.

Wir sollten uns auch nicht auf die homöopathische Zuweisung der Errungenschaften aus der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen einlassen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns den Weg gewiesen. Am 10.10.2014 schrieb es ein einem Beschluss (Az.: 1 BvR 856/13) "Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen."

Fazit

Sorgen wir dafür, dass in Deutschland keine Sozialgerichtsverhandlung über die Bühne geht, in der dieser BVerfGE-Beschluss unsere Rechte nicht in den Vordergrund stellt. Dem thematischen Einsatzfeld dieser Entscheidung sind keine erkennbaren Grenzen gesetzt. Wir dürfen nie mehr zulassen, dass uns unsere Menschenrechte beeinträchtigt oder gar genommen werden. Traurig genug, dass uns das Verfassungsgericht zeigen musste, wo unsere Grundrechte (der Artikel 3 steht nicht umsonst weit vorne und Grundrechte binden alle Staatsgewalten!) verletzt werden.

Ich hoffe, dass der Gesetzgeber endlich im Sinne des Bundesverfassungsgerichtes und der Behindertenrechtskonvention handelt. Wie lange will er noch zusehen, wie sich Bürgerinnen und Bürger seines Staates gegen behördliche Aussonderungen gerichtlich zur Wehr setzen müssen. Das ist unfair und unmenschlich. Denn diese Menschen haben oft nicht das Geld, vermutlich nie jedoch die Zeit, denn diese befinden sich in einer Notlage. Und das, liebe Regierung, ist nicht nur ein Armutszeugnis für alle, die einen Eid auf unsere Verfassung geschworen haben. Sie werden schlicht ihrer Aufgabe nicht gerecht!

Hollenbach, 21. Juli 2015

Gerhard Bartz
ForseA-Vorsitzender

20.11.2015 Forderung nach einem fairen Teilhabegesetz

Forderung nach einem fairen Teilhabegesetz

Seit dem Jahre 2009 ist die Behindertenrechtskonvention (BRK) in Deutschland uneingeschränkt geltendes Recht. Von Ausnahmen abgesehen, wird dies erst vor Gerichten spürbar. Die Rechtsprechung hat die Gesetzgebung und vollziehende Gewalt längst überholt. Dort ist die BRK bereits präsent. Dies ist für behinderte Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend. Denn Menschen, die ihre Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen müssen, haben weder Zeit noch Geld, um ihre Ansprüche vor Gericht durchzusetzen. Es wird also Zeit, dass die Regierung ihrem Amtseid

„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde."

auch gegenüber Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderung gerecht wird. Zur Erinnerung: Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG lautet: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden". Wir werden auf den folgenden Seiten den Beweis antreten, dass viele unserer Gesetze weder dem Artikel 3 GG noch dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen auch nur annähernd gerecht werden. Damit verstoßen die Regierenden und Ausführenden auf allen Ebenen gegen ihre Verpflichtungen. Nur um Missverständnissen vorzubeugen: ForseA unterstützt die Kampagne für ein gutes Teilhabegesetz. Dieses Papier soll aus Sicht der Assistenznehmer noch spezifische Kenntnisse der Situation mit einbringen. Dort, wo die Kampagne Gleiches fordert, wollen wir lediglich ergänzen. Am Ende muss ein faires Teilhabegesetz stehen. Die Reihenfolge der nachfolgenden Forderungen ist unwichtig, denn diese Forderungen verkörpern die Erwartungen, die Menschen mit Assistenzbedarf an ein faires Teilhabegesetz stellen.

20. November 2015
Gerhard Bartz, Vorsitzender

Unsere Forderungen

Befreiung von Einkommens- und Vermögensanrechnung

Nach wie vor werden Menschen enteignet, die ihre gesetzlichen Rechte auf einen Ausgleich ihrer behinderungsbedingten Nachteile in Anspruch nehmen. Zusätzlich werden Lebenspartner in Mithaftung genommen. Selbst neunzigjährige Eltern müssen plötzlich für ihre sechzigjährigen Kinder Unterhalt an das Sozialamt zahlen. Selbst Sterbeversicherungen werden ein Opfer dieser Enteignung.

Hilfe zum Lebensunterhalt

Menschen mit Behinderung haben oft keine oder nur eine sehr eingeschränkte Er-werbsbiografie. Dadurch kommt oft gar keine, meist aber eine unzureichende Rente zustande. Die daraus resultierende Grundsicherung auf dem Hartz-IV-Niveau ist unzureichend und ungerecht. Denn der dort zugrunde liegende Satz "Fördern und Fordern" kann bei diesem Personenkreis keine Wirkung entfalten. Das Druckmittel der finanziellen Unterversorgung führt hier nicht zu einem Drang zum Arbeitsmarkt, sondern lediglich zu einer dauerhaften Existenz auf dem wirtschaftlich niedrigsten Niveau. Um der BRK und dem Artikel 3 GG gerecht zu werden, muss für diesen Personenkreis eine aufstockende Zahlung erfolgen, der wirtschaftlich dem Durchschnitt der Bevölkerung angepasst ist.

Selbstbestimmte Festlegung des Hilfebedarfes

Menschen mit Behinderung wissen besser als jeder andere Mensch über ihren Hilfebedarf Bescheid. Die Rituale der Kostenträger, die geltend gemachten Bedarfe mit teils absurden Argumenten ganz oder teilweise zu streichen, müssen ein Ende haben. Diese Eingriffe in unser Leben werden als pure staatliche Gewalt wahrgenommen, denn der behinderte Mensch hat dem, außer dem Rechtsweg, nichts entgegenzusetzen. Für diesen fehlt jedoch Geld und Zeit.

Aufhebung aller Verzögerungen zum Nachteil der Antragsteller

Anträge müssen zunächst so behandelt werden, als ob ihnen bereits stattgegeben wurde. Erst nach Rechtskraft einer Entscheidung wird diese umgesetzt. Wir sind uns sicher, dass dadurch ein Ende aller bisherigen Verzögerungen erreicht wird. Denn bisher sparen sich Kostenträger mit jedem Monat Verlängerung, die sie mit immer neuen Gutachten, Nachweisen und Forderungen erzwingen, diese Ausgaben.

Herauslösung aus der Sozialhilfe

Solange Menschen mit Behinderung ihre gesetzlich verbrieften Nachteilsausgleiche bei den Kostenträgern der Sozialhilfe geltend machen müssen, wird ihnen ständig das Gefühl vermittelt, Schmarotzer zu sein. Viele mussten schon lesen, dass ihre Ansprüche der Gesellschaft nicht zuzumuten seien. Dieser Menschenverachtung wollen wir uns nicht weiter aussetzen. Denn sie hat mit der rechtlichen Situation nicht das Ge-ringste zu tun. Wurde sie - vermutlich zu Abschreckungszwecken - den Menschen in den Behörden gar antrainiert?

Veraltete Gesetze müssen vor ihrer Anwendung neu interpretiert werden

Auf den nachfolgenden Seiten zeigen wir auf, dass bereits heute viele Gesetze durch neuere Regelungen interpretiert werden müssen. Der juristische Grundsatz

Lex posterior derogat legi priori
(Das jüngere Gesetz hebt das ältere Gesetz auf)

ist in der Rechtswissenschaft ein allgemeiner Grundsatz, der besagt, dass ein späteres Gesetz einem früheren Gesetz derselben Rangordnung vorgeht. Er gilt i. d. R. sowohl für nationales Recht als auch für das Völkerrecht. (Wikipedia)

Es ist uns sehr wohl bewusst, dass wir nicht alle veralteten Gesetze aufzeigen und kommentieren können. So haben wir beispielsweise bewusst das Thema "Anstalten" ausgeklammert. Da nach Artikel 19 der BRK niemand mehr in einer solchen Anstalt leben muss, wird der Gesetzgeber dafür Sorge tragen müssen, dass die wirtschaftliche Schlechterstellung in diesen Einrichtungen beseitigt wird. Beispielsweise dadurch, dass die einzelnen Leistungen korrekt getrennt abgerechnet werden.
Zunächst geben wir einen Überblick über

  • die Regelungen einzelner Grundrechte in unserer Verfassung
  • das Allgemeine Gleichstellungsgesetz
  • einzelne Artikel des Ãœbereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen

jeweils mit Anmerkungen.

Danach zeigen wir einzelne Paragrafen des 12. Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) auf, die in der jetzigen Form nicht mehr anwendbar sind. Die Begründung haben wir jeweils angefügt.

Alle diese jahrelang bestehenden Defizite müssen endlich behoben werden. Die Einführung eines Teilhabegesetzes erscheint uns als der passende Zeitpunkt.

Mit den nachfolgenden Seiten bieten wir ein Hilfsmittel an, mit dem der noch in diesem Jahr vorzulegende erste Entwurf eines Teilhabegesetzes auf Übereinstimmung mit unserer Verfassung, mit dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz und mit der Behindertenrechtskonvention geprüft werden kann.

Gesetzliche Rahmenbedingungen

Bei den Zitaten aus dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen handelt es sich um die Schattenübersetzung des Netzwerks Artikel 3 e.V., die um die Fehler der offiziellen deutschsprachigen Übersetzung bereinigt ist.

Sehr viele gesetzliche Regelungen wären bereits ausreichend, wenn nicht von Kostenträgerseite Ermessensentscheidungen in der Regel zum Nachteil der Menschen mit Behinderung getroffen würden. Nachfolgend einige Gesetze und Artikel mit unseren Anmerkungen.

Grundgesetz

Nur zur Vorbeugung: Die nachfolgenden Fragen haben mit der Wertung von Flüchtlingen und ihren Rechten nicht das Geringste zu tun. Warum werden in Deutschland der Artikel 16a (Asylrecht) des Grundgesetzes als nicht zu brechendes Dogma behandelt, andere Grundrechte dagegen geradezu missachtet? Wer weist an, welche Grundrechte wichtig, welche unwichtig sind?

Artikel 1 GG Absatz 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Die Würde behinderter Menschen mit Assistenzbedarf wird auch dadurch genommen, dass man diesen Menschen Teile ihres Einkommens und ihres Vermögens nimmt.

Artikel 1 GG Absatz 3: Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Wenn die Grundrechte der Artikel 1 bis 19 unmittelbar geltendes Recht darstellen und Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes an geltendes Recht gebunden sind, warum werden die nach Rechtsverletzungen belobigt und nicht gerügt?

Artikel 3 GG Absatz 3: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Dieser Satz 2 wurde geradezu in leichter Sprache verfasst. Dennoch diskriminieren Behörden auch in den letzten 20 Jahren und mit immer ausgefeilteren Methoden Menschen mit behinderungsbedingtem Assistenzbedarf. Zum Art. 3 GG beschloss das Bundesverfassungsgericht am 10.10.2014 Az.: 1 BvR 856/133 in zwei Sätzen: "Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen."

Artikel 6 GG Absatz 1: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.Ehepartner und Familienangehörige werden für die finanziellen Folgen des Assistenzbedarfes in Mithaftung genommen. Insbesondere die Inanspruchnahme der Eltern im Umweg über einen abzutretenden Unterhalt trägt nach wie vor sehr viel Unfrieden in die Familien. Mit welcher Berechtigung maßt sich die Gesellschaft an, Eltern für die Tatsache eines behinderten Kindes zu bestrafen?

Artikel 11 GG Absatz 1: Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. Absatz 2: Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden (…).

Dieses Grundrecht wird für behinderte Menschen mit Assistenzbedarf weitgehend ausgehebelt. Einerseits will keine Kommune solche Menschen in ihren Reihen haben, da diese den Etat der Kommune direkt belasten. Andrerseits und eben aus diesem Grund vermeiden die Kommunen, ausreichend barrierefreien Wohnraum in ausreichender Größe und Zuschnitt zu fördern. Das unbedingt erforderliche zusätzliche Zimmer für die Assistenz wird in aller Regel nicht mit geplant.

Artikel 12 GG Absatz 2: Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rah-men einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.

Oftmals verweigern Kostenträger Leistungen oder reduzieren diese willkürlich unter dem Vorwand, dass Menschen im Haushalt der Antragsteller durchaus auch noch die erforderlichen Hilfen leisten können. Diese gehen jedoch sehr oft über die allgemeine Beistandspflicht im Haushalt hinaus.

Artikel 13 GG Absatz 1 Die Wohnung ist unverletzlich.

Sachbearbeiter der Kostenträger haben einen regelrechten Drang, den Antragsteller in seiner Häuslichkeit aufzusuchen, nicht selten in größerer Anzahl. Bei einem für das Sozialamt zu erstellenden Wertgutachten für ein Einfamilienhaus stellte es sich heraus, dass sich auch das Finanzamt an der Begutachtung beteiligt hat und interessiert Haus und Einrichtung in Augenschein genommen hat.

Artikel 14 GG Absatz 1: Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.

Diese Gesetze bestimmen gerade, dass Menschen nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Gleichwohl werden Menschen mit Behinderung ihres Einkommens und Vermögens enteignet und dürfen nur erben, wenn sie die Erbschaft gleich an das Sozialamt weiterreichen.

Artikel 19 GG9 Absatz 2: In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

Genau das Gegenteil ist der Fall, die vorstehend zitierten Grundrechte werden gegenüber Menschen mit Behinderung ständig und mit System verletzt. Und oft wird sich dabei auf veraltete Gesetze berufen, die aufgrund neuerer Regelungen neu interpretiert werden müssen.

Allgemeines Gleichstellungsgesetz

§ 1 AGG Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.

Nur der Vollständigkeit halber sei hier auch noch das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz erwähnt.

Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen

Schattenübersetzung des NETZWERK ARTIKEL 3 e.V.

Artikel 4 BRK Absatz 1 Buchstabe d: Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten, Handlungen oder Praktiken, die mit diesem Übereinkommen unvereinbar sind, zu unterlassen und dafür zu sorgen, dass die staatlichen Behörden Träger der öffentlichen Gewalt und öffentlichen Einrichtungen im Einklang mit diesem Übereinkommen handeln;

In der Wirklichkeit schreiben Sozialhilfeträger heute noch Sätze wie "Was gehen uns irgendwelche Konventionen an. Für uns gelten die deutschen Sozialgesetze."

Artikel 5 BRK 1) Die Vertragsstaaten anerkennen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, vom Gesetz gleich zu behandeln sind und ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz und gleiche Vorteile durch das Gesetz haben. (2) Die Vertragsstaaten verbieten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen. (3) Zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung unternehmen die Vertragsstaaten alle geeigneten Schritte, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten.

Dieser Artikel ergänzt den Artikel 3 unseres Grundgesetzes. Er ist ebenso selbstvollziehend und muss von allen Trägern unmittelbar umgesetzt werden. Auch das hat unsere Regierung akzeptiert und hält sich bislang nicht an dieses Versprechen.

Artikel 12 BRK Absatz 5 Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Artikels treffen die Vertragsstaaten alle geeigneten und wirksamen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen das gleiche Recht wie andere haben, Eigentum zu besitzen oder zu erben, ihre finanziellen Angelegen-heiten selbst zu regeln und gleichen Zugang zu Bankdarlehen, Hypotheken und anderen Finanzkrediten zu haben, und gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen nicht willkürlich ihr Eigentum entzogen wird.

Den willkürlichen Eigentumsentzug machen wir daran fest, dass das Sozialamt damit gegen Artikel 3 und gegen Artikel 6 Absatz 1 unserer Verfassung verstößt, gleichzeitig gegen den § 1 AGG

Erstattungen des Staates werden nie Eigentum des Menschen mit Behinderung. Einzige Ausnahme: der verbleibende Anteil des pauschalen Pflegegeldes, aber auch dieser Betrag wird in der Regel für Aufwände eingesetzt, die im Einzelnen nicht erfasst werden können. Bei allen anderen öffentlichen Mitteln funktionieren behinderte Menschen nur als Verteiler. Bezogen auf Assistenzkosten werden diese Mittel an Krankenkassen, Finanzämter, Berufsgenossenschaften, Minijobzentrale, Steuerberater und zu knapp über 50 Prozent an die Assistent*innen weitergegeben. Behinderte Menschen erhalten davon also keinen Cent. Dennoch werden sie, obwohl sie nur gesetzlich zustehende Leistungen in Anspruch nehmen, vom Staat ihrer Einkommen und Vermögen willkürlich enteignet.

Artikel 19 BRK Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern ermöglichen, indem sie unter anderem gewährleisten, dass a) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben; b) Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist;

Hier verpflichtet sich der deutsche Staat, für eine Absicherung der Persönlichen Assistenz zu sorgen. Tatsächlich unternimmt der deutsche Staat vieles, um Antragsteller abzuschrecken und Nutzer der Persönlichen Assistenz das Leben zusätzlich zu erschweren. Dabei steht der Artikel 19 auf der Liste der selbst vollziehenden Artikel ganz oben. Sowohl die ausführende als auch die juristische Staatsgewalt müssen diesen Artikel auch ohne Anpassung irgendwelcher Gesetze sofort anwenden.

Artikel 23 BRK Absatz 1 a) Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen zur Be-seitigung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen in allen Fragen, die Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaften betreffen, um zu gewährleisten, dass a) das Recht aller Menschen mit Behinderungen im heiratsfähigen Alter, auf der Grundlage des freien und vollen Einverständnisses der künftigen Ehegatten eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen, anerkannt wird;

Aufgrund der finanziellen Mithaftung und Einbeziehung der Lebenspartner in die Assistenz gehen Ehen auseinander, neue Beziehungen scheitern daran in der Regel. Hier verletzt der deutsche Staat gleich noch ein elementares Grundrecht:

Artikel 28 BRK Abs. 1 Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf einen angemessenen Lebensstandard für sich selbst und ihre Familien, einschließlich angemessener Ernährung, Bekleidung und Wohnung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen und unternehmen geeignete Schritte zum Schutz und zur Förderung der Verwirklichung dieses Rechts ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Absatz 2 d) Menschen mit Behinderungen den Zugang zu Programmen des sozialen Wohnungsbaus öffentlich geförderten Wohnungsbauprogrammen zu sichern; Absatz 2 e) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigten Zugang zu Leistungen und Programmen der Altersversorgung zu sichern.

Ein angemessener Lebensstandard ist der, den ich aufgrund meiner Ausbildung und meines Erwerbslebens habe oder hätte, wäre die Behinderung nicht eingetreten. Der Lebensstandard behinderter Menschen in Deutschland, die keine oder keine ausreichende Erwerbsbiografie besitzen, bemisst sich an Hartz IV. Durch dessen niederes Niveau soll Druck auf die Bezieherinnen und Bezieher ausgeübt werden, diesen Zustand zu beenden (fördern und fordern). Dieser Ansatz stimmt bei vielen Menschen mit Behinderung einfach nicht. Der Druck kann noch so groß sein, der Weg auf den Arbeitsmarkt ist sehr oft versperrt. Auch in sogenannten Werkstätten für behinderte Menschen ist ein angemessener Lebensstandard nur für die Betreiber und deren Bedienstete zu erreichen.

SGB XII Sozialhilfe

Die Nachkriegs-Sozialhilfe wurde ganze zwei Mal reformiert:

  • Seit 1924 und bis 1961 galten die Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge und die Verordnung über die Fürsorgepflicht
  • Danach galt bis 2004 das Bundessozialhilfegesetz (BSHG)
  • Seit 2005 gilt das 12. Buch Sozialgesetzbuch

Es bedarf keiner großen Phantasie zu der Feststellung, dass bei diesen zwei Schritten viel des alten Denkens erhalten geblieben ist. An die erste Reform werden sich die Wenigsten heute noch erinnern können. Umso besser an die zweite. Während behinderte Menschen im Jahre 2003 bundesweit ein ganzes Jahr das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen in zahllosen Veranstaltungen begingen, wurde hinter den Kulissen in Berlin fern der Augen der Öffentlichkeit unter rot/grüner Ägide die Umsetzung des BSHG in das SGB XII vorbereitet. Groß war das Erschrecken der betroffenen Menschen, als sie dann mit dem Ergebnis konfrontiert wurden. Einkommens- und Vermögensfreibeträge wurden reduziert, Zusatzbarbeträge abgeschafft, Neunzigjährige Eltern mussten plötzlich für Siebzigjährige behinderte Kinder Unterhalt bezahlen und dies auch gleich an die Sozialämter.

Es wurden in zahlreichen Bestimmungen Ermessensspielräume für die Kostenträger eingebaut. Dass diese Spielräume von Seiten der Kostenträger dazu missbraucht wurden, dieses Ermessen in aller Regel gegen die Interessen behinderter Menschen auszuüben, hat der Gesetzgeber gewusst. Er kann sich nicht im Bewusstsein zurücklehnen, liberale Gesetze gemacht zu haben.

Erschwerend kommt hinzu, dass das 12. Buch bewusst als Irrgarten konzipiert wurde. Und immer dann, wenn es konkret wird, treten Verordnungen hinzu. Zusätzlich gestalten die Bundesländer mit eigenständigen Richtlinien das Bundesgesetz ebenfalls mit. Rechtsprechungen gegen die Antragsteller werden sofort berücksichtigt, andere fehlen auch noch nach Jahren in den Richtliniensammlungen.

Zusammenfassend kann man konstatieren, dass das SGB XII nicht geschaffen wurde, um behinderten Menschen das Leben zu erleichtern. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es vielmehr dazu dienen soll, Ansprüche behinderter Antragsteller abzuwehren, diese Menschen abzuschrecken und sie daran zu hindern, ihre verfassungsrechtlichen Grundrechte in Anspruch zu nehmen. Unser Staat lässt sich diese Abschreckung auch noch ca. 500 Millionen Euro im Jahr kosten.

überflüssige Verwaltungskosten seit 01.12.2011 (Stand jetzt): 2.710.232.753 EUR

 

§ 6 Fachkräfte(1) Bei der Durchführung der Aufgaben dieses Buches werden Personen beschäftigt, die sich hierfür nach ihrer Persönlichkeit eignen und in der Regel entweder eine ihren Aufgaben entsprechende Ausbildung erhalten haben oder über vergleichbare Erfahrungen verfügen. (2) Die Träger der Sozialhilfe gewährleisten für die Erfüllung ihrer Aufgaben eine angemessene fachliche Fortbildung ihrer Fachkräfte. Diese umfasst auch die Durchführung von Dienstleistungen, insbesondere von Beratung und Unterstützung.

Wir haben bislang in unserer Beratungsarbeit kaum fehlerfreie Bescheide gesehen. Die Bandbreite reicht von schlichten Rechenfehlern bis hin zu falschen Gesetzesinterpretationen. Die Tatsache, dass die weit überwiegende Zahl der Fehler zu Lasten der Antragsteller ging, gibt der Vermutung systematischer Irrtümer breiten Raum.

§ 9 Sozialhilfe nach der Besonderheit des Einzelfalles(2) Wünschen der Leistungsberechtigten, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten, soll entsprochen werden, soweit sie angemessen sind. Wünschen der Leistungsberechtigten, den Bedarf stationär oder teilstationär zu decken, soll nur entsprochen werden, wenn dies nach der Besonderheit des Einzelfalles erforderlich ist, weil anders der Bedarf nicht oder nicht ausreichend gedeckt werden kann und wenn mit der Einrichtung Vereinbarungen nach den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches bestehen. Der Träger der Sozialhilfe soll in der Regel Wünschen nicht entsprechen, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre.

Betreiber von Arbeitgebermodellen werden unter Druck gesetzt, da Kostenträger der Sozialhilfe Adressen von Billiganbietern ins Spiel bringen. Diese Billiganbieter sind mitunter, wie der Blick ins Handelsregister zeigt, Ableger bestehender Wohlfahrtskonzerne, die unter anderem Namen Menschen aus Osteuropa herankarren. Dass die Qualität der Assistenz damit nicht stimmen kann – diese Menschen haben oft nur fragmentarische Kenntnisse der deutschen Sprache – kümmert die Kostenträger nicht. Auch nicht, dass die behinderten Menschen nach den Geschäftsbedingungen der Billiganbieter Kost und Logis zu stellen haben. Für die Sozialhilfeträger ist der Kostenunterschied zum Arbeitgebermodell das alles entscheidende Merkmal. Manche Wohlfahrtskonzerne machen sich damit zum Erfüllungsgehilfen der Sozialhilfeträger.

§ 10 Leistungsformen(3) Geldleistungen haben Vorrang vor Gutscheinen oder Sachleistungen, soweit dieses Buch nicht etwas anderes bestimmt oder mit Gutscheinen oder Sachleistungen das Ziel der Sozialhilfe erheblich besser oder wirtschaftlicher erreicht werden kann oder die Leistungsberechtigten es wünschen.

Wenn der Leistungsberechtigte Sachleistungen wünscht, dürfen diese auch teurer sein, umgekehrt gilt das nicht.

§ 13 Leistungen für Einrichtungen, Vorrang anderer Leistungen(1) Die Leistungen können entsprechend den Erfordernissen des Einzelfalles für die Deckung des Bedarfs außerhalb von Einrichtungen (ambulante Leistungen), für teilstationäre oder stationäre Einrichtungen (teilstationäre oder stationäre Leistungen) erbracht werden. Vorrang haben ambulante Leistungen vor teilstationären und stationären Leistungen sowie teilstationäre vor stationären Leistungen. Der Vorrang der ambulanten Leistung gilt nicht, wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Bei der Entscheidung ist zunächst die Zumutbarkeit zu prüfen. Dabei sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen. Bei Unzumutbarkeit ist ein Kostenvergleich nicht vorzunehmen.

Obgleich es unwürdig ist, dass einem Menschen mit Behinderung vorgeschrieben wurde, was ihm zuzumuten ist, geschah genau dies in der Vergangenheit sehr oft. Denn die Zumutbarkeit einer Behindertenanstalt war die Grundvoraussetzung für den Kostenvergleich zwischen ambulant und stationär. Durch die Aufgabe vieler Freiheiten der Insassen in Anstalten konnten Arbeitgebermodelle diesen erzwungenen Preisvergleich nicht gewinnen. Durch den selbstvollziehenden Artikel 19 der Behindertenrechtskonvention ist die Frage der Zumutbarkeit nunmehr bedeutungslos. Denn dort steht: "dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die Möglichkeit haben, ihren Auf-enthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben."

§ 18 Einsetzen der Sozialhilfe(1) Die Sozialhilfe, mit Ausnahme der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, setzt ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen.

Die Realität sieht anders aus. Selbst bei Kenntnis von Notlagen kann es viele Monate dauern, bis sich ein Kostenträger zu einer Entscheidung durchringt. Diese zeichnet sich durch Verweigerung in Gänze oder Teilen der beantragten Hilfe aus. Durch das Widerspruchsverfahren gehen dann nochmals mindestens drei Monate ins Land. Die Fristenregelung des § 14 SGB IX findet kaum Beachtung. Dem Gesetzgeber ist dies bekannt, denn sonst hätte er die Sozialhilfe kaum bei den Regelungen zur Erstattung selbstbeschaffter Leistungen im § 15 SGB IX ausgenommen.

§ 58 Gesamtplan (1) Der Träger der Sozialhilfe stellt so frühzeitig wie möglich einen Gesamtplan zur Durchführung der einzelnen Leistungen auf. (2) Bei der Aufstellung des Gesamtplans und der Durchführung der Leistungen wirkt der Träger der Sozialhilfe mit dem behinderten Menschen und den sonst im Einzelfall Beteiligten, insbesondere mit dem behandelnden Arzt, dem Gesundheitsamt, dem Landesarzt, dem Jugendamt und den Dienststellen der Bundesagentur für Arbeit, zusammen.

Hier wird dem Antragstellenden Menschen eine Phalanx Sachverständiger (vier bis sechs Personen sind keine Seltenheit) gegenübergestellt, die alle eigene Vorstellungen davon haben, wie der Antrag stellende Mensch zu leben hat. Der Antragstellende Mensch geht sehr oft in dieser Konfrontation unter, wird seiner Rechte, seiner Freiheit und seiner Würde beraubt. So wurde von einer ausgebildeten Sozialpädagogin vor mehreren Zeugen zur Vermeidung von Assistenzkosten der Vorschlag gemacht, dass eine Antragstellerin den Vormittag auf dem Toilettenstuhl sitzend am Küchentisch zubringen solle. Dieses Beispiel und viele andere sammelt ForseA in den Geschichten aus Absurdistan.

§ 62 Bindung an die Entscheidung der PflegekasseDie Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch ist auch der Entscheidung im Rahmen der Hilfe zur Pflege zu Grunde zu legen, soweit sie auf Tatsachen beruht, die bei beiden Entscheidungen zu berücksichtigen sind.

Diesen Paragraf missbrauchen Kostenträger der Sozialhilfe sehr oft dazu, die Leistung der Sozialhilfe auf die im MDK-Gutachten addierten Minutensummen begrenzen. Hierbei wird gerne übersehen, dass es sich um Tabellenzeiten handelt, der Sozialhilfeträger dagegen die realen Zeiten zu berücksichtigen hat. Zusätzlich muss er auch Zeiten zwischen den Verrichtungen mit berücksichtigen, denn beim Einsatz von Assistenzpersonen kommt es auch auf verlässliche Anwesenheitszeiten an. Schließlich ist ein Toilettengang nicht planbar und die Nase läuft nicht 10 Minuten am Stück und dann für den Rest des Tages nicht mehr. Zudem gibt es im Gegensatz zum SGB XI im SGB XII keinen Leistungskatalog. An diesem Beispiel wird deutlich, dass von Kostenträgerseite jede Gelegenheit zu Fehlinterpretationen hingebungsvoll genutzt wird

§ 63 Häusliche Pflege 1. Reicht im Fall des § 61 Abs. 1 häusliche Pflege aus, soll der Träger der Sozialhilfe darauf hinwirken, dass die Pflege einschließlich der hauswirtschaftlichen Versorgung durch Personen, die dem Pflegebedürftigen nahe stehen, oder als Nachbarschaftshilfe übernommen wird. 2. Das Nähere regeln die §§ 64, 65 und 66. In einer stationären oder teilstationären Einrichtung erhalten Pflegebedürftige keine Leistungen zur häuslichen Pflege. Satz 3 gilt nicht für vorübergehende Aufenthalte in einem Krankenhaus nach § 108 des Fünften Buches oder einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung nach § 107 Absatz 2 des Fünften Buches, soweit Pflegebedürftige nach § 66 Absatz 4 Satz 2 ihre Pflege durch von ihnen beschäftigte besondere Pflegekräfte sicherstellen. Die vorrangigen Leistungen des Pflegegeldes für selbst beschaffte Pflegehilfen nach den §§ 37 und 38 des Elften Buches sind anzurechnen. § 39 des Fünften Buches bleibt unberührt.

Im Satz 4 regelt das Gesetz die Assistenz für behinderte Arbeitgeber in Krankenhaus und Kur. Allerdings nur für behinderte Arbeitgeber*innen und nur für die Kostenträgerschaft der Sozialhilfe. Alle davon abweichenden Gegebenheiten müssen Gerichte regeln. So gibt es bereits mehrere Urteile, die bestätigen, dass auch Kunden ambulanter Dienste die Leistung dieser ambulanten Dienste ins Krankenhaus mitnehmen können. Denn die Gerichte stellen fest, dass die Pflege des Krankenhauses nicht identisch ist mit der Assistenzleistung, die ein Mensch mit Behinderung auch im Krankenhaus benötigt. Auch ein Versicherter, der seine Assistenz nach § 37 SGB V erhält, bekam von Gericht bestätigt, dass er schon aus Gründen der Gleichbehandlung nicht schlechter gestellt werden kann. Dem Gericht bestätigte der Leiter des BMG-Referats Grundsatzfragen der Krankenhausversorgung / Krankenhausfinanzierung telefonisch, dass die Nichtregelung in Fällen der Kostenträgerschaft einer Krankenkasse ein Versehen wäre, die Intention des Gesetzesentwurfs wäre eine vollumfängliche Absicherung des Arbeitgebermodells gewesen. Pikant ist, dass die bundesweite Ersatzkasse die Entscheidung in Schleswig-Holstein akzeptiert, die Anwendung des Urteiles aber bei einer Versicherten in Nordrhein-Westfalen ablehnt. Hier bedarf es einer umfassenden Regelung. Denn die Aufnahme in eine Klinik bedeutet für Menschen mit Behinderung Stress pur. In dieser Situation auch noch für seinen Assistenzbedarf kämpfen zu müssen, ist schlichtweg unmenschlich. Für die Kur gilt: Ohne die Assistenzmitnahme und deren Kostenübernahme werden behinderte Menschen meist abgelehnt. Dann ist eben kein Platz frei. Eine Verweigerung der Kostenträger würde gegen Artikel 3 GG, Artikel 25 BRK und § 1 AGG verstoßen.

§ 65 Andere Leistungen (1) Pflegebedürftigen im Sinne des § 61 Abs. 1 sind die angemessenen Aufwendungen der Pflegeperson zu erstatten; auch können angemessene Beihilfen geleistet sowie Beiträge der Pflegeperson für eine angemessene Alterssicherung übernommen werden, wenn diese nicht anderweitig sichergestellt ist. Ist neben oder anstelle der Pflege nach § 63 Satz 1 die Heranziehung einer besonderen Pflegekraft erforderlich oder eine Beratung oder zeitweilige Entlastung der Pflegeperson geboten, sind die angemessenen Kosten zu übernehmen. (2) Pflegebedürftigen, die Pflegegeld nach § 64 erhalten, sind zusätzlich die Aufwendungen für die Beiträge einer Pflegeperson oder einer besonderen Pflegekraft für eine angemessene Alterssicherung zu erstatten, wenn diese nicht anderweitig sichergestellt ist.

Diese Festlegung, dass nur dann, wenn unentgeltliche Pflege nicht oder nicht ausreichend sichergestellt ist, bezahlte Pflege übernommen wird, bringt mitunter große Not in die Familien und kostet den Steuerzahler zusätzliches Geld. Pflegende Familienangehörigen werden mit Hartz IV abgespeist. Dies ist sehr ungerecht, denn das stürzt pflegende Angehörige in Armut. Denn die Geldleistung der Pflegekasse reicht zusammen mit dem Hartz IV-Einkommen nicht zum Lebensunterhalt, zumal diese Geldleistung auch noch für Zeiten ausgegeben werden muss, in denen der pflegende Angehörige nicht zur Verfügung steht. Würde der Gesetzgeber pflegende Familienangehörige besser finanziell ausstatten, würde der Staat Geld sparen. Denn Angehörige achten nicht auf Arbeitszeit und würden für einen Lohn oftmals die ganztägige Assistenz übernehmen. Dann könnte das Pflegegeld für Zeiten ausgegeben werden, in denen der pflegende Angehörige eine Auszeit nimmt.

§ 66 Leistungskonkurrenz (1) Leistungen nach § 64 und § 65 Abs. 2 werden nicht erbracht, soweit Pflegebedürftige gleichartige Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erhalten. Auf das Pflegegeld sind Leistungen nach § 72 oder gleichartige Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften mit 70 vom Hundert, Pflegegelder nach dem Elften Buch jedoch in dem Umfang, in dem sie geleistet werden, anzurechnen. (2) Die Leistungen nach § 65 werden neben den Leistungen nach § 64 erbracht. Werden Leistungen nach § 65 Abs. 1 oder gleichartige Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erbracht, kann das Pflegegeld um bis zu zwei Drittel gekürzt werden.(3) Bei teilstationärer Betreuung von Pflegebedürftigen oder einer vergleichbaren nicht nach diesem Buch durchgeführten Maßnahme kann das Pflegegeld nach § 64 angemessen gekürzt werden. (4) Leistungen nach § 65 Abs. 1 werden insoweit nicht erbracht, als Pflegebedürftige in der Lage sind, zweckentsprechende Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften in Anspruch zu nehmen.Stellen die Pflegebedürftigen ihre Pflege durch von ihnen beschäftigte besondere Pflegekräfte sicher, können sie nicht auf die Inanspruchnahme von Sachleistungen nach dem Elften Buch verwiesen werden. In diesen Fällen ist ein nach dem Elften Buch geleistetes Pflegegeld vorrangig auf die Leistung nach § 65 Abs. 1 anzurechnen.

Abs. 2, Satz 2: Das doppelte Ermessen, das dem Sozialhilfeträger Spielräume eröffnen sollte, wird in der Regel nicht ausgeübt. Es wird weder begründet, warum eine Anrechnung erfolgt, noch kommt in den seltensten Fällen ein pauschales Pflegegeld von mehr als 1/3 zur Auszahlung. Das Drittel bekommt der behinderte Mensch selbst dann, wenn er eine Rund-um-die-Uhr-Assistenz benötigt. Wird diese Leistung jedoch mit weniger Stunden täglich in Anspruch genommen, steigt der ehrenamtliche Anteil entsprechend. Somit müsste auch der verbleibende Teil des Pflegegeldes steigen. Dies wird jedoch in der Regel von den Kostenträgern abgelehnt. Die Vorstellungen des Gesetzgebers werden ignoriert.

Abs. 4, Satz 2: Dieser Satz ist in Sozialhilfekreisen nicht sehr bekannt. Immer wieder versuchen Kostenträger, Arbeitgebermodelle zu verhindern und die Antragsteller auf die Inanspruchnahme von ambulanten Diensten zu verweisen.

§ 87 Einsatz des Einkommens über der Einkommensgrenze(1) Soweit das zu berücksichtigende Einkommen die Einkommensgrenze übersteigt, ist die Aufbringung der Mittel in angemessenem Umfang zuzumuten. Bei der Prüfung, welcher Umfang angemessen ist, sind insbesondere die Art des Bedarfs, die Art oder Schwere der Behinderung oder der Pflegebedürftigkeit, die Dauer und Höhe der erforderlichen Aufwendungen sowie besondere Belastungen der nachfragenden Person und ihrer unterhaltsberechtigten Angehörigen zu berücksichtigen. Bei schwerstpflegebedürftigen Menschen nach § 64 Abs. 3 und blinden Menschen nach § 72 ist ein Einsatz des Einkommens über der Einkommensgrenze in Höhe von mindestens 60 vom Hundert nicht zuzumuten.

Behinderte Menschen mit Assistenzbedarf, die nicht der Pflegestufe III zugeordnet oder blind sind, wurden gänzlich der Willkür der Kostenträger ausgeliefert. Für sie galt der Satz "mindestens 60 vom Hundert" nicht, oftmals mussten diese den Rest komplett für die Assistenz einsetzen. Auch "mindestens" wurde ignoriert und ein höherer Verbleib musste in aller Regel gerichtlich erkämpft werden. Aber das muss der Vergangenheit angehören. Die Anrechnung bzw. willkürliche Wegnahme von Einkommen verstößt eindeutig gegen Artikel 3 GG , Artikel 5, 12 und 28 BRK und § 1 AGG

§ 90 Einzusetzendes Vermögen(1) Einzusetzen ist das gesamte verwertbare Vermögen. (2) Die Sozialhilfe darf nicht abhängig gemacht werden vom Einsatz oder von der Verwertung (…)

Ebenso wie bei der Enteignung durch Wegnahme von Einkommen muss auch die willkürliche Wegnahme von Vermögen der Vergangenheit angehören, denn auch sie verstößt eindeutig gegen Artikel 3 GG , Artikel 5, 12 und 28 BRK und § 1 AGG

§ 91 Darlehen Soweit nach § 90 für den Bedarf der nachfragenden Person Vermögen einzusetzen ist, jedoch der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung des Vermögens nicht möglich ist oder für die, die es einzusetzen hat, eine Härte bedeuten würde, soll die Sozialhilfe als Darlehen geleistet werden. Die Leistungserbringung kann davon abhängig gemacht werden, dass der Anspruch auf Rückzahlung dinglich oder in anderer Weise gesichert wird.

Mit der Aufhebung der Enteignung bei Geltendmachung von Nachteilsausgleichen entfällt auch der Nachteilsausgleich auf Darlehensbasis.

§ 94 Übergang von Ansprüchen gegen einen nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen

Mit der Abschaffung der Einkommens- und Vermögensanrechnung muss auch die "Unterhaltszahlung", die Strafsteuer, die Eltern behinderter Kinder an das Sozialamt zu zahlen haben, wegfallen. Diese Regelung, nach der 90-jährige Eltern monatlich ca. 30 Euro an 70-jährige, behinderte "Kinder" zahlen müssen, wobei die Zahlung sofort an das Sozialamt umgeleitet wird, gehört zu den Unsäglichkeiten des aktuellen Sozialrechtes. Sie bringt sehr viel Missstimmung in die Familien. Nach Abzug aller Bearbeitungskosten bleibt sicherlich ein dickes Minus in den Haushalten übrig.

§ 102 Kostenersatz durch Erben(1) Der Erbe der leistungsberechtigten Person oder ihres Ehegatten oder ihres Lebenspartners, falls diese vor der leistungsberechtigten Person sterben, ist vorbehaltlich des Absatzes 5 zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe verpflichtet. Die Ersatzpflicht besteht nur für die Kosten der Sozialhilfe, die innerhalb eines Zeitraumes von zehn Jahren vor dem Erbfall aufgewendet worden sind und die das Dreifache des Grundbetrages nach § 85 Abs. 1 übersteigen.

Mit der Einführung des Teilhabegesetzes können auch behinderte Kinder erben, denn dies wird durch den Artikel 12 der BRK ausdrücklich zugesagt. Diese Zusage wurde hoffentlich nicht deswegen gemacht, damit sich anschließend das Sozialamt an der Erbschaft gütlich tun kann.

03.02.2016 Offener Brief an Bundestagsabgeordnete

Offener Brief an die Damen und Herren Fraktionsvorsitzenden
der im Bundestag vertretenen Parteien und an die Mitglieder
der Bundestagsausschüsse Haushalt, Gesundheit, Arbeit und Soziales

Hollenbach, den 3. Februar 2016

Faires Teilhabegesetz

Sehr geehrte Damen und Herren Fraktionsvorsitzende des Deutschen Bundestages, sehr geehrte Damen und Herren der Bundestagsfraktionen Haushalt, Gesundheit, Arbeit und Soziales,

seit dem Frühjahr 2009 warten behinderte Menschen in Deutschland darauf, dass das ihnen mit der Unterschrift unter die Behindertenrechtskonvention (BRK) gegebene Versprechen eingelöst wird. Bis jetzt, sieht man vom Conterganstiftungsgesetz (§18 Absatz 2) ab, war nicht zu erkennen, dass daran gearbeitet wird. Wie oft wurden Vereine und Verbände zu Anhörungen, Tagungen, Fachkonferenzen eingeladen? Es ist nicht erkennbar, dass wir dort einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. Selbst die Zusage, im Herbst einen ersten Entwurf eines Teilhabegesetzes vorzulegen, wurde nicht eingehalten. Nun werden wir auf das Frühjahr vertröstet und es werden immer mal wieder angebliche Inhalte des Gesetzes ins Volk gestreut, wohl um Reaktionen zu testen. Dabei werden die Adressaten anscheinend ausgewählt, denn auf offiziellem Weg haben wir noch kein Exemplar erhalten.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat gar nicht den Spielraum, den es vorgibt. Deutschland kann nach Artikel 4 der BRK keine Gesetze erlassen, die der Konvention widersprechen. Gleiches gilt dann, wenn Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 GG4 verletzt wird. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt festgestellt: "Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen." (BVerfGE 10.10.2014 Az.: 1 BvR 856/13). Grundrechte unserer Verfassung binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht (Artikel 1 Absatz 3 GG).

Wenn behinderten Menschen Einkommen und Vermögen weggenommen wird, weil sie Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen, wenn ihnen durch Versagung der Bedarfsdeckung durch die Kostenträger die Freiheit, mitunter sogar die Gesundheit und mehr genommen wird, dann wird sowohl gegen unsere Grundrechte als auch gegen die BRK verstoßen. Diese Regelungen werden, sie dürfen keine Gesetzeskraft erlangen. Die Vereinten Nationen haben darauf geachtet, dass die BRK an keiner Stelle weitergehende Regelungen als die allgemeinen Menschenrechte beinhaltet. Umso entsetzlicher, dass dennoch seitens des BMAS versucht wird, die BRK abzuwerten. Behinderte Menschen haben Jahrzehnte darauf gewartet, dass es ihnen endlich gestattet wird, inmitten der Gesellschaft mit den jeweils erforderlichen Nachteilsausgleichen zu leben. Lassen Sie nicht zu, dass so leichtfertig mit unseren Menschenrechten umgegangen wird.

Es tauchen immer wieder Informationen auf, dass die Anrechnung von Einkommen und Vermögen davon abhängig gemacht wird, ob der behinderte Mensch Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege bezieht. Diese Unterscheidung ist jedoch absolut untauglich, denn diese wird bei den Kostenträgern sehr oft willkürlich getroffen. Entscheidend ist einzig und alleine, ob der betroffene Mensch behindert ist oder nicht. Alles andere würde eine zusätzliche Ungerechtigkeit erzeugen, die nicht hingenommen werden kann.

Sie erhalten vierteljährlich unsere Verbandszeitschrift INFORUM. In der letzten Ausgabe vom Dezember war unsere Forderung nach einem fairen Teilhabegesetz abgedruckt. Unter Umständen haben Sie dies im Trubel der Vorweihnachtszeit übersehen. Daher geben wir hier nochmals den Link zur PDF-Datei wieder. Wir bitten Sie – sofern noch nicht geschehen – diesen Text aufmerksam durchzuarbeiten. Wissen Sie, gegen wieviel Grundrechte und Gesetze von den Kostenträgern – nicht nur von denen der Sozialhilfe – verstoßen wird? Die ungleiche Machtverteilung zwischen Kostenträgern und AntragstellerInnen wird oft brutal ausgenutzt. Beispiele finden Sie in der Sammlung Geschichten aus Absurdistan. Wir versichern Ihnen, dass es sich hierbei um keine Einzelfälle, sondern um wiederkehrende Beispiele aus unserer täglichen Beratungsarbeit handelt.

Wir werden uns mit allen zu Gebot stehenden Mitteln dagegen wehren, sollte das Gesetz in Teilen gegen die UN-BRK oder gegen unsere Grundrechte verstoßen. Wenn wir jetzt nicht unsere Rechte bekommen, müssten wir wieder lange Jahre darauf warten. ForseA und seine angeschlossenen Vereine und Verbände haben von ihren Mitgliedern kein Mandat, in Sachen Menschenrechte Zugeständnisse zu machen. Mit gezielten Vorabveröffentlichungen – wie jetzt geschehen – wird unnötig Zeit vergeudet, die für die ehrliche und faire Weiterentwicklung des Rechtes dringend gebraucht wird.

Behinderte Menschen erwarten von Ihnen, dass Sie im Sinne unserer Verfassung und der Behindertenrechtskonvention für ein faires Teilhabegesetz eintreten und abstimmen. Und dass Sie die Regierung auffordern, endlich dieses unwürdige Spiel zu beenden.

Mit freundlichen Grüßen
FORUM SELBSTBESTIMMTER ASSISTENZ BEHINDERTER MENSCHEN E.V.
Gerhard Bartz, Vorsitzender

04.05.2016 Ein schändlicher Entwurf!

Ein schändlicher Entwurf!

Vor einer Woche ist der Referentenentwurf zum Bundesteilhabegesetz an das Tageslicht gestolpert. Während die breite Öffentlichkeit mit Schlagzeilen wie "Mehr Geld und Rechte für behinderte Menschen" desinformiert wird, herrscht in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung blankes Entsetzen. Dort wurden zahlreiche Menschen eingelullt. Und zwar mit dem Gedanken, dass deren Ansichten gefragt und ernst genommen werden. Dies ging sogar soweit, dass im Ringen um die Gunst der Regierenden Streitigkeiten offen ausgetragen wurden.

Umso größer die Ernüchterung, als man nun feststellen musste, dass kaum eine unserer Vorstellungen Eingang in den Referentenentwurf gefunden hat. Stattdessen wurden diese geradezu invers abgebildet. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) unter der sozialdemokratischen Ministerin Andrea Nahles tut gerade so, als ob es die Behindertenrechtskonvention nicht gäbe, als ob diese nicht bereits seit 2009 in Deutschland geltendes Recht wäre. Auch das Benachteiligungsverbot im Artikel 3 unseres Grundgesetzes scheint in den Augen des BMAS gerade zum Einwickeln der Pausenstulle geeignet zu sein. Dass das Bundesverfassungsgericht seit Jahren eine konkrete Definition des Benachteiligungsverbotes abliefert, scheint dort entgangen zu sein. Ein Fehler, denn Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes haben Gesetzescharakter und sind für alle drei Staatsgewalten bindend!

Macht die Bundesregierung nun Behindertenpolitik für oder gegen Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen?

Eindeutig gegen diese. Denn sie liefert diese nach wie vor Behörden aus, die nur eines im Sinne haben: ihren Haushalt zu schonen. Und sie verschlimmert diese Situation auch noch, indem eine Regionalisierung der Sozialgesetzgebung die Türen geöffnet werden sollen. Dann kann jedes Bundesland eigene Regeln kreieren, wie die behinderte Bevölkerung am besten benachteiligt werden kann.

Aber auch die sogenannte Behindertenbewegung ist nicht unschuldig an diesem Desaster. Statt sich wie hinter einem Speer zu sammeln und mit dessen scharfer Spitze für die nötige Aufmerksamkeit in der Politik zu sorgen, ließ man sich auseinanderdividieren. Drei Problemgruppen sind auf Anhieb auszumachen.

  1. Behinderte Menschen mit 24-Stunden-Bedarf, deren einziges Bestreben war, Einkommen und Vermögen behalten zu können, nicht wegen des Nachteilsausgleiches enteignet zu werden.
  2. Mehrfachbehinderte Menschen, die von ihren Eltern in Anstalten untergebracht wurden. Diese Gruppe ist in der Politik bestens vernetzt und kommt in dem Referentenentwurf am wenigsten schlecht weg.
  3. Mehrfachbehinderte Menschen, die noch bei ihren Eltern wohnen. Diese haben der ungeheuren Sogwirkung der Anstalten widerstanden und möchten ihre Kinder vor diesen bewahren. Sie bezahlen jedoch einen viel zu hohen Preis dafür. Die Kostenträger lassen sie mit ihren Nöten alleine, statt ihnen zu helfen. So opfern die Eltern ihre Lebenszeit, ihre Unversehrtheit dafür, dass sie dem Gemeinwesen zwangsweise viel Geld sparen. Und Eltern, die es geschafft haben, für diese Kinder eine ambulante Assistenz sicherzustellen, müssen ständig zittern, ob der Kostenträger bei den stetig wiederkehrenden Überprüfungen nicht doch noch zur Ansicht kommt, dass eine Verwahranstalt zumutbar wäre.

Zwischen diesen drei Gruppen befindet sich der Rest der behinderten Menschen mit Assistenzbedarf. Sie bedürfen nicht nur der Solidarität der nichtbehinderten Gesellschaft, sondern auch die der ersten Gruppe. Gleichzeitig erhofft sich die dritte Gruppe auch derer Solidarität. Denn ohne diese werden sie von der Entwicklung abgekoppelt.

Dreh- und Angelpunkt ist die Zumutbarkeit. Ohne diese könnten die Anstalten dichtmachen. Sie leben von der Zwangsbefüllung durch die Kostenträger. Dabei könnten sie das Leben der behinderten Menschen in den Anstalten auch so gestalten, dass dieses eine wirkliche Alternative zum ambulanten Leben draußen darstellen würde. Dies jedoch würde die Anstalten jedoch so teuer machen, dass die Bürokratie ihre Fördermaßnahmen einstellt. Denn sie machen nur dann Sinn, wenn dadurch die Kosten der ambulanten Versorgung gedrückt werden. Ergo "zahlen" die Anstaltsinsassen ihren Aufenthalt dort durch den Verlust vieler Freiheiten und ihrer Selbstbestimmung selbst.

Aber auch das Leben außerhalb von Anstalten ist von Sozialkonzernen bedroht. Diese stricken Konstrukte, die eine Billigstversorgung ermöglichen. Es werden Menschen aus Billiglohnländern herangekarrt, die behinderten Menschen einfach so in deren Wohnungen geschickt werden. Die Unterkunft und Verpflegung und der en Kosten werden dem behinderten Menschen aufs Auge gedrückt. Dass die Grundlage derlei Arbeitsverhältnisse in den Räumlichkeiten der behinderten Menschen Vertrauen ist, dass kulturelle Differenzen bis hin zu abweichenden Essgewohnheiten oder mangelnden Sprachkenntnissen dieses Zusammenleben sehr schwierig machen kann, das wird ignoriert. Solche Billig-Dienste veranlassen Kostenträger dazu zu versuchen, Arbeitgebermodelle durch Verweigerung der Kostenübernahme zu sprengen. Besonders pikant: Recherchen in Firmenregistern haben schon mehrfach ergeben, dass diese Billiganbieter Töchter großer Sozialkonzerne sind, die durch dies Neugründungen unter anderem Tarifverträge unterlaufen wollen.

Alles das ist längst bekannt. Alles wurde in Anhörungen und Stellungnahmen unzählige Male thematisiert. Umso schändlicher, dass als Ergebnis dieser Ermittlungen ein derartiger Referentenentwurf entstehen konnte. Er könnte auch als Synonym dafür herhalten, dass sich die Kluft zwischen Regierenden und Regierten immer weiter öffnet. Dieser Eindruck, der sich an anderer Stelle mit der Gründung "alternativer" Parteien verfestigt, führt seltsamerweise im Bereich der Behindertenpolitik nur bei den davon betroffenen behinderten Menschen zur Entrüstung. Der Rest der Gesellschaft schaut ohnehin weg, wenn es um die Probleme behinderter Menschen geht. Das hat nach den Exzessen des sogenannten "Dritten Reiches" Tradition. Unsere Regierenden wollen ihren Nutzen daraus ziehen, sie glauben, die aussondernde Politik der Nachkriegszeit auch in die Zeit der Behindertenrechtskonvention retten zu können. Aber sie werden sich irren.

Unser Bundespräsident wird einem derart verfassungsverletzenden Gesetz nicht zustimmen. Selbst wenn doch, dann hoffe ich, dass die Opposition ihre 20 Prozent noch für eine Normenkontrollklage ausbauen kann. Denn irgendwo werden ja noch 5 % christliche und soziale Abgeordnete zu finden sein.

Wenn sich heute in Berlin viele Menschen einfinden, um gegen diesen Entwurf zu protestieren, dann wird dieses Signal hoffentlich auch von der Politik, den Medien und damit auch von der Gesellschaft vernommen.

Menschen mit Behinderungen erwarten von unserer Regierung eine faire Umsetzung der Behindertenrechtskonvention. Davon ist der vorgelegte Referentenentwurf Lichtjahre entfernt. Wir brauchen zwingende, kurze Bearbeitungsfristen, die uns erlauben, schneller den Rechtsweg beschreiten zu können. Wir brauchen eine Antragstellung, bei der nicht der Kostenträger in unser Leben hineindirigieren kann. Derartige Übergriffe rauben uns unsere Freiheit, unsere Selbstbestimmung und unsere Würde!

Gerhard Bartz
Vorsitzender ForseA e.V.
04. Mai 2016

04.09.2016 Offener Brief an MdB's

Offener Brief
an die Damen und Herren Abgeordneten der
Bundestagsausschüsse Arbeits- und Sozialausschuss
Gesundheitsausschuss sowie
Haushaltsausschuss

 

Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) / Umsetzung der Behindertenrechtskonvention / Artikel 3 Grundgesetz

 

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

macht ein faires Teilhabegesetz glücklich? Sofern die Abwesenheit von Unglück bereits Glück bedeutet: ja. Und Unglück gibt es derzeit, im Jahre sieben nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und im Jahre 23 nach Erweiterung des Artikels 3 um den Satz 3 in Abs. 2 unseres Grundgesetzes (GG) um den Satz "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." noch zuhauf. Nach wie vor werden behinderte Menschen mit Bedarf an Nachteilsausgleich um ihre Rechte aus der UN-BRK und des Benachteiligungsverbotes des GG gebracht. Sie werden nachweislich betrogen, erpresst, falsch beraten, alles im Sinne der Haushaltsschonung von Kostenträgern.

Zum Beispiel wird die Kostenübernahme einer langjährig bestehenden personellen Assistenz in Südbaden vom Kostenträger "aus heiterem Himmel" gekündigt. Auf verzweifelte Nachfrage wurde dem behinderten Arbeitgeber erklärt, die Sachbearbeiterin wäre in Urlaub und man würde erstmal bis Februar nächsten Jahres weiterzahlen. Aber dann müsse aufgrund des neuen Gesetzes neu entschieden werden. So führt die Untätigkeit der Politik zu unsäglichen Diskriminierungen durch die Kostenträger. Können Sie sich vorstellen, in welcher Gemütslage der betroffene Mensch das nächste halbe Jahr leben wird? Unternehmen Sie einmal den Versuch, sich in die Gefühlslage jemandes hinein zu versetzen, der auf derartige Leistungen angewiesen ist.

Wir erwarten vom Bundesteilhabegesetz kein Glück. Weniger Unglück in Gestalt von fehlender staatlicher Unterstützung oder dem Negieren berechtigter Ansprüche würde uns dagegen guttun.

Wir erwarten, dass unser Staat behinderten Menschen so entgegentritt, wie es jede nicht behinderte Bürgerin, jeder nicht behinderte Bürger von seinem Staat auch erwarten kann. Davon sind wir heute Lichtjahre entfernt. Sobald wir Nachteilsausgleichsansprüche geltend machen, stoßen wir auf eine Abwehrmacht, die ihresgleichen sucht. Es fängt oft damit an, dass der Sachbearbeiter gerade in Urlaub gegangen ist, gerade ein Sachbearbeiterwechsel vonstattengeht oder ein sonstiger regelmäßig nicht nachvollziehbarer Grund gegeben ist, weshalb selbst in das Antragsverfahren nicht hinreichend rechtzeitig eingetreten werden kann. Im weiteren Verfahren sind Krankheit oder das Ersetzen der Sachbearbeitung durchaus keine Seltenheit. In jedem anderen Sachgebiet würde es eine Vertretungsregelung geben, hier meistens nicht. Die dann auftretenden vielen Fehler werden damit entschuldigt, dass man von dieser Leistungsart noch gar nichts gehört habe. Für die absurdesten Argumente ist man sich nicht zu schade. Das reicht vom Verlangen, dass ein Antragsteller vom Frühstück bis zum Mittagessen mit nacktem Gesäß auf dem Toilettenstuhl ausharren soll, um zu ermöglichen, dass die Assistenz kostensparend andere Menschen versorgen kann und endet noch lange nicht damit, dass man beispielsweise versehentlich die falsche Tabelle verwendet und damit einem Antragsteller mit einem bereits ausgefüllten Vertrag das Eigenheim wegnehmen wollte. Bis hin zum Notar war alles bereits vorbereitet. Auf eine Entschuldigung wartet der Antragsteller bis heute vergeblich.

Behinderte Menschen brauchen menschliche Unterstützung. Diese lässt sich ausschließlich auf Papier in unterschiedliche Hilfearten aufteilen. Statt Hilfe zur Pflege, Hilfe zur Alltagsbewältigung, zur Haushaltsführung, zur Teilhabe brauchen wir Assistenz. Schlicht und einfach Assistenz. Alles andere macht Heerscharen von Wissenschaftlern und Bürokraten froh, die Betroffenen hingegen nicht. Der Betroffene wird im Einzelfall schon einmal, wie in Rheinland-Pfalz geschehen, zur Budgetrückzahlung verdonnert, weil er mit der Unterstützung der Assistenz, die just zu diesem Zeitpunkt von der Eingliederungshilfe bezahlt wurde, eine Toilette aufsuchen musste. Auf der Kostenträgerseite ist die Einstufung in Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege ein reines Lotteriespiel. Menschen, die keine Pflege an sich benötigen, erhalten überwiegend Hilfe zur Pflege. Andere Menschen wiederum, die keinen Finger rühren können, bekommen ihre Assistenz gänzlich über die Eingliederungshilfe finanziert. Statt nun das Teilhabegesetz dazu zu verwenden, diese veralteten Strukturen zu beseitigen und durch modernes tatsächliches Recht zur Teilhabe zu ersetzen, werden sie erneut ausgebaut. So wird bei nicht berufstätigen Menschen die Tatsache, dass ganz oder in Teilen Hilfe zur Pflege bezogen wird, dazu führen, dass mit dem Tag des Rentenbeginns der "Vermögens"-Freibetrag um 50.000 Euro reduziert wird.

Wir möchten darauf verzichten, weitere einzelne Punkte des Gesetzesentwurfes anzugreifen. Das haben schon viele andere getan und wir sind uns sicher, dass bei weitem nicht alle Unzuträglichkeiten im Gesetzentwurf entdeckt wurden. Viele dieser Stellungnahmen wurden veröffentlicht und sind Ihnen bereits bekannt. Der Entwurf trägt die Lüge bereits im Namen und das Desaster setzt sich im Text des Entwurfes fort.

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

Ein derartiges Gesetz hätten wir bereits 2010 haben können. Wir empfinden es als ein Unding, über Jahre hinweg angehört worden zu sein, persönlich und schriftlich, um dann so gut wie gar nichts davon im Gesetzentwurf wiederzufinden. Im Gegenteil: Im Gesetzentwurf hat sich das Denken vergangen geglaubter Zeiten nachdrücklich zurückgemeldet. In diesem Herbst werden Weichen gestellt. Das sieht die Regierung offensichtlich auch so. Allerdings stellt sie die Weichen in Richtung finstere sozialpolitische Vergangenheit. Warum wird die soziale Aus-sonderung nicht endlich beendet. Natürlich wird heute niemand mehr umgebracht, wie zu Zeiten, als Euthanasie noch ein gesellschaftspolitisches Schlagwort war. Aber wir kennen einige, die vom permanenten Kampf mit staatlichen Strukturen mürbe wurden und den Freitod gesucht haben. Welche Urängste müssen noch überwunden werden, damit behinderte Menschen inmitten der Gesellschaft leben können und dürfen?

Behinderte Menschen haben mehr oder weniger Unterstützungsbedarf. Es wird in den seltensten Fällen vorkommen, dass mehr Bedarf als nötig geltend gemacht wird. Für diese hält jedoch unsere Gesellschaft Heerscharen von Wissenschaftlern, Fachkräften und Bürokratiemitarbeitern bereit, um diesem Missbrauch zu begegnen, aber auch um potentielle Antragstellerinnen und Antragsteller abzuschrecken. Jeder Versuch Dritter, mir meinen Assistenzanspruch herunter zu verhandeln, ist ein Versuch, mir meine Freiheit zu nehmen, mich daran zu hindern, als Gleicher unter Gleichen in unserer Gesellschaft zu leben.

Brauchen wir wirklich das Bundesverfassungsgericht, das die Unwirksamkeit des Gesetzes feststellt? Dieses Gericht hat den Artikel 3 GG so interpretiert, dass Gesetze, die behinderte Menschen schlechter stellen als nichtbehinderte, gegen die Verfassung verstoßen. Damit nicht jeder einzelne Vorgang den Weg beschreiten muss, hoffen wir auf eine abstrakte Normenkontrollklage der Opposition. Diese muss jedoch von über dreißig Abgeordneten der Koalition unterstützt werden. Angesichts des Unrechts, das hier in Gesetzesform gegossen werden soll, muss dies möglich sein.

Sollten wir das Gesetz in dieser Legislaturperiode nicht bekommen, werden wieder viele Jahre ins Land gehen, in denen behinderte Menschen einzeln ihr Recht vor Gericht erkämpfen müssen. Gerichte urteilen mittlerweile in wachsender Zahl, indem sie die veralteten Sozialgesetze (hierzu zählt dann auch das neue Gesetz, sollte es nicht wesentlich verändert verabschiedet werden) im Sinne des Grundgesetzes und der Behindertenrechtskonvention interpretieren. Dieser Weg vor die Gerichte ist jedoch zeitraubend und teuer. Viele Menschen haben auch nicht die Nerven und geben auf. Ist es das, was gewollt ist?

Der vorliegende Gesetzentwurf ist mehr als eine Mogelpackung. Es ist - angesichts des ihm gegebenen Titels und der begleitenden Werbung durch die Regierung - ein versuchter Betrug an behinderten Menschen. Er ist ein Verstoß gegen den Diensteid aller beteiligten Dienststellen und steht im krassen Gegensatz zu allen vorhergehenden Diskussionen. Er ist in unsere Gesellschaft eingeschlagen wie ein Meteorit aus einer fremden Welt. Man könnte der Ansicht sein, seine Autorinnen und Autoren hätten in den letzten Jahren in Quarantäne gelebt.

Abschließend möchten wir Sie noch darauf hinweisen, dass sich Deutschland im Artikel 4 der BRK verpflichtet hat, bestehende Sozialgesetze anzupassen und nur noch konventionskonforme Gesetze zu erlassen. Diese BRK ist in Deutschland geltendes Recht. Was ist von einem Staat zu halten, der sich herausnimmt, selbst zu entscheiden, ob und welches seiner Gesetze er einhält?

Wir bitten um Ihre Unterstützung. Bitte helfen Sie mit, Deutschland von seinen alten sozialpolitischen Strukturen zu entkrusten. Helfen Sie uns, unsere Menschenrechte zurückzugewinnen, die uns in Teilen genommen wurden, sobald wir Hilfe gebraucht haben. Dafür unseren herzlichen Dank!

Mit freundlichen Grüßen

FORUM SELBSTBESTIMMTER ASSISTENZ BEHINDERTER MENSCHEN E.V.
Gerhard Bartz, Vorsitzender

19.09.2016 Teilhabegesetz für Kostenträger

Teilhabegesetz für Kostenträger

Zunehmend verfestigt sich der Gedanke, dass der Fokus der Regierung eher auf das Wohlergehen der Kostenträger gerichtet ist als das auf der Bürgerinnen und Bürger. Dabei hat die Regierung doch auf genau diese ihren Diensteid geschworen. Vielleicht hat sie dabei nicht daran gedacht, dass diese auch behindert sein könnten? Wie dem auch sei, zwischen Schein und Sein klafft eine Lücke, die auch mit dem Grand Canyon in Konkurrenz treten könnte. Zum Schein gab es einen jahrelangen Beteiligungsprozess, zu dem sich die Regierung ja verpflichtet hatte. Heerscharen behinderter Bürgerinnen und Bürger pilgerten an die Regierungssitze, um den Regierungen des Bundes und der Länder ihre Kriterien eines guten, fairen Teilhabegesetzes mitzuteilen. Da sich die Behindertenrechtskonvention nach dem erklärten Willen der Vereinten Nationen innerhalb der ohnehin vereinbarten Allgemeinen Menschenrechte bewegte, dachten wohl viele, es wäre ein leichter Weg. Manche, die zu Kaffee und Schnittchen Einzelgespräche im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) vereinbaren konnten, freuten sich über offene Ohren dort. Dass diese nach beiden Seiten offen waren, wurde erst später klar. Entsprechend dann die Ernüchterung, als der Referentenentwurf zum Teilhabegesetz veröffentlicht wurde.

Es gab Warnungen

Die stringente Arbeitsweise des BMAS konnte man bereits daran erkennen, als eine interessengeleitete Übersetzung in die Deutsche Sprache veröffentlicht wurde. Als kürzlich Österreich nach UN-Vorgaben eine neue Übersetzung gesetzlich verabschiedete, weigerten sich die Schweiz und Deutschland, diese Übersetzung zu übernehmen (kobinet-Nachricht vom 04.07.2016 Warum aus Österreich eine korrigierte deutsche Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention kommt). Gerichte in Deutschland dürfen sich ohnehin nur an den in den amtlichen Sprachen der Vereinten Nationen veröffentlichten Übersetzungen orientieren. Daher ist es offensichtlich, dass die Regierung bestrebt ist, seinen Bürgerinnen und Bürgern den wahren Sinn der Konvention vorzuenthalten. Ein Schuft, der Böses dabei denkt?

Schaut man nun die Nationalen Aktionspläne Deutschlands und den Staatenbericht Deutschlands an, kann man nur staunen, wie freihändig die Bundesregierung mit der Realität behinderter Menschen in unserem Land umgeht.

Wir hätten also gewarnt sein können. Aber wir waren eingelullt, Begeistert von farbigen Drucksachen und tollen Veranstaltungen lebten wir in Trance. Das Erwachen war dann auch entsprechende schmerzhaft. Auf nahezu 400 Seiten wurden wir mit einem Gesetzentwurf konfrontiert, mit dem wir in diesem Leben nicht gerechnet hätten. Hier kam nun der Gegenteil des schönen Scheins, die harte Realität des Seins ans Tageslicht. Schnell zeigte es sich, dass es nicht "wir" waren, welche die Feder des BMAS geführt haben. Unbeachtet von der Öffentlichkeit wurde in vertrauter Gemeinsamkeit der "Sozial"-Politiker, der Kostenträger und sicherlich auch der Wohlfahrtskonzerne ein Papier zusammengeschustert, das seinem Sinn und Zweck Lügen straft. Diese beginnt bereits in der Überschrift: "Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen". Ohne uns festlegen zu wollen: Die Zahl der Abweichungen von den durchaus geschürten Erwartungen liegt sicherlich im dreistelligen Bereich. Da man auch noch die Bearbeitungszeit durch hinausgezögerte Veröffentlichungen künstlich verkürzte, hat es vermutlich niemand geschafft, den Entwurf in der gebotenen Sorgfalt zu prüfen und diese zu dokumentieren. Die meisten Kommentatoren beschränkten sich darauf, bereits bekannte Fallstricke zu suchen und diese zu kritisieren. Die Gefahr ist riesengroß, dass noch sehr viele Gemeinheiten so gut im Gestrüpp des Entwurfes stecken, die noch nicht entdeckt wurden und uns später schmerzhaft auf die Füße fallen.

Und nun?

Nach wie vor könnten wir uns darauf verlassen, dass Deutschland die Behindertenrechtskonvention einhält. Im Artikel 4 der Konvention hat sie folgende Regelungen mit unterschrieben: Dass sie bestehende Gesetze, soweit sie nicht konventionskonform sind, ändert oder aufhebt und Handlungen oder Praktiken, die mit diesem Übereinkommen unvereinbar sind, zu unterlassen, auch dafür zu sorgen, dass die Träger der öffentlichen Gewalt und öffentliche Einrichtungen im Einklang mit diesem Übereinkommen handeln. Eigentlich hat es eine Regierung nicht verdient, dass ihr mit soviel Misstrauen begegnet wird. Diese Regierung aufgrund des unsäglichen Umgangs mit unseren Rechten schon. Da sich diese Unlauterkeit sicherlich nicht nur im Umgang mit Behindertenrechten wiederspiegelt, hat sie sich die Distanz der Menschen im Land zu ihrer Politik "redlich" verdient. So ist mit dieser Regierung kein Staat zu machen.

Bundesteilhabegesetz wird dringend gebraucht

In der letzten Woche schlossen wir unsere Seminare für dieses Jahr ab. Auch in diesem Jahr waren beide Seminare sehr gut besucht. Aufgrund der von den Seminarteilnehmern geschilderten Probleme könnte man durchaus zu dem Schluss gelangen, dass die Kostenträger heute schon dem Anarchismus anheimfallen.

In ganzen Regionen wie zum Beispiel im Bereich des Landschaftsverbandes Rheinland werden den Menschen das pauschales Pflegegeld nach § 64 SGB XII, das laut § 66 SGB XII um bis zu 2/3 gestrichen werden kann, zur Gänze weggenommen. Begründungen erspart man sich. Derselbe überregionale Sozialhilfeträger deckelt den Stundenlohn auf 11 Euro, ohne damit der Besonderheit des Einzelfalls Rechnung zu tragen. Die Bestätigung des Landessozialgericht NRW, dass die Lohnempfehlung unseres ausdrücklich erwähnten Vereins (TvÖD-K EG 4a Stufe 2 in einer derzeitigen Höhe von 13,79 € (West)) durchaus angemessen ist, stört ihn überhaupt nicht.

Andere Länder, andere Sitten: In Thüringen lassen zusammengestrichene Bedarfe darauf schließen, dass bei einer Budgethöhe von 6000 Euro Schluss ist. Manche Sozialämter gehen vom Mindestlohn aus. Dass dieser bei Bereitschaftszeiten auch noch unterschritten wird, ignoriert man eindeutig das Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichtes. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass man für diesen Lohn nicht die Leute anspricht, auf deren Unterstützung wir dringend angewiesen sind. Die Aufgaben unserer Behindertenassistentinnen und -Assistenten sind umfangreich, vielseitig und verlangen Verantwortungsbewusstsein und Belastbarkeit. Kostenträger dagegen gehen anscheinend immer noch davon aus, dass sie Menschen dafür bezahlen, dass diese uns durch den Park schieben.

Menschen mit Behinderung warten seit 2009 darauf, dass durch die Behindertenrechtskonvention Verbesserungen ihrer Lebenssituation, die auch heute noch viel zu oft von zermürbenden belastenden und menschenverachtenden Auseinandersetzungen geprägt ist, eintreten. Was ist das für eine Gesellschaft, die nach wie vor die Aussonderung, Diskriminierungen, Erpressungen, Betrügereien zu unserem Nachteil zulässt? Es muss so sein, denn sonst würden Sozialverwaltungen und die Politik dieses Verhalten behinderten Menschen gegenüber nicht wagen.

Kein Zurück!

Nein, es ist unser Gesetz und wir werden es nicht beerdigen, denn wir unterstellen, dass genau dies eines der Pläne der Sozialdemokratin Nahles gewesen wäre. Dann würden wir sicherlich wieder über lange Jahre der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention hinterherlaufen bzw. -rollen. Jede/r davon Betroffene müsste sein Recht vor Gericht erstreiten. Dort wird angesichts der ungepflegten, veralteten Gesetze heute bereits die Konvention herangezogen, in Stuttgart beispielsweise im Landessozialgericht die französische Übersetzung.

Wir müssen abwarten, wie das Gesetz, nachdem es die Hürden Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident genommen hat, ausschaut. Und gegebenenfalls danach klagen bis vor das Bundesverfassungsgericht. Denn das Gesetz ist Lichtjahre von der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention aber auch von unserer Verfassung entfernt.

September 2016

Gerhard Bartz
ForseA-Vorsitzender

29.09.2016 Wie kann man im Unrecht nur so auftreten?

Wie kann man im Unrecht nur so auftreten?

Gedanken zur ersten Lesung des Bundesteilhabegesetzes im Deutschen Bundestag

Der Bundestag lieferte am Donnerstag, 22.09.2016, eine Lesung der besonderen Art. Die Abgeordneten der Großen Koalition verteidigten vor einem spärlich besetzten Plenum und ohne die meisten Regierungsmitglieder das Bundesteilhabegesetz, obgleich sie - teils auch noch mehrfach - bereits vor Jahrzehnten weitergehende Forderungen selbst erhoben haben. In ihrer hilflosen Argumentation waren sie sich nicht zu schade, die Opposition zu beschuldigen, behinderte Menschen gegen die Regierung aufzuhetzen. Aus vielen Stellungnahmen, aber sicherlich auch aus eigenem Wissen muss ihnen klar sein, dass sie mit dem Gesetzentwurf nicht nur die in Deutschland als unmittelbar geltendes Recht gültige Behindertenrechtskonvention gröblich verletzen, sondern auch unsere Verfassungsrechte! Vielleicht deshalb auch der teils rüde Ton gegenüber der Opposition und die verschiedentlichen Streicheleinheiten für die Sozial-ministerin, der Sozialdemokratin Andrea Nahles, MdB, und deren Parlamentarischen Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller, MdB, ebenfalls eine Sozialdemokratin.

Diese Bundesregierung ist auf dem Weg, eine Großchance zu ignorieren!

Im Jahre 2016 könnten wir auf einem Schlag mit einem modernen Leistungsgesetz die Nachkriegszeit-Fürsorge über Bord werfen. Selten hatte eine Regierung so viel rechtlichen Rückenwind wie zum Beispiel durch unsere Verfassung und die Behindertenrechtskonvention. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach seit 1994 in durchaus ähnlichen Formulierungen festgestellt, wann ein Gesetz unsere Verfassung verletzt. Beispielsweise am 10.10.2014: "Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen" (Az.: 1 BvR 856/13). Solange behinderte Menschen per Gesetz schlechter gestellt werden als nicht behinderte, sind diese Gesetze also verfassungswidrig!

Selten hatte eine Regierung auch eine so große Mehrheit im Parlament. Und selten hatte sie durch siebenjährige Anhörungen, Debatten, Stellungnahmen einen so großen Informationshintergrund.

Und was hat die Regierung daraus gemacht?

Sie haben uns beschäftigt! Sie haben uns glauben lassen, dass das, was wir unzählige male persönlich oder schriftlich vorgetragen haben, für sie interessant sei. Sie ließen uns in dem Glauben, dass am Ende dieser Legislaturperiode ein Bundesteilhabegesetz steht. Sie haben vermutlich gar über unsere Mühen (es waren oft wirklich welche!) zumindest gelächelt, vielleicht sogar herzhaft gelacht. Sie haben nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vor Widerwärtigkeiten und Ungesetzlichkeiten nur so strotzt. Stellvertretend für alle Kritikpunkte seien hier nur vier herausgegriffen:

  • Die Bundesregierung hält am Kostenvorbehalt fest. Sie will weiterhin damit drohen, dass zu hohe Kosten im ambulanten Bereich die Weichen in Richtung Heim stellen. Dabei unterstelle ich, dass sie es besser weiß, Denn eine Heimeinweisung gegen den Willen der betroffenen Menschen kann es nicht mehr geben. Mit Artikel 19 der Behindertenrechtskonvention und dem Artikel 3 unserer Verfassung sind uns zwei starke Schutzschilde gegeben. Diese müssen zwar auch von den Kostenträgern berücksichtigt werden. Die Verlockung, es nicht zu tun, wird mit Kosteneinsparungen belohnt. Gewinnt der behinderte Mensch nach Jahren seinen Prozess, hat der Kostenträger in der Regel keine Nachzahlung zu leisten, da selten jemand so viel Kredit bekommt, um die erforderliche Hilfe vorfinanzieren zu können. Und so bleibt der Mensch ohne die erforderliche Hilfe in seiner Notlage allein. Er wird über Jahre seines vielleicht ohnehin kürzeren Lebens vom Leben in der Gemeinschaft ferngehalten. Kann natürlich auch sein, dass er längst hinter Anstaltsmauern verschwunden ist. Der Weg zurück ist damit fast unmöglich geworden.
  • Mit der Assistenz eng verknüpft ist das Wohnungsproblem. Zieht ein behinderter Mensch von zu Hause oder aus einer Einrichtung aus, benötigt er zeitgenau eine passende Wohnung. Es ist nahezu aussichtslos, die Assistenz und die Wohnung gleichzeitig geregelt zu bekommen. In Hessen brauchte ein junger Mann zehn Jahre (!), um sich gegen die geballte, zu Allem entschlossene Macht des kommunalen Sozialhilfeträgers und des dortigen Landeswohlfahrtsverbandes den Auszug aus einem Heim zu erkämpfen. Er hat dies zu Beginn des Jahres 2014 in einem Vergleich geschafft … und lebt heute noch in dieser Anstalt. In diesen Tagen hat es nun endlich auch mit einer Wohnung geklappt. Diese ist im Bau und kann vermutlich im Frühling 2017 bezogen werden. Der Mann hat eine Muskelerkrankung und damit ohnehin eine vermutlich eingeschränkte Lebenserwartung. Ãœber 13 Jahre hinweg wurde er daran gehindert, am Leben inmitten unserer Gesellschaft in gleicher Weise wie nichtbeeinträchtigte Menschen teilzunehmen. Solange es keine eindeutige Finanzierung von Assistenzleistungen durch den Bund gibt, werden auch barrierefreie Wohnungen Mangelware bleiben. Denn die Kommunen befürchten, dass mit jeder weiteren barrierefrei ausgestatteten Wohnung auch weitere Kosten für sie entstehen.
  • Auch die weitere Wegnahme von Einkommen und Vermögen der betroffenen beeinträchtigten Menschen ist durch die Behindertenrechtskonvention und den Artikel 3 GG nicht gedeckt. Nach einer belegbaren Berechnung von ForseA hat der Staat seit dem 01.12.2011 fast 2,5 Milliarden Euro dafür ausgegeben, um durch die Anrechnung von Einkommen und Vermögen der Betroffenen jährlich 12 Millionen Euro einzunehmen. Das ist es unserem Staat wert, seine beeinträchtigten Menschen, immerhin ja auch Bürger dieses Landes, von der Inanspruchnahme von gesetzlich verbrieften Nachteilsausgleichen abzuschrecken. Durch die Anhebung der Freibeträge wird der eigentliche Prüfungsbedarf nicht geringer. Das Verhältnis von Aufwand und "Ertrag" gestaltet sich dadurch nur noch ungünstiger.
  • An der Verteilung der Macht zwischen Kostenträger und Antragstellern ändert sich durch diesen Gesetzentwurf überhaupt nichts. Die antragstellenden Bürger werden nach wie vor den Macht-Routinen der Sozialämter schutzlos ausgeliefert. Schutzlos deshalb, weil die Rechtsmittel angesichts der Notlage, in der sich diese Menschen befinden, oft zur Farce verkommen. Wie will man reagieren, wenn der Kostenträger begründungslos nur einen Bruchteil des Bedarfes anerkennt? Wenn er die Stundenlöhne deckelt und es damit unmöglich macht, eine dauerhafte angemessene Assistenz sicherzustellen? Oder wenn er aus heiterem Himmel Leistungen kündigt und nur noch befristete Leistungen anbietet? Menschen, die bereits seit Jahrzehnten behindert sind, geraten so alle paar Monate in eine desaströse Existenzangst.

Das sind nur vier Punkte, anhand derer jedoch deutlich wird, dass sich hier der Gesetzgeber in einer Welt befindet, die mit der Realität im Land wenig zu tun hat. Oder wie ist es zu erklären, dass Frau Ministerin Nahles so unverfroren von einem Quantensprung parlieren kann? Oder dass Frau Dr. Astrid Freudenstein, SPD-MdB, sich beklagt, dass die Opposition eine vermeintlich unangemessene Schärfe in die Debatte bringt. Geradezu grotesk wurde es, als Karl Schiewerling, CDU/CSU-MdB, der Opposition vorwarf, die Lebenssituation der Menschen zu skandalisieren, mit den Emotionen von Menschen mit Behinderung zu spielen, sie in die falsche Richtung zu lenken und dafür auch noch Beifall der Sozialdemokraten erhielt. Er fühlte sich auch befugt, unsere Forderungen nach Rückgabe unserer Menschenrechte als Wünsche, die nicht alle befriedigt werden können, zu bezeichnen. Als abschließend ein sichtlich gut gelaunter Uwe Schummer, CDU/CSU-MdB, an das Rednerpult trat, fragten sich viele, worauf sich diese Heiterkeit bezog. Wollte er damit seine Verlegenheit kaschieren, hier einen Gesetzentwurf verteidigen zu müssen, dessen Unlauterkeit bereits mit dem Titel und der Einleitung deutlich wird? Für die Schärfe der Kritik ist alleine die Regierung und die sie tragenden Parteien verantwortlich. Von den Debattenrednern der Koalition werden Ursache und Wirkung verwechselt! Die Opposition hat ein offenes Ohr für unsere - teils von Verzweiflung geprägten - Aktionen. Die Regierungsparteien dagegen haben das routinierte Weghören bereits zur Perfektion entwickelt. Sonst könnten sie längst nicht mehr diesen Entwurf feiern. Die Regierung wurde auf das Volk vereidigt. Zehn Millionen behinderte Menschen - und mindestens noch mal so viele Angehörige - warten darauf, dass sie ihrem Eid endlich gerecht werden!

Dieser Text wird ebenfalls wie die die beiden untenstehenden Texte an die Damen und Herrn Abgeordneten des Deutschen Bundestages in den Bundestags-Ausschüssen Gesundheit, Arbeit und Soziales sowie Haushalt verteilt.

Hollenbach, 29.09.2016

Gerhard Bartz
Vorsitzender ForseA e.V


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