WA 30.09.99
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Zeitung
Wie lange darf eine Sitzung auf der Toilette dauern?
Rollstuhlfahrer Thomas Stuff braucht nach Ansicht des Kreis-Sozialamtes
zuviel Zeit für sein ,,Geschäft". Pflegevertrag wurde
zum fünften Mal gekündigt.
WERNE · Wieviel darf der Gang zur Toilette kosten?
Ein gesunder Mensch zahlt in der Regel fünfzig Pfennig, und wenn
es hoch kommt eine Mark für die Benutzung einer öffentlichen
Toilette. Sieben Mark und achtzig Pfennig stehen jemandem, der pflegebedürftig
in Stufe III eingestuft ist, laut Pflegemodul dreimal die Woche für
den „Ausscheidungsprozess" zur Verfügung. Mit dem Geld
sollen die „helfenden Hände" für den Pflegebedürftigen
entlohnt werden. Im „Idealfall" sollte dabei der Toilettengang
des Behinderten nicht länger als 10 bis 13 Minuten dauern. Ein
Zeitrahmen, der sicherlich in vielen Fällen einzuhalten ist, den
Thomas Stuff jedoch regelmäßig überschreitet.
Der 35-jährige Werner? ist nach einem Badeunfall vor 13 Jahren
vom sechsten Halswirbel an abwärts gelähmt. Er benötigt
- nach eigener Aussage - aufgrund einer Mastdarm- und Blasenlähmung
fast immer ein bis zwei Stunden für die Darm und Blasenentleerung.
„Weil ich zu lange auf der Toilette sitze, haben mir bereits fünf
Pflegedienste gekündigt", klagt Stuff. Allerdings nur die
Arbeiterwohlfahrt habe die „wirtschaftlichen Gründe"
auch im Kündigungsschreiben beim Namen genannt.
Alle anderen privaten und öffentlichen Pflegedienste gaben schriftlich
keinerlei Begründung an. Doch mündlich haben auch diese mir
bestätigt, dass ich zu viel Zeit koste'', schildert der Schwerbehinderte
seine Situation. Der Vertrag mit der AWO, seinem aktuellen Pflegedienst,
läuft zum 1. Oktober aus. Dann ist Stuff ohne jede pflegerische
Unterstützung. Die AWO bestätigte gegenüber dem WA die
„Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen", wandte
jedoch ein, dass Herr Stuff mehr Zeit verlange als ihm zustehe.
2000-Mark-Zuschuss wurde gestrichen
Die eigentliche Schuld an seinem Dilemma gibt Stuff dem Kreissozialamt
in Unna. Dort wurde ihm vor mehr als einem Jahr mit der ergänzenden
Hilfe zur Pflege ein Zuschuss in Höhe von 2000 Mark gestrichen.
„Die Pflege von Herrn Stuff findet im Rahmen der Bedarfsplanung
bis zur festgelegten Höchstgrenze statt. Die Amtsärzte waren
sich einig, dass ein höherer Bedarf nicht notwendig ist",
erklärte der Leiter des Sozialamtes in Unna, Rüdiger Sparbrod.
Weil er dem Hin und Her ein Ende machen will, kämpft Stuff nun
seit 13 Monaten mit Anwalt Ulrich Rüsing um den Zuschuss vom Sozialamt.
In dieser Woche wird ein neues Gutachten einer Fachklinik von den Pflegefachkräften
des Sozialamtes geprüft. Fällt deren Urteil positiv aus, bekommt
Thomas Stuff zusätzlich zum Höchstsatz der Pflegestufe III
von 2800 Mark und der Sozialhilfe, von der er seinen Lebensunterhalt
bestreitet, den Zuschuss zur Pflege.
„Mit dieser ergänzenden Hilfe zu Pflege in entsprechender
Höhe würden wir Herrn Stuff gerne betreuen. Doch wir wollen
natürlich nicht draufzahlen", sagte Wolfgang Ellermann von
„Selbstbestimmte Assistenz Behinderter und ambulanter Pflegefachdienst"
in Witten. Ihm sei, nach eigener Aussage, in 20 Jahren kein ähnlicher
Fall untergekommen.
„Entscheidet das Sozialamt sich gegen das neue Gutachten und es
erklärt sich kein Pflegedienst bereit, die notwendige Pflege für
die gebotene Summe zu leisten, bleibt mir nur die Einweisung ins Krankenhaus",
prognostiziert Stuff. Den Krankenhausaufenthalt zahlt dann allerdings
die Krankenversicherung und nicht das Sozialamt. · jan