Persönliche Assistenz - Politik in der Verantwortung
Aussonderung behinderter Menschen oder Leben in Gleichberechtigung ?
Vortrag von Horst Frehe, Bremen am 1.2.2001 in Würzburg
„In einigen Gesellschaften gibt man sich große Mühe,
behindertengerechte Bedingungen zu schaffen, um den betreffenden Personen
einen möglichst großen Handlungsspielraum zu geben. In anderen
Gesellschaften hingegen sehen sich Behinderte unaufhörlich demütigenden
Situationen ausgesetzt, weil sie auf die Hilfsbereitschaft anderer Menschen
angewiesen sind. Und dies kommt auch in Gesellschaften vor, die durchaus
über die notwendigen materiellen Mittel verfügen, Behinderten
ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zu ermöglichen. Eine
Gesellschaft ist entwürdigend, wenn sie die erforderlichen Mittel
hat, aber keine Bereitschaft zeigt, diese den Behinderten zur Verfügung
zu stellen."( Avishai Margalit, Politik der Würde –
Ãœber Achtung und Verachtung, Berlin 1997, S. 218)
Der Philosoph Avishai Margalit untersucht in seinem Buch „Politik
der Würde" die Grundlagen einer „anständigen Gesellschaft".
Er geht davon aus, dass es illusorisch ist, eine „gerechte"
Gesellschaft - wie John Rawls (John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit,
Frankfurt 1979 und ders., Politischer Liberalismus, Frankfurt 1998)
es fordert – zu erreichen. Er definiert unterhalb eines solchen
Anspruches Anforderungen an Institutionen, die er als Mindeststandards
für deren „Anständigkeit" versteht. Eine Gesellschaft
ist nach Margalit „anständig", wenn ihre Institutionen
die Menschen nicht demütigen. Unter Demütigung versteht er
- den Ausschluss aus der Menschengemeinschaft,
- die gezielte Freiheitsbegrenzung und
- den Verlust von Kontrollfähigkeit.
(A. Margalit, a.a.O., S. 177). Menschen, die in ihrem Alltag regelmäßig
auf Hilfen angewiesen sind, erleben in einem hohen Maße den Ausschluss
aus der Gesellschaft, sehen ihre Freiheit stark eingeschränkt und
fühlen sich von Pflegekräften weitgehend fremdbestimmt. Das
gegenwärtige Pflegerecht ermöglicht behinderten und alten
Menschen mit Assistenzbedarf kaum ein integriertes, unabhängiges
und selbstbestimmtes Leben. Damit verletzt es nach Margalit für
viele die Grundlagen einer „anständigen" Gesellschaft.
Wie hat sich dieses Pflegerecht entwickelt?
Während für Kriegsbeschädigte (Gesetz betreffend die
Pensionierung und Versorgung der Militärpersonen des Reichsheeres
und der kaiserlichen Marine, sowie die Bewilligung für die Hinterbliebenen
solcher Personen (PVMG), vom 27. Juni 1871, RGBl. 275 ff.; § 12
PVMG sah bei Militärdienstunfähigkeit eine Erhöhung der
Pension und bei bestimmten Behinderungen und Pflegebedürftigkeit
in (§§ 13 und 72 ff. PVMG) eine Pflegezulage vor.) seit 1871
und für Arbeitsunfallverletzte seit 1900 eine Pflegeregelung bestand,
wurde erst mit dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) 1961 für alle
übrigen Pflegebedürftigen ein Anspruch auf Pflegegeld sowie
Kostenerstattungs- bzw. Beihilfeansprüche für pflegende Angehörige
und Nachbarn und wenig später die Kostenübernahme für
Pflegekräfte (Gesetz betreffend die Abänderung der Unfallversicherungsgesetze
vom 30. Juni 1900 – Gewerbe-Unfallversicherungsgesetz (GUVG),
RGBl. 33; die Pflegezulage wurde nach § 5a GUVG gewährt.)
geschaffen – allerdings unter Anrechnung von Einkommen und Vermögen.
Bereits ab 1972 wurden in verschiedenen Bundesländern (Berlin,
Rheinland-Pfalz und Bremen) mit Landespflegegeldgesetzen einkommens-
und vermögensunabhängige Leistungen geschaffen. Damit war
sozialpolitisch die Perspektive eröffnet, Pflegeleistungen nicht
nur im Recht der „Sozialen Entschädigung" wie z.B.
im § 35 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und im Recht der „Sozialen
Vorsorge" wie z.B. im § 558 RVO bzw. jetzt § 44 SGB
VII als kausale Leistung einkommens- und vermögensunabhängig
zu kodifizieren, sondern auch im Bereich der „Sozialen Förderung"
einen Anspruch zu schaffen, der vorrangig vor den Sozialhilfeleistungen
in den §§ 68 ff. a.F. den Pflegebedarf abdecken sollte.
Gesetzentwürfe DER GRÜNEN von 1984 und 1988 gingen diesen
Weg, während Hessen bereits 1985 ein Pflegeversicherungsgesetz
vorlegte und Rheinland-Pfalz 1984 einen Entwurf als kombiniertes Leistungs-
und Sozialhilfegesetz in die Diskussion brachte. Eine ganz Flut von
Entwürfen folgte, die sukzessiv den Leistungsumfang immer weiter
einschränkten, bis wir über die Zwischenstufe der Einführung
des Anspruches auf Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit im
neuen Sozialgesetzbuch V vom 20. Dezember 1988 in den §§ 53
ff. SGB V a.F. schließlich mit dem Pflegeversicherungsgesetz vom
26. Mai 1994 die Regelungen des SGB XI bekamen. Während Österreich
mit dem Bundespflegegeldgesetz eine leistungsgesetzliche Lösung
vorzog und in Schweden ein Assistenzgesetz geschaffen wurde, sollte
das deutsche Versicherungsgesetz als „Fünfte Säule"
der Sozialversicherung reüssieren. Niemand sollte sich schlechter,
aber viele besser stehen. Dieses Blüm’sche Versprechen hat
sich inzwischen als hohl erwiesen. Von der Bedarfsdeckung war ebenso
Abschied genommen worden, wie von dem Individualisierungsgrundsatz.
Statt voller Risikoabdeckung – wie in der „alten"
Krankenversicherung – soll nur noch die Unterstützung der
häuslichen Pflege und der Pflegebereitschaft der Angehörigen
geleistet werden (§ 3 SGB XI).
Mit dem 1977 eingeführten Programm „Individuelle Schwerstbehindertenbetreuung
(ISB)" konnten erstmalig Behinderte mit einem hohen Assistenzbedarf
durch die Unterstützung von Zivildienstleistenden außerhalb
von Heimen und unabhängig von der Familie ein eigenes Leben aufbauen.
Über die Kostenerstattung für eine notwendige Pflegekraft
(§ 69 Abs. 2 S. 3 BSHG a.F.) konnte dieses finanziert werden. Allmählich
entwickelte sich so ein „Soziales Konzept" von Pflege, das
zunehmend auch über festangestellte Pflegekräfte ein selbstbestimmtes
Leben der Pflegebedürftigen ermöglichte. Dieses Modell wurde
von der Pflegeversicherung durch ein medizinisches Verständnis
von Pflege (§ 14 SGB XI) und durch das Verbot des sog. Arbeitgebermodells
(§ 77 Abs. 1 SGB XI) weitgehend zerschlagen. Der später eingeführte
Bestandsschutz für das AG-Modell und die Möglichkeit, das
AG-Modell über den nachrangigen BSHG-Anspruch zu realisieren, hat
die Situation ein wenig entschärft, aber nicht gelöst. Durch
den rückwärtsgewandten Behindertenbegriff (§ 14 Abs.
2 SGB XI) und die restriktive, rein funktionell ausgerichtete Bestimmung
der zu berücksichtigen Verrichtungen (§ 14 Abs. 4 SGB XI),
die gleichzeitig in das BSHG übernommen wurden (§ 68 Abs.
5 BSHG), wird „persönliche Assistenz" im Bereich der
Pflege ungeheuer erschwert.
Über die Leistungskomplexe mit in Vergütungspunkten umgerechneten
Zeitvorgaben werden die Unterstützungsleistungen für eine
Person in Wartungsarbeiten am Pflegeobjekt verwandelt und die Pflege
auf eine „Satt-und-Sauber-Pflege im Minutentakt" reduziert.
Durch die Differenzierung in Behandlungspflege (§ 37 Abs. 2 S.
1 SGB V), Grundpflege, hauswirtschaftliche Leistungen und Eingliederungshilfe
(§§ 39 ff BSHG) wird eine vorher einheitlich erbrachte Leistung
in Segmente zerschlagen, die unterschiedliche Vergütungsansprüche
auslöst und verschiedene Qualifikationen erfordert.
Schlimmer noch ist es, dass Assistenznehmer von den Pflegeverbänden
in die passive Rolle des Patienten (Geduldigen) gedrängt werden
und ihre Kompetenzen verlieren, wie z.B.:
- Personalkompetenz: Assistentinnen und Assistenten
selbst auswählen und auch ablehnen zu können - und nicht
das Personal des Pflegedienstes oder der Einrichtung akzeptieren zu
müssen, sondern auch die Wahl zu haben, eine männliche oder
weibliche Pflegekraft einzusetzen,
- Organisationskompetenz: Einsätze und Zeiten
der Hilfen planen zu können – und nicht von dem Einsatzplan
des Pflegedienstes oder dem Dienstplan des Heimes im Alltag abhängig
zu sein,
- Anleitungskompetenz: Ãœber Form, Art, Umfang
und Ablauf der Hilfen im einzelnen bestimmen zu können –
und nicht durch die sogenannte die Fachkompetenz der Pflegekräfte
entmündigt zu werden,
- Raumkompetenz: Den Ort der Leistungserbringung
festlegen zu können – und die Hilfe nicht nur innerhalb
der Wohnung zu erhalten,
- Finanzkompetenz: Die Bezahlung der Hilfen kontrollieren
– und die korrekte Leistungserbringung auch überprüfen
zu können.
- Differenzierungskompetenz: Die Hilfen nach eigener
Entscheidung von verschiedenen Personen oder Anbietern oder aus einer
Hand abfordern zu können – und nicht von den Leistungsdefinitionen
in Kostensatzvereinbarungen der Anbieter abhängig zu sein.
Es stellt sich die Frage,
ob durch die Einschränkung der Kompetenzen nicht der grundrechtliche
Anspruch auf Menschenwürde und das Verbot der Benachteiligung Behinderter
verletzt wird. Eine Förderung von Arbeitgeber-Modellen, Assistenzgenossenschaften
und selbstorganisierten ambulanten Diensten mit einer Zeitvergütung
(§ 89 Abs. 3 SGB XI) und ganzheitlicher Leistungserbringung muss
zumindest neben den traditionellen Pflegediensten und –einrichtungen
stattfinden.
Nach § 9 SGB XI sollen die Länder einen Teil ihrer eingesparten
Milliarden in die Verbesserung der Pflegeinfrastruktur stecken. Die
Praxis zeigt, dass hierunter fast ausschließlich die Förderung
von stationären Einrichtungen verstanden wird. Statt die wesentlich
geringer entwickelten ambulanten Strukturen zu verbessern, werden ambulante
Dienste weitgehend aus der Investitionsförderung ausgenommen und
auch finanziell deutlich gegenüber stationären Einrichtungen
benachteiligt. Zudem werden durch die medizinisch-pflegerischen Ausbildungsanforderungen
an die Leitung und das Personal die Weichen gegen das Assistenzmodell
gestellt.
Besonders deutlich wird die Verengung des Pflegebegriffs bei dem Ausschluss
der Leistungen für Aktivitäten außerhalb der Wohnung,
der Nichtberücksichtigung der Kommunikationsbedürfnisse und
der Nichterwähnung der Anleitung und Beaufsichtigung, insbesondere
verwirrter alter Menschen und geistig Behinderter. Die Rechtsprechung
versucht hier, vorsichtig eine Korrektur zu bewirken. Während Beaufsichtigung
und Anleitung unabhängig von der konkreten Verrichtung nicht berücksichtigt
werden dürfe, könnten Behandlungspflegeanteile, die mit der
Grundpflege verbunden sind und nicht den Einsatz einer Fachkraft erfordern
(Medikamentenkontrolle, Dekubitusprophylaxe usw.) bei der Bestimmung
des Pflegebedarfes mitgerechnet werden (BSG v. 19.2.98, B3 P 5/97 R).
Allerdings sahen andere Sozialgerichte vorher auch Anleitung und Beaufsichtigung
als Teil des Leistungsanspruches an, z.B. bei Demenzkranken (LSG Celle
v. 23.9.97 L 4/3 P 28/96; LSG Saarland v. 4.11.97, L Z P 28/97). Ãœber
den Begriff der „anderen Verrichtungen" in § 68 Abs.
1 BSHG versuchen einige Verwaltungsgerichte diesen ungedeckten Hilfebedarf
aufzufüllen. Eine gesetzliche Erweiterung und grundsätzliche
Überarbeitung des Pflegebegriffs in § 14 Abs. 4 SGB XI erscheint
aber unabdingbar.
Ebenso sind die Zeitkorridore in den Begutachtungsanleitungen zu überprüfen.
Eine stärkere Orientierung am tatsächlichen individuellen
Zeitbedarf ist dringend erforderlich. Dabei ist auch die doppelte Begutachtung
durch den MDK für die Pflegeversicherungsleistungen und durch das
Gesundheitsamt für die Sozialhilfe zu überdenken. Immerhin
ist vom BSG klargestellt worden, dass die Entscheidungsbindung der Sozialhilfe
nach § 68a BSHG sich nur auf die Einstufungsentscheidung des MDK
bezieht. Eine umfassende Begutachtung unter den Prämissen des Bedarfsprinzips
des BSHG könnte aber manche restriktive Entscheidung verhindern
helfen. Das OVG Lüneburg hat dem Versuch von Sozialhilfeträgern
immerhin Einhalt geboten, die Übernahme der Kosten für eine
besondere Pflegekraft auf eine nach Leistungskomplexen ermittelte tägliche
Höchstpunktzahl zu begrenzen (OVG Lüneburg v. 8.7.97, 4 M
2314/97). Dem entgegengesetzten Versuch des OVG Lüneburg, den Anspruch
auf persönliche Assistenz contra legem auf die Höchstbeträge
der Pflegeversicherung zu begrenzen wurde zum Glück vom Bundesverwaltungsgericht
korrigiert.
Allerdings müssen die Versuche von Sozialhilfeträgern abgewehrt
werden, Eingliederungshilfeleistungen in Pflegebedarfe umzudefinieren.
Durch die veränderten Vorschriften der §§ 93 ff. BSHG
ab 1.1.1999 werden derzeit Leistungsvereinbarungen mit Eingliederungshilfeeinrichtungen
vereinbart, die den Entzug, die Reduzierung und Verschlechterung der
Förderung Behinderter bewirken, in dem ein Teil nicht mehr als
förderungsfähig, sondern nur pflegebedürftig angesehen
wird, ein Teil der Förderung und Unterstützung nun als Grundpflege
oder hauswirtschaftliche Leistung herausgerechnet wird und Qualifikationsanforderungen
von pädagogischer Ausbildung auf Pflegehelfer reduziert werden.
Gleichzeitig wird versucht, Eingliederungs- in Pflegeeinrichtungen umzuwandeln
und Behandlungspflegetätigkeiten in Grundpflege umzudeuten. Die
vielfältigen Versuche der Kostenreduzierung und -verlagerung haben
in den letzten Jahren eine deutliche Qualitätsabsenkung bewirkt.
Durch eine klarere gesetzliche Abgrenzung der Leistungsbereiche, eine
einheitliche Leistungsregelung bei kombinierten Ansprüchen (z.B.
i.S. eines Haupt- mit Annexanspruches) und eine eindeutige Vorrangregelung,
muss dieser Entwicklung Einhalt geboten werden.
Eine Neuerung im Sozialrecht stellt auch die Umkehrung des Verhältnisses
von Beitrag und Leistungen dar. Während bisher die Höhe des
Beitrags nach dem finanziellen Umfang der zu erbringenden Leistungen
festgesetzt wurde, werden nun die Leistungen vom Beitragsvolumen bestimmt.
Eine Dynamisierung der Leistungen und Vergütungen kann nach §
30 SGB XI nur im Rahmen des Beitragsaufkommens auf Grundlage eines fixierten
Beitragssatzes erfolgen. Hierin sehe ich eine Pervertierung von Sozialpolitik
als Anhängsel der Finanzpolitik. Eine Dynamisierung der Leistungen
muss nach 5 Jahren endlich erfolgen.
Die Leistungsansprüche nur nach 3 Pflegestufen zu differenzieren,
hat große Ungerechtigkeiten erzeugt. Andere Pflegevorschriften
(§ 35 BVG; § 44 SGB VII) sehen 5 bis 7 Stufen vor. Auch die
Harmonisierung der Beträge in den Stufen zwischen Geldleistungen,
Sachleistungen, teil- und vollstationären Leistungen ist dringend
geboten. Die gegenwärtige Regelung begünstigt die vollstationären
Leistungen in den Pflegestufen I und II, während die ambulanten
Sachleistungen in Stufe III mit den stationären übereinstimmen
und beim Härtefall sogar höher sind. Das Pflegegeld ist mit
wechselnden Prozentsätzen immer niedriger.
Mit einem deutlich höheren Budget für Pflegebedürftige
bei der Ersatzpflege, könnten flexible Lösungen für ausgefallene
oder im Urlaub befindliche pflegende Angehörige gefunden werden.
Die Nutzung so mancher stationären
Kurzzeitpflegeinrichtung könnte vermieden und erhebliche Kosten
eingespart werden. Auch die soziale Absicherung pflegender Angehöriger
reicht nicht aus, eine eigene Alterssicherung damit aufzubauen oder
mit der Pflege den eigenen Unterhalt zu sichern. Ãœber gestufte
Vergütungen sollte nachgedacht werden.
Die in § 37 Abs. 3 SGB XI vorgesehene Regelung der Kontrolle von
Pflegegeldbeziehern durch die Pflegeverbände hat sich als aufwendig,
unsinnig und entmündigend erwiesen. Die Kosten für die halb-
bzw. vierteljährlichen Pflegeeinsätze stellen unnötige
Kosten dar. Man hat mit den Pflegediensten z.T. den Bock zum Gärtner
gemacht. Einem seit Jahren selbstbestimmt lebenden Behinderten ist es
nicht einsichtig, immer wieder neu kontrolliert zu werden. So sehr man
aus Kostengründen auf die eigenständig organisierte Pflege
setzt, so sehr misstraut man der Kompetenz der Akteure. Eine wirkliche
Kontrolle sollte vom MDK bei vorliegenden Verdachtsgründen vorgenommen
werden. Ansonsten sollten Pflegebedürftige in ihrer Rolle als mündige
Verbraucher gestärkt und durch Beschwerde- und Beratungsstellen
unterstützt werden.
Alle mit dem EU-Recht vertrauten JuristInnen haben der Bundesregierung
und dem Bundestag gesagt, dass die Ruhensvorschrift des § 34 SGB
XI, der das Ruhen des Pflegegeldes während eines Auslandsaufenthaltes
von mehr als 6 Wochen vorsieht, gegen den EG-Vertrag verstößt.
Der Europäische Gerichtshof hat erwartungsgemäß ihre
Anwendung für unzulässig erklärt (EuGH v. 5.3.98 zu der
Ruhensvorschrift des § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI, Az. C-160/96). Auch
für die Grenzgängerproblematik bietet die Norm keine vernünftige
Lösung. Der Leistungsexport nicht nur von Geldleistungen muss zulässig
sein, wenn Versicherungspflicht besteht und Leistungsansprüche
erworben wurden. Sonst wird die Freizügigkeit von Behinderten unzulässig
eingeschränkt. Neben der Verletzung des EU-Rechts sehe ich hierin
auch eine Verletzung des Benachteiligungsverbotes Behinderter in Art.
3 Abs. 3 Grundgesetz.
Aber auch der schnelle Wegfall der Leistungen bei Krankenhaus- und Kurklinikaufenthalten
ist problematisch, da in diesen Fällen die Aufrechterhaltung der
Arbeitsverhältnisse der AssistentInnen und damit eines Assistenzkonzeptes
kaum möglich erscheint. Hiervon geht eine erhebliche Gefährdung
der langfristigen Sicherheit und eine Benachteiligung der ambulanten
Pflege aus, da im stationären Bereich Unterauslastungen im Pflegesatz
berücksichtigt werden.
Besonders problematisch ist die Regelung in den §§ 3,3a BSHG.
Zwar bestimmt § 3 Abs. 2 BSHG, dass Wünschen des Hilfeempfängers
auf die Gestaltung der Hilfen entsprochen werden soll. Aber nur, soweit
sie angemessen sind. Dann wird der Wunsch in einem Heim untergebracht
zu werden, in Satz 2, nur als ultima ratio formuliert. Diesem Soll nur
entsprochen werden, wenn dies erforderlich ist, weil eine ambulante
Hilfe nicht möglich oder nicht ausreichend ist.
Ich bin sicher, dass die Anwesenden das umgekehrte Problem haben. Ihr
Wunsch besteht eher aus eine ausreichende Finanzierung der ambulanten
Hilfen. Im Umkehrschluss ist diese – soweit möglich –
unabhängig von den Kosten zu finanzieren und einer Heimunterbringung
vorzuziehen. Allerdings ist da noch der noch relativ neu veränderte
§ 3a BSHG zu berücksichtigen. Dieser formuliert zunächst
noch einmal den Vorrang ambulanter Hilfe. In Satz 2 wird dieser aber
dann negiert, wenn eine geeignete stationäre Hilfe zumutbar und
eine ambulante Hilfe mit unverhältnismäßigen Mehrkosten
verbunden ist. Bei der Prüfung der Zumutbarkeit sind die persönliche,
familiären und örtlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen.
D.h., wenn eine Heimunterbringung ungeeignet ist, weil sie die Selbstbestimmungsmöglichkeiten
unzulässig einschränkt oder dem Eingliederungsziel zuwider
läuft, kommt keine fiskalische Betrachtung infrage. Ebenso, wenn
die Heimeinweisung unzumutbar ist, weil sie die persönlichen Lebensmöglichkeiten
z.B. Freundeskreis in der Nachbarschaft nimmt, familiäre Bindungen
zerstört oder eine unzumutbare örtliche Veränderung z.B.
in eine entferntere Stadt erfordert.
Die Regelung vieler Sozialämter, bei einer Überschreitung
der Heimkosten von 20 oder 30 % quasi automatisch die Pflegebedürftigen
zu einem Umzug ins Heim zu nötigen, ist nach herrschender Rechtsprechung
unzulässig und mit dem Anspruch nach § 1 Abs. 2 BSHG i.V.m.
Art. 1 GG kaum zu vereinbaren.
Dieses ebenso wenig wie die Forderung vieler Sozialämter die Hilfen
durch Nachbarschaftshelfer über sogenannte „Honorarverträge"
unter Umgehung arbeits- und sozialrechtlich verbindlicher Standards
zu organisieren.
Nach wie vor sind die Sozialhilfeträger die größten
Finanziers illegaler Beschäftigung.
Eine Reform des Pflegerechts sollte im Interesse und unter Beteiligung
der Betroffenen stattfinden und nicht allein von fiskalischen, professionellen
und unternehmerischen Einflüssen geprägt sein. Die Neuschaffung
eines Rehabilitationsgesetzbuches – des SGB IX – mit dem
zentralen Begriff der Teilhabe, hätte die Chance eröffnet,
ein eigenes Assistenzgesetz als leistungsrechtlichen Anspruch für
Behinderte neben den versicherungsrechtlichen Regelungen des SGB XI
zu schaffen. Dieses schien aber mit der Vorgabe einer begrenzten Sachreform
nicht vereinbar. Damit wurde aber die Chance verpasst, eine an den Prinzipen
der sozialen Eingliederung und Teilhabe orientierten Anspruch auf persönliche
Assistenz zu schaffen, der die medizinische Orientierung ablegt und
die Selbstbestimmung der AssistenznehmerInnen in den Mittelpunkt stellt.
Schweden ist diesen Weg gegangen. Dort hat man eine bundesgesetzliche
Regelung zur Finanzierung geschaffen, die den AssistenznehmerInnen die
freie Wahl lässt, die AssistentInnen selbst anzustellen und dafür
ein Unternehmen zu gründen, über eine Assistenzgenossenschaft
zusammen mit anderen die Assistenz zu organisieren, einen privaten Pflegedienst
zu engagieren oder die kommunalen Dienste für die Bereitstellung
der Assistenz in Anspruch zu nehmen. Diese konkurrierenden Optionen
haben die Qualität der Assistenz in kurzer Zeit enorm wachsen lassen.
Hier regelt der Markt besser als jede Qualitätsvereinbarung den
Standard. Dieses wurde aber auch nur erreicht – das muss man ehrlicherweise
sagen – weil die Höhe der Kostensätze sich an dem finanziellen
Niveau orientieren, das der kommunale Träger selbst für seinen
Dienst benötigt. Für diesen Preis können die selbstorganisierten
Assistenzträger allemal bessere Qualität bieten. Leider fehlt
uns in Deutschland ein solcher Vergleichsmaßstab.
Persönliche Assistenz ist mehr als nur irgendeine eine ambulante
Dienstleistung unter anderen. Ihr Konzept beinhaltet den Wechsel von
einem entmündigenden Versorgungsdenken zu der Anerkennung eines
Hilfebedarfes für ein gleichberechtigtes selbstbestimmtes Leben.
Neben dem Sozialstaatsgebot in Art. 20 GG sind ebenso das Diskriminierungsverbot
in Artikel 3 Abs. 3 S. 2 GG wie auch der Schutz der Menschenwürde
durch den Staat in Art. 1 GG berührt. Margalit stellt den Schutz
vor Demütigung an die oberste Stelle.
Eine so reiche Gesellschaft wie die Bundesrepublik Deutschland hat
die Hilfen bereitzustellen, die Behinderten ein selbstbestimmtes menschenwürdiges
Leben ermöglichen. Sonst kann sie nicht für sich beanspruchen,
eine „anständige" Gesellschaft zu sein.