Das finde ich gut!
Arbeitsassistenz behinderter Menschen in der Praxis
Glosse von Sigrid Arnade
In den vergangenen Monaten habe ich mich als Vorstandsfrau eines Netzwerks
behinderter Frauen über manche Projekte der rot-grünen Bundesregierung
gefreut: Zum Beispiel über das Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit
oder über die Novellierung des Schwerbehindertengesetzes. Das Schwerbehindertengesetz
wurde geändert, um die überproportionale Arbeitslosigkeit
behinderter Menschen effektiv zu bekämpfen. Deshalb kam man den
Arbeitgebern entgegen, indem die Beschäftigungsquote von sechs
auf fünf Prozent gesenkt wurde. Die Zustimmung von uns Behindertenverbänden
erlangte man unter anderem durch das „Bonbon", einen Rechtsanspruch
auf Arbeitsassistenz zu verankern. Dann startete das Bundesministerium
für Arbeit und Sozialordnung die Kampagne „50.000 neue Jobs
für Schwerbehinderte".
Dem innovativen Ruck, der danach im Herbst vergangenen Jahres durch
die Gesellschaft ging, mochten wir uns als „Netzwerk behinderter
Frauen Berlin e.V." nicht verschließen. Umgehend schritten
und rollten wir zur Tat und stellten zum 1. November 2000 eine blinde
Mitarbeiterin ein. Und wir beantragten bei der Hauptfürsorgestelle
Berlin eine Arbeitsassistenz, damit die Mitarbeiterin ihre Aufgaben
auch erledigen kann.
Die folgenden viereinhalb Monate erschienen allen Beteiligten zunächst
als harte Prüfung: Obwohl niemand den Bedarf der blinden Mitarbeiterin
an einer Arbeitsassistenz bestritt, waren unzählige Briefe, persönliche
Besprechungen, Krisen- und sonstige Telefonate notwendig, ehe in der
zweiten Märzhälfte 2001 endlich der Bewilligungsbescheid einging.
Während ich in der Zwischenzeit manches Mal haderte oder fast verzweifelte,
glaube ich inzwischen, die Motivation der Hauptfürsorgestelle verstanden
zu haben. Und ich muss sagen: Das finde ich gut! Die Hauptfürsorgestelle
macht nämlich ihrem Namen alle Ehre: In der Hauptsache kommt sie
ihrer Fürsorgepflicht für die behinderten Menschen nach. Und
das bedeutet, dass nicht jeder beliebige Arbeitgeber als Arbeitgeber
für Behinderte akzeptiert wird. Nein, die schwächlichen, wankelmütigen
Arbeitgeber werden durch das langwierige, kräfte- und zeitraubende
Verfahren durch die Hauptfürsorgestelle schnell verschreckt. Solche
Arbeitgeber sind behinderten ArbeitnehmerInnen schließlich nicht
zuzumuten. Nur wenige überstehen diesen Härtetest der Hauptfürsorgestelle.
Aber was übrig bleibt, kann sich sehen lassen: Die Elite der ArbeitgeberInnen,
diejenigen, die trotz aller Widernisse, Hürden und Härten
an ihrem unumstößlichen Willen zur Beschäftigung einer
behinderten Person fest gehalten haben. Auf solche ArbeitgeberInnen
ist Verlass - solchen kann die Hauptfürsorgestelle ihre Schützlinge
getrost anvertrauen.
Also freuten wir uns über die Bewilligung. Als ich sie genauer
durchlas, erblasste ich dann auch noch vor Ehrfurcht: Der Assistenzbedarf
unserer blinden Mitarbeiterin war auf 26,8 Wochenstunden festgelegt
worden. Das sind 26 Stunden und 48 Minuten oder 1.608 Minuten pro Woche.
Obwohl ich gut rechnen kann, glaube ich nicht, dass mir knapp fünf
Monate gereicht hätten, um so etwas Kompliziertes auszurechnen.
Da merkt man doch, wie gründlich die MitarbeiterInnen in Behörden
arbeiten, und das finde ich gut!
Für die gründliche Berechnung eines entsprechenden Bewilligungsbetrages
konnte so natürlich keine Zeit mehr bleiben. Deshalb ist uns wohl
ein pauschalierter Zuschuss von 2.500 Mark monatlich zugestanden worden.
Als wir feststellten, dass wir damit nicht einmal eine Assistenzkraft
nach BAT X bezahlen können, selbst wenn kein Weihnachts- und Urlaubsgeld
gezahlt wird, haben wir noch mal nachgefragt, ob wir etwas falsch verstanden
haben. Im Antwortschreiben wurde uns mitgeteilt, man überlasse
die „Art und Weise der Finanzierung einer Assistenzkraft dem Arbeitgeber".
Ich habe lange darüber nachgedacht und muss sagen, selbst das finde
ich gut, denn auch ArbeitgeberInnen wachsen mit ihren Aufgaben.
Wir mussten uns also etwas einfallen lassen, weil wir das gewährte
Budget nicht aus Vereinsmitteln aufstocken können. Fünf Vorstandsfrauen
und zwei Mitarbeiterinnen opferten ein freies Wochenende und trafen
sich zu einem Kreativ-Workshop, bei dem alles erlaubt war. Einzige Voraussetzung:
als Assistenzkraft kommt kein Mann in Frage, weil wir ein Frauenprojekt
sind.
Zunächst begeisterte uns der Vorschlag, 3,73 Rentnerinnen auf 630-Mark-Basis
zu beschäftigen. Bald wurde uns aber klar, dass es aus räumlichen
und organisatorischen Gründen nicht möglich ist, die Assistenzleistungen
auf mehrere Personen zu verteilen.
Nach einer Phase tiefer Depression erwachte unsere Kreativität
erneut und wir fingen an zu basteln: Die BAT-Tabelle endet mit BAT X
als niedrigster Lohnstufe. Aber muss das immer so bleiben? Nein, sagten
wir uns, klebten BAT XI, BAT XII und BAT XIII an und berechneten dafür
neue Tarife. Je nach Lebensalter der Beschäftigten können
wir einen dieser Löhne zahlen, eventuell sogar noch Weihnachts-
und/oder Urlaubsgeld. Vielleicht kommt die Beschäftigte dann sogar
aus der Sozialhilfe heraus, wahrscheinlich aber nicht. Aber sie hat
Arbeit, und das finde ich zumindest gut.
Eine Tabelle, die man nach unten erweitern kann, kann man auch nach
links erweitern. Also fingen wir wieder an zu basteln. Warum beginnt
die BAT-Tabelle erst mit dem 21. Lebensjahr? Jüngere Frauen und
Mädchen sind doch durchaus arbeitsfähig. Wir rechneten und
klebten also, und schon den 14- bis 15-jährigen Mädchen können
wir jetzt einen Tariflohn bezahlen, für den wir uns nicht mehr
schämen müssen.
Ein wenig verschämt muss ich von einem weiteren Vorschlag berichten.
Ich schwöre, er stammt nicht von mir: Wenn die EU-Osterweiterung
schon Realität wäre, könnten wir sogar zwei Assistentinnen
für jeweils 26,8 Wochenstunden beschäftigen: Zwei neunjährige
Polinnen, die nach BAT XIV bezahlt werden...
Gut, vergessen wir das.
Für die Gegenwart kristallisierte sich als realistischste Perspektive
heraus, eine Frau auf Honorarbasis zu beschäftigen. Wir wissen,
dass sie nicht sozialversichert ist und wir damit gegen das Gesetz zur
Bekämpfung der Scheinselbständigkeit verstoßen. Aber
ich glaube, es wird uns nichts anderes übrig bleiben.
Eine Bitte habe ich noch zum Schluss: Petzen Sie nicht bei Herrn Riester!
Denn die rot-grüne Bundesregierung wollte doch bestimmt nur das
Beste, und genau das finde ich gut!