Bundesgleichstellungsgesetz für behinderte Menschen in Kraft
	          
	          zentrale Feier der Aktion Mensch in Berlin 
        
Am 1. Mai war es endlich so weit: Das lang ersehnte Gleichstellungsgesetz 
          für behinderte Menschen trat in Kraft. Viele der jahrzehntelangen 
          Forderungen wurden manifestiert. 
	          
	          Wer viel gearbeitet hat, muss einen solchen Höhepunkt feiern, meinte 
          die Aktion Mensch (AM) und richtete eine zentrale Feier in Berlin aus. 
          Das Festzelt vor dem Martin-Gropius-Bau, in welchem zeitgleich die Ausstellung 
          „Der imperfekte Mensch" präsentiert wurde, platzte 
          fast aus den Nähten. Über vierhundert Gäste waren der 
          Einladung der AM gefolgt, um Punkt 0.00 Uhr am 1. Mai das neue Gesetz 
          zu begrüßen. 
	          
	          Schon morgens um 11.00 Uhr am 30. April begann es mit einer Pressekonferenz, 
          zu der unerwartet viele MedienvertreterInnen gekommen waren. Am frühen 
          Nachmittag schloss sich der gut besuchte Markt der Möglichkeiten 
          an, auf dem sich verschiedene Selbsthilfeorganisationen präsentierten. 
          Nach einer Umbaupause füllte sich das Zelt dann am frühen 
          Abend sehr schnell zur eigentlichen Feier. Ein Programmpunkt mit Ansprachen, 
          Musik und Podiumsdiskussionen jagte den anderen. Etwas weniger wäre 
          mehr gewesen, meinten viele Gäste, die kaum zum Atemholen, sprich 
          zu Gesprächen mit anderen kamen.
	          
	          Es gab Rückblicke in die Geschichte der Behindertenbewegung, aber 
          auch Ausblicke wie mit dem neuen Gesetz gearbeitAet werden muss, um es 
          mit Leben zu erfüllen. So groß die Freude über das Erreichte 
          ist, so sehr wurde deutlich, dass Landesgleichstellungsgesetze, das 
          Zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetz (ZAG) und ein Assistenzsicherungsgesetz 
          folgen müssen. 
	          
	          Kritische Worte gingen an Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin 
          und ihr Ministerium, da das versprochene ZAG quasi fertig in der Schublade 
          liegt und noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden könnte, 
          wenn das Ministerium nur die entsprechenden Anstrengungen machen würde. 
          Die Grußworte der Justizministerin, die sich für diesen Abend 
          entschuldigte, zielen jedoch nicht in die Richtung. Vielmehr meinte 
          sie, das sei eine Aufgabe der kommenden Legislaturperiode. 
        
 Der lange Weg zur Gleichstellung 
        
Neben vielen anderen Programmpunkten war der Rückblick auf den 
          Weg zum Gleichstellungsgesetz für viele besonders interessant. 
          Ottmar Miles-Paul und Dr. Sigrid Arnade ließen die vergangenen 
          Jahre Revue passieren.
        
 Ein "Ausflug" in die Geschichte:
        
 Anfang der 90er Jahre machte die Kunde von einem tollen Gesetz für 
          behinderte Menschen in den USA die Runde. Zu den ersten, die darauf 
          regierten, gehörten der damalige BSK-Vorsitzende Heinz Preis, der 
          ehemalige Pressereferent Hans-Günter Heiden und der mittlerweile 
          verstorbene Hans Aengenendt. Im März 1990 in Bonn machten sie auf 
          einer Tagung auf die neuen Entwicklungen in den USA aufmerksam. Daraus 
          erwuchsen die Forderungen nach Gleichstellungsgesetzen. Außerdem 
          wurde der Grundstein zur Gründung des „Initiativkreises Gleichstellung 
          Behinderter" gelegt. 
        
Nicht nur moralische sondern auch handfeste pragmatische Unterstützung 
          bekam die Bewegung durch die behinderte amerikanische Bürgerrechtlerin 
          Marilyn Golden aus Berkeley, Kalifornien. Sie besuchte Deutschland ab 
          August 1991 auf Einladung der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben, 
          ISL, fast jährlich und gab wertvolle Tipps und Informationen für 
          die Arbeit.
        
 Berühmt wurde der sogenannte Düsseldorfer Appell anlässlich 
          der Reha-Messe 1991. Der „Initiativkreis Gleichstellung Behinderter" 
          gründete sich. Durch ihn wurden die Forderungen in die Öffentlichkeit 
          transportiert. Ein wichtiger Unterstützer war Keyvan Dahesch, ein 
          blinder Journalist, der keine Gelegenheit ausließ die Aktivitäten 
          in den Medien darzustellen. 
	          
	          Die Bestrebungen gingen sowohl in Richtung Grundgesetzänderung 
          und natürlich zu Bundes- und Landesgleichstellungsgesetzen für 
          behinderte Menschen. Highlights brachten die Europäischen Protesttage 
          für die Gleichstellung Behinderter, von denen der erste 1992 stattfand. 
          Diese Protesttage werden nach wie vor durchgeführt und machen enormen 
          Druck auf die Politik. 
        
 Blick über den Tellerrand
        
 Sehr positiv wirkte sich die neue verbandsübergreifende Zusammenarbeit 
          vieler Behindertenorganisation aus. Daran beteiligten – und beteiligen 
          sich auch heute noch – Organisationen wie der BSK, die ISL, der 
          VdK und der damaliger Reichsbund (heute Sozialverband Deutschland), 
          sowie viele Mitgliedsorganisationen der BAGH und die Wohlfahrtsverbände.
        
 Kurz vor der Bundestagswahl 1994 gelang es gemeinsam, dass der Satz 
          „Niemand darf wegen seiner Behinderung Abenachteiligt werden" 
          in das neue Grundgesetz aufgenommen wurde. Eine ausgezeichnete Anhörung 
          vor der Verfassungskommission im Januar 93 und die besondere Unterstützung 
          durch Hans-Jochen Vogel und vieler anderer PolitikerInnen waren vorausgegangen. 
        
        
 Die Aktion Grundgesetz: Nicht lange danach gründete sich das 
          NETZWERK ARTIKEL 3, NW 3, und der „Initiativkreis Gleichstellung 
          Behinderter" wurde aufgelöst. Das NW 3 widmete sich fortan 
          schwerpunktmäßig der Gleichstellung behinderter Menschen. 
          Die Aktion Mensch – damals noch Aktion Sorgenkind genannt - rief 
          1997 die Aktion Grundgesetz ins leben. Was damals niemand von Aktion 
          Sorgenkind zu hoffen wagte, trat ein: 104 Organisationen der Behindertenhilfe 
          und -selbsthilfe schlossen sich zur wohl größten Bürgerrechtskampagne 
          der Nachkriegszeit zusammen. Der traditionsbeladene, überaus erfolgreiche, 
          aber dennoch längst überholte Name der Aktion Sorgenkind wurde 
          in Aktion Mensch geändert, was ein wichtiges Zeichen setzte. 
	          
	          Die grün-roten Plakate der Aktion Grundgesetz Kampagne säumen 
          seither jedes Jahr die Straßen und Plätze in unzähligen 
          Städten quer durch die Republik. Rund um den 5. Mai finden vielerorts 
          von der Aktion Mensch finanziell und ideell unterstützte Aktionen 
          statt. Diese Aktionen zeichnen sich durch ungeheuere Vielfältigkeit 
          und Kreativität aus. Und sie wirkten: 
        
Die neugewählte rot-grüne Koalition nahm 1998 die Schaffung 
          eines Gleichstellungsgesetzes in den Koalitionsvertrag auf.
        
 Der Gesetzentwurf
        
 Nach der Verabschiedung des Berliner Landesgleichstellungsgesetzes 
          keimte dieA Hoffnung, die Regierung würde sich nun an die Arbeit 
          machen und ein Bundesgleichstellungsgesetz schaffen. Doch der Schein 
          trog. 
        
„Wenn die nicht wollen, müssen wir wohl ran", war 
          wohl die zutreffende Meinung des Forums behinderter Juristinnen und 
          Juristen. Es war harte Arbeit, doch Anfang 2000 präsentierten Dr. 
          Andreas Jürgens, Horst Frehe und Co. einen ersten Gesetzesentwurf. 
          Dieser wurde dann auch zur Grundlage für das Gleichstellungsgesetz.
        
 Unvergessen für die rund 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmer bleibt 
          der Gleichstellungskongress im Oktober 2000 auf der REHAcare in Düsseldorf. 
          Unter dem Motto „Gleichstellung jetzt" wurden im Rahmen 
          von Podiumsdiskussionen und Workshops die Forderungen und Positionen 
          der Beteiligten herausgearbeitet und präsentiert. Das Engagement 
          des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Behinderten, 
          Karl-Hermann Haack, und seines Teams waren unerlässlich für 
          den Erfolg dieser wichtigen Veranstaltung, an der auch Wirtschaftsverbände 
          teilnahmen.
	          
	          Noch war „Sand im Getriebe", denn selbst als die Legislaturperiode 
          zur Hälfte herum war, wusste noch niemand, welches Ministerium 
          denn nun für das Gleichstellungsgesetz zuständig sei. 
        
Ein grün gestrichener Bus kurvte ab Frühjahr 2001 für 
          mehrere Monate durch Berlin. Auf ihm und im Internet wurden die Tage, 
          die noch zur Schaffung des Gleichstellungsgesetzes blieben, rückwärts 
          gezählt. Er erinnerte unübersehbar die Politikerinnen und 
          Politiker daran, endlich ihre „Hausaufgaben" zu machen. 
          Um auch den „ganz Vergesslichen" stets vor Augen zu haAlten, 
          um was es geht, bekam jeder Abgeordnete eine Miniaturausgabe des grünen 
          Aktionsbusses für seinen Schreibtisch.
        
 Die Beharrlichkeit sollte letztendlich Früchte tragen. Als absolutes 
          Novum wurden Andreas Jürgens und Horst Frehe ins Bundesarbeitsministerium 
          berufen. Ihre Aufgabe war es, am endgültigen Gesetzentwurf mitzuarbeiten. 
          Im November 2001 wurde das Gesetz in den Bundestag eingebracht.
	          
	          Das Gesetz unter der Knute von Karl Hermann Haack und der Leitung von 
          Norbert Paland wurde nun in einem rasanten Tempo vorangetrieben und 
          schließlich im November 2001 in den Bundestag eingebracht und 
          am 28. Februar 2002 vom Bundestag verabschiedet.
        
 Das große Zittern
        
 Nun begann das letzte große Zittern. Das Gleichstellungsgesetz 
          musste noch vom Bundesrat verabschiedet werden. Dieser hatte noch etliche 
          Bedenken, die jedoch weitestgehend ausgeräumt werden konnten. Wäre 
          das nicht der Fall gewesen, hätte das Gesetz in den Vermittlungsausschuss 
          gemusst. Dann wäre der Traum vom Gleichstellungsgesetz noch in 
          dieser Legislaturperiode zu Zeitgründen ausgeträumt gewesen.
	          
	          Am 22. März 2002 sollte das Gesetz den Bundesrat passieren. Das 
          tat es auch. Allerdings von vielen unbemerkt, denn die Medien hatten 
          genug damit zu tun, vom „Kasperletheater" wegen des Zuwanderungsgesetzes, 
          das zuvor im Bundesrat behandelt wurde, zu berichten. So wurde das für 
          behinderte Menschen so wichtige Gesetz von der breiten Öffentlichkeit 
          fast unbemerkt verabschiedet. Abschließend sei dem Deutschen Behindertenrat 
          für seine intensive und konstruktive Lobbyarbeit gedankt, die viel 
          zum Erfolg beigetragen hAat.
	          
	          Nun liegt es an den behinderten Menschen und ihren Organisationen, die 
          Instrumente des Gesetzes einzusetzen und es zu beleben. Nur so kann 
          es seiner Bestimmung gerecht wird, nämlich die Gleichstellung behinderter 
          Menschen in seinem Zuständigkeitsbereich zu sichern.
        
 Zusammenfassung
        
 Die Stationen auf dem Weg zum Gleichstellungsgesetz
      
        
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          1991 Düsseldorfer Appell und Gründung des Initiativkreises 
            Behinderter
        
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          1992 Erster Europäischer Protesttag zur Gleichstellung behinderter 
            Menschen
        
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          1994 Ergänzung Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes um den 
            Halbsatz „..niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt 
            werden"
        
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          1997 Die Aktion Grundgesetz startet mit 104 unterstützenden 
            Organisationen
        
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          1998 Die Schaffung eines Gleichstellungsgesetzes wird in den Koalitionsvertrag 
            aufgenommen
        
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          2000 Im Frühjahr legt das Forum behinderter Juristinnen und 
            Juristen einen ersten Gesetzentwurf vor
        
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          2000 Im Oktober findet der Kongress „Gleichstellung jetzt" 
            im Rahmen der Düsseldorfer REHACare mit rund siebenhundert Teilnehmern 
            statt
        
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          2001 Für mehrere Monate fährt der grüne Aktion-Grundgesetz-Bus 
            als rollendes Mahnmal unübersehbar durch Berlin
        
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          2001 Im November wird das Gesetz in den Bundestag eingebracht
        
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          2002 Am 28. Februar passiert das Gesetz den Bundestag
        
-  2002 Am 22. März stimmt der Bundesrat zu 
-           2002 Am 1. Mai tritt das Gesetz in Kraft!