Leben im Heim
Referat von Claus Völker
anlässlich einer Schulung von Mitarbeitern in der Heimaufsicht
Kein Mensch will ohne Not in ein Heim umziehen. Jeder, der nicht in
einem Heim lebt und über Heime redet, sollte mal versuchen, sich
in einen Heimbewohner hinein zu denken und sich in ihn einzufühlen.
Stellen Sie sich - auch wenn's Ihnen schwer fällt - vor, aufgrund
eines Unfalles müssten Sie zum nächsten Monatsersten in ein
"Heim für Körper- und mehrfach Behinderte" ziehen:
- Alleine können Sie ohne Assistenz nicht leben.
- Die Kosten eines Lebens in der eigenen Wohnung mit notwendiger Unterstützung
ist für Sie zu teuer. Das geben Ihr Einkommen und Ihrer Ersparnisse
nicht her. Der Sozialhilfeträger hat die Übernahme der errechneten
Kosten abgelehnt. Ihr Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid wurde
als unbegründet zurückgewiesen. Auch das Verwaltungsgericht
hat Ihrer Klage nicht stattgegeben. Sie haben resigniert und legen keiner
Berufung beim nächst höheren Gericht ein, weil Sie nicht daran
glauben, dass dort für Sie anders und positiv entschieden wird.
- Die Familie ist völlig überfordert und fühlt sich auch
so. Als Ausweg wird nur noch ein Heim gesehen.
- Und nehmen wir an, es ist ein durchschnittliches Heim, das nicht weiter
auffällt, weder positiv durch besonders engagierte Mitarbeiter,
noch negativ durch irgendwelche Schlagzeilen ("Dekubitus"
usw.).
Die Heimaufnahme signalisiert Ihnen, dass es zunächst oder überhaupt
kein Zurück mehr gibt.
Der Heimaufenthalt ist meistens noch immer - anders als in Krankenhäusern
oder im Gefängnis - nicht zeitlich befristet, sondern geht in Richtung
lebenslängliches "open end".
Sie müssen sehr viel aufgeben, was bisher Ihr Leben ausgemacht
hat. Überlegen Sie bitte, was Ihnen besonders schwer fallen würde,
z.B.
- Sie müssen die eigene Wohnung aufgeben.
- Sie haben nur noch ein Zimmer (evtl. mit Nasszelle).
- Sie haben keinen eigenen Schlüssel (das Zimmer lässt sich
von innen durch Drehknopf schließen), das Personal hat aber jederzeit
Zugang (auch wenn die Höflichkeit durch Anklopfen gewahrt wird).
- Es gibt eine feste Ordnung für den Tagesablauf, die sich nach dem
Dienstplan richtet.
- Es gibt feste Essenszeiten.
- Sie haben nicht mal einen eigenen Kühlschrank (wo wollen Sie den
auch in einem 12 qm kleinen Zimmer aufstellen?).
- Sie essen jetzt immer mit anderen zusammen.
- Sie leiden an Einschränkungen in Ihrer Freizeit (mit Ihrer schönen
Modelleisenbahn können Sie nicht mehr spielen; wo wollen Sie die
denn aufbauen ?).
- Sie haben viel weniger Platz für private Sachen (Sie können
nur einen Bruchteil Ihrer lieb gewonnenen Habe mitnehmen).
- Ihr Freundeskreises hat sich verändert. Manchmal denken Sie, es
gibt überhaupt keine wahren Freunde.
- Besuche werden geringer.
- Sie dürfen Ihren Hund nicht mitnehmen.
- Beim Verlassen des Heimes müssen Sie sich abmelden und bei der
Rückkehr wieder anmelden.
- Es wird Buch über Sie geführt (sog. Dokumentation).
- Sie haben das Gefühl, dem Personal irgendwie ausgeliefert zu sein.
Vielleicht ist es ein Heim, in dem man meint, man müsse noch mit
weißen Kitteln herumlaufen. Zumindest muss man sich irgendwie arrangieren. Sie wissen ja, dass
Sie deren Unterstützung brauchen.
Auch bei der Intimpflege nimmt man - aus zeitlichen Gründen und
Gründen des Dienstplanes - auf Ihren Wunsch, nicht vom andern Geschlecht
gepflegt zu werden, keine Rücksicht. Vieles an Lebensqualität bleibt auf der Strecke!
Stellen Sie sich weiter vor: Sie leben nicht mehr im Umfeld Ihrer Familie,
Dafür spricht jetzt die Heimleiterin von "großer Familie".
Das kennt man ja. Wenn ein Leiter, ein Vorgesetzter schon von "großer
Familie" spricht, zuckt man immer zusammen. Man überlegt,
welchen Part man da wohl einnimmt. Sicher nicht den des Haushaltsvorstandes.
Eher der kleinere Bruder oder die kleinere Schwester, der/die um jeden
Zollbreit kämpfen, tricksen und betteln muss.
"Du musst!" "Du sollst nicht!" "Du darfst nicht!"
"Später! Jetzt hab' ich keine Zeit für Dich." "Du
hast immer Sonderwünsche!"
oder:
"Heute hast Du aber brav Deinen Spinat gegessen!" "Wenn
Du den Rest des Tages brav in Deinem Zimmer spielst und dann fein aufräumst,
lese ich Dir heute Abend vielleicht eine Geschichte vor."
Glauben Sie bloß nicht, in den meisten unserer Heime läuft
das viel anders ab. Das Heim kann - trotz mancher Ähnlichkeiten - die positiven Merkmale
einer Familie nicht ersetzen: Dieses natürlich gewachsene Zugehörigkeitsgefühl,
die Bindungen und der Zusammenhalt der eigenen, vertrauten Familie sind
etwas gänzlich anderes als das notwendige Arrangement im Heim.
Das Heim kann bestenfalls eine Art schützende Gemeinschaft sein,
kann etwas Geborgenheit und Sicherheit vermitteln, mit unterschiedlicher
Rollen- und Aufgabenverteilung.
Einige Beispiele:
- Sie werden - ohne gefragt worden zu sein ("bei uns ist das halt
so") - geduzt, beim Vornamen genannt.
- Sie kriegen die Medizin von der Schwester und werden wie ein unmündiges
Kind behandelt: "So, jetzt nehmen wir aber ganz brav unsere Medizin
ein."
- Ein Mitarbeiter behandelt Sie recht burschikos, ein anderer brummig,
eine andere geht Ihnen mit gar zu kindisch-liebevoller Art auf die Nerven.
- Sie werden immer unselbständiger, fragen bei jeder kleinen Angelegenheit,
was Sie tun sollen.
Mitarbeiter glauben in ihrer Familienrolle, dass Sie ihre Gunst oder
Leistungen, auf die Sie - der Bewohner aufgrund Heimvertrag und Ihrer
Rechte - einen Anspruch haben, als Belohnung oder Strafe einsetzen dürfen.
Auch Gefahr der Abhängigkeitsbeziehung!
Sie stellen sich einige Fragen:
- Kann das Heim wirklich mal mein Zuhause werden?
- Kann das Heim wirklich mal meine Familie ersetzen?
- Halte ich auf Dauer dieses Zusammenleben mit so vielen anderen, fremden
und unterschiedlichen, zum Teil recht unsympathischen Menschen aus?
Gut, irgendwann haben Sie
- sich eingelebt,
- sich angepasst,
- gelernt, auf Vieles zu verzichten
- gelernt, mit der Perspektive zu leben, die nächsten Jahre oder
gar Jahrzehnte in einem Heim verbringen zu müssen.
Sie
- wissen, mit wem vom Personal Sie gut auskommen, mit welchen Betreuern
Sie nicht so gut können und kennen die, die Sie nicht leiden können
(und umgekehrt)
- leiden nicht mehr am Heimmief.
- nehmen die 3 Mahlzeiten, auf deren Zubereitung Sie so gut wie keinen
Einfluss haben, mit stoischer Gleichgültigkeit (insgesamt schmeckt
es ja gar nicht übel) zu sich,
- machen das Tagesprogramm mit, das sich hier Beschäftigungstherapie
nennt. Es ist Ihnen mittlerweile wurscht, dass Sie Papierblumen basteln
oder mit der Laubsäge kindische Figuren aussägen und bunt
bemalen.
- nehmen es gleichmütig hin, dass Ihre Angehörigen und Freunde
Sie nun noch seltener besuchen.
- haben sich auch daran gewöhnt, dass das Personal meistens nur
sehr wenig Zeit für Sie hat (außer der Grund- und Behandlungspflege
usw.)
Ein Tag gleicht dem anderen.
Die Wochenenden sind anders - langweiliger, weil der Ergotherapeut nicht
da ist und das Personal dünner eingesetzt ist. Nur an den Feiertagen,
vor allem aber an den Tagen der offenen Tür, da geht es munter
und lebhaft zu: Da taucht mal ein Würdenträger, ein Politiker
auf, alle möglichen Leute wuseln durchs Haus. Alles riecht frisch
gebohnert, alle Gesichter strahlen. Alle sind ja so glücklich,
dass unsere behinderten Mitbürger so gut versorgt sind - und man
sich vor allem nicht selbst um sie kümmern muss. Und auch Sie werden
sich hüten, nicht freundlich zu lächeln.
Schnell ist wieder Alltag. Die Zeit geht dahin: Inzwischen mussten Sie
in ein Doppelzimmer umziehen, weil das bisschen Vermögen, das Sie
mal hatten, bei monatlichen Heimkosten von 3000 € längst aufgebraucht
ist.
Stellen Sie sich den Alltag unter diesen neuen Bedingungen (DZ) vor:
- Ihr Nachbar schnarcht nachts.
- Er leidet unter Blähungen (d.h. er hat die Blähungen und
Sie leiden darunter).
- Der schmatzt, wenn er abends im Bett liegt und dann die Schokolade
aus dem Nachtschrank geholt hat.
- Er hat einen penetranten Schweißgeruch.
- Sein fürchterlicher Ordnungsfimmel regt Sie auf. Dauernd ist der
dabei, irgendwas zu richten, zurechtzurücken, zu entsorgen. Und
er nölt dauernd an Ihnen herum, weil Sie seiner Meinung nach ein
Schlamper sind.
- Er will, dass das Fenster wenigstens gekippt ist. Ein Frischluftfanatiker!
Sie vertragen keinen Luftzug.
- Wenn Sie Besuch haben, dann hat der ständig im Zimmer was zu schaffen.
Sie wissen, dass er bloß neugierig ist. Aber wohin mit dem Besuch?
Gibt ja keinen Ort, wo Sie ungestört mit Ihrem Besuch reden und
lachen oder weinen können.
- Sexualität! Der hat seinen Sexualtrieb nicht an der Pforte abgegeben,
und in der Nacht befriedigt er sich in seinem Bett selbst. So leise
er das auch macht: die Geräusche gehen Ihnen auf die Nerven.
Und wie ist es mit Ihrer Sexualität? Wo, wann? Plötzlich
ist das ein Tabu geworden. Davon will keiner was wissen. Im Heim ist
eben alles anders.
Schließlich haben Sie sich auch an das Leben im DZ gewöhnt.
Und eines Tages geschieht ein Wunder: Die Heimaufsicht kommt!
Am schwarzen Brett hängt ein Zettel aus. Darauf steht u.a., die
Heimaufsicht möchte sich auch mit den Bewohnern unterhalten. Sie
fiebern auf diesen Tag, sind neugierig, was die wohl unternehmen. Und
Sie überlegen, ob Sie diese Leute mal ansprechen sollten.
Zwar kommen Sie zum Ergebnis, dass Sie es hier aushalten können.
Aber es gibt so viele Dinge, die man hier verbessern müsste. Sie
erleben die dann, vertraut im Gespräch mit der Heim- oder Pflegedienstleitung,
durch die Flure tappen. Einer hat einen Schreibblock und einen Kuli
dabei und trägt mit wichtiger, ernster Miene ein. Sie begegnen
dem Tross - wie zufällig - vor Ihrem Zimmer: Und schon werden Sie
angesprochen. Man stellt sich Ihnen vor, erklärt, was man macht.
Schwester Hildegard (HL) sagt:
"Hallo, das ist unser Otto. Der hat sich hier ganz gut eingelebt,
ist seit einem Jahr da. Stimmt doch, gell, Otto?"
Stimmt natürlich nicht. Es sind schon fast 2 Jahre.
Und dann spricht Sie der/die von der Heimaufsicht an, fragt, wie es
Ihnen gefällt.
Was werden Sie wohl antworten?
"Mir geht's gut hier. Und die bemühen sich alle so um mich."
Das bringt Ihnen nämlich ein Freudestrahlen auf Schwester Hildegards
Gesicht ein. Sie benehmen sich wie ein braves Kind.
"Gell, Otto, Du lässt uns mal Euer Zimmer sehen. Ja? Danke
Dir, Otto. Er teilt sein Zimmer mit Bernd. Der ist in der Arbeitstherapie
- ach nein, der ist ja doch da!"
Bernd nämlich hat sich aus irgendeinem Grund ins Bett gelegt. Nun
kümmert man sich um den, will ihn zum Aufstehen ermuntern (man
ist im Heim ja ganz stolz auf den durchstrukturierten Tag). Was macht
denn das für einen Eindruck auf die Heimaufsicht, wenn der Bernd
faul im Bett liegt?
Um Sie kümmert man sich nicht mehr. Und Sie sind erleichtert. Hätten
Sie sich wirklich getraut, offen zu sagen, was Ihnen hier stinkt?
(Abschließend erfolgt ein wunderbarer fachlicher Meinungsaustausch
zwischen der Heimaufsicht und der Heimleitung.)
Sichtbare Änderungen?
- die Kloschüssel wird erneuert,
- Seifenspender werden ausgewechselt;
- die Zimmertüren werden mit Namensschildern versehen,
- zweiter Handlauf im Treppenhaus wird angebracht.
An der Atmosphäre hier im Haus ändert sich nichts, manche
Pfleger dürfen immer noch die Bewohner anschnauzen, die Heimleiterin
ist eh nie zu sprechen, der gemeinsame Stadtgang entfällt für
April, weil das Personal die Osterdekoration kurz vor dem Nachschautermin
anbringen musste und jetzt Ãœberstunden abfeiern muss.
Auch nach dem Besuch der Heimaufsicht geht das Leben unverändert
weiter. Es plätschert so dahin. Sie halten es hier inzwischen aus,
sind irgendwie froh, versorgt zu werden. Sie werden aber vielleicht
auch immer ängstlicher, nach draußen zu gehen. Sie werden
vielleicht menschenscheu, haben Berührungsängste vor denen
da draußen. Sie fühlen sich im Grunde nur noch dann sicher,
wenn Sie vom Personal begleitet werden. Vielleicht haben Sie auch ein
besonders eindrucksvolles Erlebnis in unserer Gastronomie gehabt und
sind wie ein Aussätziger behandelt worden. Oder man hat Ihnen unmissverständlich
klar gemacht, dass Sie dort nicht erwünscht sind.
Ist es so unverständlich, dass Sie immer stiller werden, sich zurückziehen
wollen von der Welt da draußen?
Sie finden ja keinen Arbeitsplatz mehr. Sie schaffen einfach keinen
Fulltimejob mehr, halten ihn nicht mehr durch. Auch in der WfB - Ihnen
von Anfang an ein Gräuel - können Sie nicht arbeiten, denn
Sie brauchen mehrmals am Tag besondere Hilfeleistungen, leiden evtl.
unter häufigen epileptischen Anfällen. Also helfen Sie beim
Tischdecken und solchen Dingen mit (das macht wenigstens Sinn) und lassen
die Beschäftigungstherapie über sich ergehen. Wenigstens ist
dann der Tag nicht so lang und leer.
Sie fühlen, dass Sie nicht mehr gebraucht werden. Dass Sie keinen
eigenen Verantwortungsbereich mehr haben.
Wundert es da wirklich noch jemanden, wenn man sich immer weniger zutraut,
kein Selbstbewusstsein mehr hat, zunehmend lustlos, antriebsarm wird
und alles nur noch irgendwie geschehen lässt? Das ist ein Zustand,
in dem man schnell depressiv werden kann.
Heimleben ist - und wenn sich das Personal noch so sehr bemüht,
noch so engagiert ist - eine Gegenwelt.
Es gibt sie nun mal, diese sogenannten institutionsimmanenten Nachteile
und Eigenarten von Heimen. Und es ist die größte Herausforderung
für Heimleitung und Personal, diese Nachteile einigermaßen
erträglich zu machen.
Und deshalb ist es auch für die Heimaufsicht so wichtig, hinter
die Fassaden zu blicken, hineinzugucken, Atmosphäre zu schnuppern,
auf den Umgangston, die Konzeption und deren Umsetzung und darauf zu
achten, dass ein Heim nach gewissen fachlich anerkannten Standards arbeitet.
Das ist mehr, als mit der HeimMindBauV durch die Zimmer und Fluren zu
rennen und Handläufe, Waschbecken oder andere - unbestritten ebenfalls
wichtige - Dinge zu zählen.
Und es ist mindestens ebenso wichtig, auch darüber nachzudenken,
ob es nicht andere Betreuungsformen gibt, in denen der Mensch mit Behinderung
selbständiger wohnen kann.
Heimleben ist nicht normales Leben!
Heimleben heißt, Entbehrungen zu ertragen.
Heimleben kann - trotz noch so guten und engagierten Personals - bisweilen
unerträglich sein!
Würzburg, Oktober 2001
Claus Völker
Regierung von Unterfranken
Heimaufsicht