INFORUM: Ausgabe 4/2002 (Textauszug)
kobinet-nachrichten vom 20.11.02
Großes Interesse an schwedischem Assistenzmodell
Der Besuch des „Selbstbestimmt Leben Papstes", Dr. Adolf
Ratzka aus Schweden stößt in Würzburg auf großes
Interesse. Unter dem Titel „Wie viel Hilfe braucht ein Mensch"
fand im Würzburger Zentrum für selbstbestimmtes Leben Behinderter
eine erste Fortbildung mit Adolf Ratzka und Elke Bartz statt.
Die erste Veranstaltung mit Dr. Adolf Ratzka aus Schweden, der zur
Zeit auf Einladung des Forums selbstbestimmter Assistenz behinderter
Menschen - ForseA e.V. - und des Würzburger Zentrums für selbstbestimmtes
Leben Behinderter Deutschland besucht, stieß in Würzburg
bereits auf großes Interesse und brachte die verschiedenen Akteure
im Bereich Assistenz zusammen. Im Rahmen einer Fortbildung unter dem
Motto „Wie viel Hilfe braucht ein Mensch" wurde in Würzburg
am 19.11.02 schon heftig diskutiert und trafen die verschiedenen Herangehensweisen
in Schweden und Deutschland aufeinander.
„Wenn wir nicht wollen, dass unsere Wohnungen zum Krankenhaus
werden, müssen wir Betroffenen selbst entscheiden können,
wer uns wann, wo und wie assistiert", so die These von Dr. Adolf
Ratzka, der selbst mit Assistenz lebt und ein Atemgerät nutzt.
Auch wenn in Schweden nicht alles Gold sei, was glänze, sei es
dort mit dem Assistenzgesetz gelungen, wichtige Grundlagen für
eine menschenwürdige und selbstbestimmte Assistenz zu schaffen.
Dort habe man es laut Ratzka nur mit einem Leistungsträger zu tun und müsse
nicht ständig neue Anträge stellen und neue Begutachtungen über sich
ergehen lassen. Die Bedarfsermittlung für die Assistenz finde in der Regel
in einem vertrauensvollen Gespräch zwischen dem Leistungs-berechtigten und
Kostenträger statt und sei nicht von vorne herein von der Grundannahme geprägt,
dass die Betroffenen nur abzocken wollten. „Auf dieser Basis entwickelt sich
ein ganz anderes Verhältnis und ist Selbstbestimmung wesentlich besser möglich,
als wenn man unter ständigem Rechtfertigungsdruck steht und von Heimeinweisung
bedroht ist", so Ratzka.
Demgegenüber machte Elke Bartz während der Schulung von Betroffenen
und MitarbeiterInnen in Servicestellen das hiesige Dilemma der AssistenznehmerInnen
deutlich. „Im Extremfall haben es AssistenznehmerInnen mit bis
zu sieben Kostenträgern und unzähligen Begutachtungen zu tun.
Dabei stehen diese oftmals unter enormem Druck, denn hierzulande wird
in der Regel davon ausgegangen, dass die Betroffenen das Größtmögliche
rausschlagen wollten. Dabei zeigt die Praxis eindeutig, dass von vielen
der Hilfebedarf eher viel zu niedrig beurteilt wird", so die Vorsitzende
des Forum selbstbestimmter Assistenz, Elke Bartz, die die Schulung zusammen
mit Adolf Ratzka durchführte. (omp)
Die Schwedische Assistenzreform von 1994
Beitrag zur Podiumsdiskussion in Würzburg, 21. November 2002
Dr. Adolf Ratzka Institute on Independent Living
www.independentliving.org
www.independentliving.org/ratzka.html
Zu meiner Person
Ich komme ursprünglich aus Bayern, bekam im Alter von 17 Jahren
Polio, verbrachte 5 Jahre in Krankenhäusern aus Mangel an rollstuhlgerechten
Wohnungen und praktischen Hilfen im Alltag. 1966, im Alter von 22 Jahren,
bekam ich die Möglichkeit direkt vom Krankenhaus in München
in ein Studentenwohnheim in Los Angeles zu ziehen um dort zu studieren.
Mit elektrischem Rollstuhl und Beatmungsgerät, ohne Familie oder
Bekannte im neuen Land.
Durch eine Sonderlösung bezahlte mir der bayrische Staat über
das deutsche Konsulat alle meine Kosten inclusive meiner Hilfsmittel,
die ich mir selbst nach meinem eigenen Urteil aussuchte und anpassen
ließ. Vor Allem aber hatte ich Geld für ausreichende persönliche
Assistenz. Mit dem Geld bezahlte ich Mitstudenten als Assistenten, die
ich selbst anstellte und anlernte. Ich war der Chef.
Verglichen mit dem Patientendasein im Krankenhaus führte diese
Lösung eine Reihe von für mich umwälzenden Veränderungen
mit sich:
Es gab keine Leute in weißen Uniformen und pflegerischen Berufen
mehr, die meinen Tagesablauf bestimmten und über mich verfügten.
Niemand, der mich ”betreute” und ”versorgte”.
Ich war nicht mehr Patient, sondern Arbeitgeber. Nicht mehr Objekt,
sondern Subjekt. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich die reellen
Voraussetzungen, die volle Verantwortung für mein Leben zu übernehmen
wie andere Gleichaltrige auch. Diese Erfahrung hat meine persönliche
Entwicklung und meine spätere Arbeit stark geprägt.
1973 kam ich nach Schweden um Material für meine Doktorarbeit zu
sammeln. In den folgenden Jahren arbeitete ich in Stockholm als Forscher
mit Fragen des Universal Designs im Wohnungsbau und dem Abbau von Einrichtungen.
In den 80er Jahren importierte ich die internationale Independent Living-
Bewegung - Selbstbestimmt Leben - nach Schweden und gründete die
Stockholmer Genossenschaft für Independent Living, STIL, die erste
europäische persönliche Assistenzgenossenschaft, deren Arbeit
als Modell für die schwedische Assistenzreform von 1994 diente.
Seit 1994 bin ich Chef des Instituts für Independent Living, in
dem wir versuchen die Behindertenpolitik in Schweden und in Europa durch
Pilotprojekte voranzutreiben. Dass ich übrigens jetzt, nach bald
30 Jahren, immer noch in Schweden wohne und arbeite, hat unter anderem
mit dem Thema des heutigen Abends zu tun.
Nationale Vergleiche sind gefährlich
Um es vorwegzunehmen, Schweden ist kein Paradies weder für nicht-behinderte
noch für behinderte Menschen. In allen Vergleichen mit der restlichen
Bevölkerung schneiden wir Behinderte schlechter ab: ob Ausbildung,
Arbeit, Wohnen, Einkommen, Freizeitmöglichkeiten, soziale Kontakte,
Teilnahme am öffentlichen Leben, Familien bilden, psychisches Wohlbefinden
- laut offizieller Statistik sind wir schlechter daran als die Durchschnittsbevölkerung.
Ich kann in Stockholm, wo ich wohne, immer noch keinen Bus benutzen;
die überwältigende Mehrzahl der Geschäfte, Restaurants,
Arbeitsplätze ist nicht für alle gebaut. Noch immer sieht
man kaum Menschen mit Behinderungen in hohen Ämtern, Politik, Wirtschaft,
Wissenschaft, Kultur oder Medien.
Dass es dabei Menschen mit Behinderungen in Schweden besser geht als
in vielen anderen Ländern ist für uns in Schweden uninteressant.
Sollten wir uns denn mit unserem jetzigen Zweiter-Klasse-Status zufrieden
geben, nur weil es uns immer noch besser geht als Menschen mit Behinderungen
in Uganda? Wir leben hier und jetzt und der einzig relevante Vergleich
ist der mit den Lebensbedingungen und Möglichkeiten unserer nicht-behinderten
Geschwister, Nachbarn und Freunde. In diesem Vergleich schneiden wir
erbärmlich ab. In Schweden und anderswo.
Aber jetzt zum Thema des heutigen Abends, der persönlichen Assistenz.
Ich beschreibe das schwedische System anhand meiner eigenen Situation.
Ich habe im Durchschnitt 18 Stunden Assistenz pro Tag. Das wurde in
einem Gespräch zwischen mir und der Sachbearbeiterin am örtlichen
Büro der staatlichen Sozialversicherung festgestellt. Ich schlug
die Stundenanzahl vor und beschrieb, wie ich dazu kam. Ein allgemeines
ärztliches Attest, das Ursache und Ausmaß meiner Behinderung
erwähnt, hatte ich dabei. Die medizinischen Aspekte haben jedoch
eine untergeordnete Rolle, denn laut Gesetz bestimmt die ganze Lebenssituation
den Assistenzbedarf. Es gibt keine obere Grenze für den täglichen
Stundenbedarf. Ich kenne Kollegen, die 27 Std. Assistenz am Tag bewilligt
haben, weil sie manchmal zwei Assistenten gleichzeitig brauchen.
Ich bin verheiratet; unsere Tochter ist jetzt 8 Jahre alt. Meine Frau
und ich sind berufstätig. Laut Gesetz soll mir meine Assistenz
die in der schwedischen Gesellschaft übliche Arbeitsteilung zwischen
den Ehepartnern ermöglichen. Ich kann also meine Assistenten dazu
einsetzen, mir beim Von-der-Schule-Abholen, beim Einkaufen, Kochen,
Putzen, etc. zu helfen. Einfache Arbeiten oder Reparaturen am Haus und
im Garten lasse ich auch von ihnen machen - also alles, was ich selbst
erledigen würde, wenn ich nicht behindert wäre.
Am Arbeitsplatz helfen mir die Assistenten, meine Papiere in Ordnung
zu halten, zu fotokopieren, abzuheften, Sachen auf die Post zu bringen,
mich bei Terminen zu begleiten und mich gegebenenfalls hinzufahren,
falls ich nicht selbst mein angepasstes Auto fahre. Eine der wichtigsten
Funktionen meiner Assistenten ist die Reisebegleitung. Als Chef des
Instituts für Independent Living bin ich oft unterwegs - ich hatte
Jahre mit über 100 Reisetagen. Da meine Frau ihren eigenen Beruf
hat, verreisen wir nur im Urlaub zusammen und auch da nehme ich einen
Reiseassistenten mit, damit wir möglichst die gleiche Unabhängigkeit
wie andere Familien haben können. Für die Reisekosten des
Assistenten habe ich ein Budget für Flugtickets, Hotelzimmer, Mahlzeiten,
Eintrittskarten, etc.
Ich habe z.Zt. etwa zwölf Assistenten – meine Frau ist übrigens
auch dabei, denn es kommt manchmal vor, dass ich nachts etwas brauche
und da finden wir es beide besser, wenn sie mir hilft, als dass ein
Assistent im Gästezimmer schläft, den ich bei Bedarf wecke.
Fünf Assistenten arbeiten nach einem Wochenschema, die restlichen
habe ich als Reserve.
Der Arbeitgeber meiner Assistenten ist die von mir in den 80er Jahren
gegründete Genossenschaft STIL. Wir sind derzeit 250 Mitglieder.
Darunter sind Kinder, Menschen mit geistigen Behinderungen, ältere
Leute – gemeinsam ist nur der Bedarf von persönlicher Assistenz.
Zusammen beschäftigen wir über 1000 Assistenten. Laut Satzung
dürfen nur Menschen mit Bedarf von persönlicher Assistenz
im Vorstand der Genossenschaft sitzen. Der Geschäftsführer
und ein großer Teil der Büroangestellten - vor allem die
sogenannten Peer Support Mitarbeiter - sind behindert und meist selbst
auf persönliche Assistenz angewiesen. Die Genossenschaft wird vom
mir beauftragt, die Gehälter meiner Assistenten auszubezahlen,
andere damit verbundene Verwaltungsarbeiten zu übernehmen und meine
Interessen gegenüber der Sozialversicherung – auch rechtlich
wenn nötig - zu verteidigen. Die Genossenschaft hat jedoch nichts
mit der Beschaffung von Assistenten zu tun: wir haben keine gemeinsame
Assistenten, jedes Mitglied muss sich selbst seine Leute suchen. Nur
so kann man die größtmögliche Selbstbestimmung der einzelnen
Mitglieder stärken. Aber die Genossenschaft hilft neuen und alten
Mitgliedern in ihren Aufgaben durch Kurse und Peer Support - also gegenseitiges
Lernen und Unterstützen durch Gleichgestellte.
Die Mitglieder bekommen ihre Gelder für die Assistenzkosten monatlich von der
Sozialversicherung. Jedes Jahr im Dezember setzt die Regierung die Höhe des
Stundensatzes für das darauffolgende Jahr fest. Für 2002 beträgt
er ungefähr 21 Euro . Ich bekomme also einen monatlichen Betrag von 18 Std
x 31 Tagen x 21 Euro. Damit bezahle ich die direkten und indirekten Lohnkosten meiner
Assistenten und die Verwaltungskosten der Genossenschaft. Was übrigbleibt kann
ich für die Reisekosten meiner Assistenten benutzen.
Diese Gelder werden an mich ausgezahlt. Jedes Monat muss ich nachweisen,
wie viele Stunden meine Assistenten gearbeitet haben. Ungenutzte Beträge
werden verrechnet. Die Beträge sollen meinen Assistenzbedarf in
vollem Umfang decken - nicht nur einen Teil. Außerdem ist die
Höhe der Beträge unabhängig vom Einkommen. Auch wenn
ich oder meine Frau, Großmutter oder Urenkel mehrfacher Euromillionär
wäre.
Mit dem Geld könnte ich auch Dienstleistungen von anderen Trägern
kaufen, z.B. der Stadt Stockholm, die mir ihre Angestellten nach Art
der städtischen Ambulanten Dienste ins Haus schicken würde.
Eine Menge privater Firmen und andere Genossenschaften, die STIL als
Vorbild haben, bieten ähnliche Dienste an.
Außerdem gibt es die Möglichkeit, selbst Arbeitgeber seiner
Assistenten zu sein. All diese Lösungen und ihre Kombinationen
sind zugelassen. Damit sollen Vielfalt, Wahlmöglichkeit und Konkurrenz
gefördert werden.
Es gibt z. Zt. über 9 000 Menschen, die diese Gelder beziehen –
also ein Promille der Bevölkerung von neun Millionen. Voraussetzung
dafür ist ein Assistenzbedarf von mindestens 20 Std. in der Woche
für Assistenz mit den grundlegenden Bedürfnissen des täglichen
Lebens, also beim Essen, Ankleiden, bei der Körperhygiene und beim
Sich-Verständigen sprechbehinderter Menschen. Aus staatsfinanziellen
Gründen wurde das Höchstalter auf 65 Jahre begrenzt –
ein Mindestalter gibt es nicht. Ohne Altersgrenze wäre die Zahl
der Berechtigten natürlich mindestens 20 mal so groß. Zwar
kann man die Gelder nach dem 65. Geburtstag weiterbeziehen, aber wenn
jemand, der erst nach dem 65. Geburtstag behindert wird, kann er nicht
diesem exklusiven Club beitreten.
Menschen, die weniger als 20 Stunden für grundlegende Bedürfnisse
benötigen oder älter als 65 Jahre sind, bekommen ihre praktischen
Hilfen im Alltag von den Gemeinden, die dafür zuständig sind.
Die Gemeinden können dabei entscheiden, ob sie dieser Verantwortung
in Form von Geld- oder Sachleistungen nachkommen.
Der Unterschied in der Lebensqualität, die die staatliche Reform
und die Gemeinden ermöglichen, ist gewaltig. Laut Gesetz sind die
Gemeinden nur angehalten, eine „angemessene" Lebensqualität
zu unterstützen. Sie sind nicht für Sach- oder Geldleistungen
außerhalb der Gemeindegrenzen verantwortlich. Die staatlichen
Sozialversicherungsgelder sind dagegen exportierbar. Ich bezog z. B.
meine Gelder während eines 11-monatlichen Sabbaticals an der Universität
von Costa Rica. Außerdem sollen die Sozialversicherungsgelder,
laut Gesetz, eine „gute” Lebensqualität ermöglichen,
was mehr Stunden bedeutet.
Ohne die staatliche Assistenzreform hätten meine Frau und ich mit
dem Heiraten gezögert, weil die damaligen ambulanten Dienste zu
schlecht waren, um eine ebenbürtige, sich gegenseitig unterstützende
Partnerschaft zu ermöglichen, die beiden Teilen genügend Freiraum
lässt, sich in seine eigene Richtung zu entwickeln. Wir hätten
sicherlich kein Kind gehabt, weil alle Arbeit mit Kind und Haushalt
- und zum Teil mit mir – an meiner Frau hängen geblieben
wäre und weil ich in meiner Vaterrolle zu sehr eingeschränkt
gewesen wäre. Mit den ambulanten Gemeindediensten hätte ich
kaum meine jetzige Arbeit, könnte nicht ohne meine Frau verreisen
oder im Ausland arbeiten.
Welche Schlusssätze kann man aus dieser Beschreibung ziehen?
Um Menschen ein Dasein im Heim zu ersparen sind ausreichend barrierenfreie
Wohnungen und ausreichende Assistenz erforderlich. In Schweden gibt
es seit einigen Jahrzehnten keine Wohnheime für Körperbehinderte
mehr. Seit 1978 müssen laut schwedischen Baunormen alle Mehrfamilienhäuser
mit mehr als zwei Stockwerken barrierenfrei gebaut werden, so dass alle
Wohnungen in allen Stockwerken mittels geräumiger Aufzüge
erreichbar sind, ohne Stufen oder Schwellen mit mehr als drei cm Höhe
zwischen Bürgersteig und Wohnungstüre, mit geräumigen
Badezimmern und Küchen. Auf diese Weise beläuft sich der Anteil
der barrierenfreien Wohnungen im gesamten Wohnungsbestand auf meiner
Schätzung nach 8 % in Stockholm.
Auch Menschen mit geistigen Behinderungen wohnen heute entweder allein
oder in kleineren sogenannten Gruppenwohnungen mit ungefähr 6 Personen
pro Wohnung plus Personal. Die Reform von 1994 gibt dem Einzelnen das
gesetzlich garantierte Recht - das allerdings von den Gemeinden manchmal
nicht respektiert wird - auf Wohnen in der Gesellschaft.
Es gibt heute kaum jemanden in Schweden, der die Rückkehr der Einrichtungen
fordern würde. Ein Grund dafür ist vermutlich, dass Schweden
– im Gegensatz zu Deutschland - keine Wohlfahrtsindustrie hat
- also private Träger mit starker Lobby und guten politischen Kontakten,
die schon immer Heime betrieben haben, deren Organisationsstruktur nur
langsame und geringe Veränderungen erlaubt und die wenig wirtschaftliches
Interesse daran haben, in ihrer Öffentlichkeitsarbeit Menschen
mit Behinderungen als fähige Bürger darzustellen, die voll
im Stande sind, in der Gesellschaft, wie andere Menschen, selbstbestimmt
zu leben und zu arbeiten.
Schweden ist ein Land mit großen wirtschaftlichen Problemen, die
auf eine überaltete Bevölkerung und auf Abhängigkeit
von einigen wenigen konjunkturempfindlichen Industriezweigen zurückzuführen
sind. Jedesmal wenn ich in Deutschland bin, fällt mir der höhere
materielle Wohlstand hier auf, komme ich mir vor wie der arme Vetter
vom Lande. Laut Statistik hat Schweden z. B. die ältesten Autos
in der EU. Gemessen an der Kaufkraft des Durchschnittsbürgers befindet
sich Schweden an 17. Stelle in der Welt, weit hinter Deutschland.
Das schwedische Beispiel zeigt, dass ein Land nicht reich sein muss, um seinen behinderten
Bürgern einigermaßen ausreichende persönliche Assistenz zu ermöglichen:
Die Kosten der schwedischen staatlichen Assistenzreform betragen derzeit rund eine
halbe Milliarde Euro pro Jahr. Das sind umgerechnet 50 Euro pro Einwohner und Jahr.
Wäre das zuviel für Deutschland, Europas größter Wirtschaftsmacht?
Kobinet-nachrichten vom 22.11.02
Mit Playback für Assistenz geworben
Dr. Adolf Ratzka aus Schweden wusste sich im Leben schon immer zu
helfen, wenn es darum ging, Behinderungen auszugleichen und Lösungen
für Probleme zu finden. Bei einer Veranstaltung für eine faire
Assistenz in Würzburg warb der langjährige Selbstbestimmt-Leben-Streiter
per Playback für eine bedarfsdeckende und von den Betroffenen selbst
kontrollierte Assistenz.
Damit Dr. Adolf Ratzka nicht die Luft bei seinen Vorträgen ausgeht,
hat sich der langjährige Streiter der Selbstbestimmt Leben Bewegung
aus Schweden bei seinem Vortrag im Rahmen einer Podiumsdiskussion für
eine faire Assistenz in Würzburg etwas besonderes einfallen lassen.
„Den Rolling Stones sagt man ja nach, dass sie mit Playback auftreten.
Da dachte ich mir, dass ich das auch für meine Vorträge nutzen
kann", erklärte der Behindertenrechtler aus Schweden selbstbewusst
nach einer kurzen Einführung und ließ eine vorbereitete CD
mit seinen Kernaussagen zur Situation von AssistenznehmerInnen in Schweden
abspielen, bevor er am Ende wieder live das Wort ergriff und den Vortrag
abrundete. Der ein Atemgerät nutzende Elektrorollstuhlfahrer aus
Stockholm beschrieb dabei auf eindrucksvolle Weise die Möglichkeiten
der Assistenzorganisation und -absicherung in Schweden und dessen Bedeutung
für sein persönliches Leben.
Der Bedarf werde dort nicht durch zähe und immer wiederkehrende
Begutachtungen verschiedener Träger ermittelt, sondern in einem
meist sehr vertrauensvollen Gespräch mit nur einer zuständigen
Stelle besprochen. Das schwedische Assistenzgesetz von 1994, an dessen
Zustandekommen Ratzka entscheidend mitgewirkt hat, regelt dabei, dass
die Assistenz in Schweden nicht mehr von den einzelnen Kommunen unterschiedlich
gehandhabt wird, sondern, dass es keine Rolle mehr spielt, in welchem
Teil des Landes man wohnt. Dass diese Regelungen effektiv sind, beweist
die Tatsache, dass es Adolf Ratzka und vielen anderen behinderten Menschen
möglich ist, selbstbestimmt außerhalb von Einrichtungen zu
leben, die in Schweden in weiten Bereichen mittlerweile zur Geschichte
gehören. „Ich hätte nicht heiraten können, wenn
es mir nicht möglich wäre, mit Hilfe meiner Assistenz Verantwortung
für mein eigenes Leben, mein Haus und meine Tochter übernehmen
zu können, denn sonst wäre keine gleichberechtigte Beziehung
für uns möglich", erklärte Ratzka. Das Assistenzgesetz
gibt mir die Möglichkeit, meinem Beruf nachzugehen, mich um mein
Haus zu kümmern, dass meine Frau arbeiten gehen kann und mich adäquat
um meine Tochter kümmern zu können".
Dass diese Ausführungen auch bei den deutschen PolitikerInnen nicht
spurlos vorbei gingen, zeigte allein schon die Tatsache, dass diese
während des Vortrags von Adolf Ratzka viel mitschrieben. In der
Diskussion brachte die Behindertenbeauftragte der SPD-Fraktion im Deutschen
Bundestag, Helga Kühn-Mengel, dann auch zum Ausdruck, dass sie
mit den eher mageren Sätzen zur Absicherung der Assistenz im Koalitionsvertrag
auch nicht zufrieden sei. Dieser sei jedoch nur ein erster Rahmen und
sie sei sich sicher, dass das Thema in dieser Legislaturperiode angepackt
werde.
Dr. Richard Auernheimer führte als Staatssekretär im Sozialministerium
und Behindertenbeauftragter des Landes Rheinland-Pfalz aus, dass Rheinland-Pfalz
ernsthaft daran arbeite, neue Akzente für ein selbstbestimmtes
Leben Behinderter zu setzen und hob die Wichtigkeit der Selbstbestimmt
Leben Initiativen hervor. „Wir werden am 4. Dezember ein Landesgleichstellungsgesetz
verabschieden, um die Barrierefreiheit zu verbessern. Mein Wunsch wäre
es, dass es mehrere Selbstbestimmt Leben Agenturen gibt, die die nötigen
Angebote machen, um behinderten Menschen ein selbstbestimmteres Leben
zu ermöglichen", so Dr. Auernheimer.
Elke Bartz und Barbara Windbergs machten von Seiten der Veranstalter
- dem Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen, ForseA
e.V. und Selbstbestimmt Leben Würzburg, WüSL e.V. - unmissverständlich
klar, dass die Benachteiligung von assistenznehmenden Menschen auch
in Deutschland schnellst möglich ein Ende haben muss. Vor allem
in Würzburg müssten sich mehrere behinderte Menschen schon
seit längerem mit den Gerichten herumschlagen, damit ihnen nicht
die Assistenz gekürzt bzw. sie in abhängigere Unterstützungsformen
umziehen müssten. Deshalb sei eine bedarfsgerechte Assistenz für
behinderte Menschen so wichtig. „Wir fordern ein Assistenzsicherungsgesetz,
das bedarfsgerechte Leistungen unabhängig von Einkommen und Vermögen
mit größtmöglicher Wahlfreiheit sicher stellt. Denn,
warum soll das, was in Schweden schon seit mehreren Jahren möglich
ist, nicht auch hierzulande machbar sein", so die ForseA-Vorsitzende
Elke Bartz.
Dass es zur Zeit anscheinend eine erhebliche Diskrepanz zwischen den
schönen Worten der PolitikerInnen und den offenkundig gewordenen
Finanznöten auf allen Ebenen gibt und sich daraus viele Unsicherheiten
ergeben, machte Dr. Spielmann aus Eisingen stellvertretend aus dem Publikum
deutlich. Adolf Ratzka schlug daher als ersten Schritt vor, mit einem
Modellversuch zu starten, durch den behinderten Menschen die Hilfe aus
einer Hand bedarfsgerecht gewährt wird, um zu beweisen, dass dies
weitgehend effektiver ist, als die bisherige Herangehensweise. omp