Referat von Jürgen Peters anlässlich der Podiumsdiskussion
"Lieber daheim als im Heim" am 4. Mai 2005 im Würzburger
Felix-Fechenbach-Haus
"Herr in den eigenen vier Wänden"
Der Titel meines Referates provoziert. Ich mache hier aber nicht Werbung
für einen Bausparvertrag, sondern für Freiheit und Selbstbestimmung!
Menschen wollen meist "ganz normal" leben, egal ob sie ein
Handicap haben oder nicht, und sie haben meist ziemlich ähnliche
Wohnbedürfnisse: Sie möchten ein Zuhause haben, das ihnen
Sicherheit, Geborgenheit und Beständigkeit ebenso bietet wie Raum
für Individualität und Entfaltung. Sie möchten mit anderen,
die sie gern haben, zusammen sein können, vielleicht auch mit ihnen
zusammenleben, und sie möchten Raum haben für sich allein,
um sich zurück zu ziehen auf sich selbst. Herr in den eigenen vier
Wänden sein - das heißt: Hier bestimme ich!
In diesen Grundbedürfnissen unterscheiden sich Menschen nicht,
egal ob sie auf Hilfe, Assistenz, Pflege oder Unterstützung angewiesen
sind oder nicht, ob sie alt oder jung, krank oder gesund, arm oder reich
sind. Worin sie sich unterscheiden sind die Möglichkeiten, dieses
Recht auf menschenwürdiges Wohnen zu verwirklichen. Das ist nicht
nur eine Frage des Geldes, es sind Fragen des Menschenbildes, des Zutrauens
und des Umgangs miteinander. Es sind auch Fragen des Angebotes und der
Anbieter in einer Region: Gibt es wirklich ein Angebot, das eine Wahl
ermöglicht?
In meinem Referat möchte ich davon erzählen, was Menschen
sich wünschen in Bezug auf ihr Wohnen, und was Institutionen lernen
müssen, wenn sie ihr Wohnangebot an den Bedürfnissen und Wünschen
der Menschen orientieren, für die sie da sind.
Leben im Heim? Oder Daheim?
Wenn man früher in ein Heim "eingewiesen" wurde,
dann wurde das Leben sehr stark eingeschränkt und man unterlag
der Aufsicht durch das Personal. Heute ist vieles besser - aber wie
gut sind die Wohnmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen
wirklich? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zwei Kategorien
einführen: Den Begriff "Totale Institution" und den Begriff
"Normales Wohnen". Beide Begriffe sollen helfen, einen Maßstab
zu entwickeln für die Beurteilung der konkreten Wohnsituation.
Im ersten Teil meines Referates werde ich mich mit dem Schreckensbild
der Totalen Institution auseinandersetzen, um dann im 2. Teil einen
Gegenentwurf zu skizzieren, der sich an den Erfahrungen in der Stiftung
Hephata in Mönchengladbach orientiert und die Planungshilfen des
Landes NRW für den Bau von Wohnungen für Menschen mit Behinderungen
aufgreift.
1. Das Schreckensbild: Die Totale Institution
Heime gehören zu einer Gruppe von Einrichtungen, die der amerikanische
Soziologe Erving Goffman 1961 "Totale Institution" genannt
hat. Eine totale Institution lässt sich definieren als "Wohn-
und Arbeitsstätte einer Vielzahl … von Individuen, die für
längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind
und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen."
Für Goffman ist der wichtigste Faktor, der einen Patienten prägt,
nicht seine Krankheit oder Behinderung, sondern die Institution, der
er ausgeliefert ist, die seine Reaktionen prägt und Anpassung fordert.
1961 veröffentlichte Erving Goffman seine Untersuchung über
die Struktur und das Binnenleben von Heimen, Anstalten, Krankenhäusern.
Sein Buch erschien 1973 in Deutschland unter dem Titel: "Asyle.
- Ãœber die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer
Insassen"; Goffmans kritische Analyse ist bis heute Maßstab
zur Beurteilung aller Einrichtungen, die geschaffen wurden für
Menschen in besonderen Lebenssituationen.
Goffman hat in seiner Analyse 5 verschiedene Typen von totalen Institutionen
genannt:
- Anstalten, die zur Fürsorge eingerichtet wurden für Menschen,
die als unselbständig, hilfebedürftig und (so wörtlich)
"harmlos" gelten (Goffman meinte damit Einrichtungen für
alte und schwer behinderte Menschen, Waisenhäuser, aber auch
Armenasyle).
- Einrichtungen für Menschen, die zwar bedingt fähig sind,
für sich selbst zu sorgen, zugleich aber - unbeabsichtigt - eine
potentielle Bedrohung für die Allgemeinheit darstellen (Goffman
meinte damit Krankenhäuser für Menschen mit psychischen
Erkrankungen oder Tuberkulose- Sanatorien)
- Der dritte Typ totaler Institutionen dient dem Schutz der Gemeinschaft
vor Menschen und zur Abwendung von möglichen Gefahren oder Schädigungen,
die von diesen Menschen (absichtlich) ausgehen - also in der Hauptsache
geht es hierbei um Gefängnisse oder Zuchthäuser, um Sicherheitsverwahrung,
Kriegsgefangenenlager.
- Als totale Institution bezeichnet Goffman aber auch Kasernen, Schiffe,
Internate, Arbeitslager - Einrichtungen, die dazu geschaffen wurden,
bestimmte Aufgaben rationaler, effizienter, effektiver zu bewältigen,
wobei der Zweck dieser Einrichtung Anlass bietet für eine umfassende
Organisation des täglichen Lebens aller "Insassen".
- Schließlich bezeichnet Goffman auch Klöster und andere religiöse
Ausbildungsstätten als totale Institution, weil sie das Leben der
Betroffenen außerhalb der normalen Welt und ihrer allgemein gültigen
Gesetzen regeln.
Schon bei der Aufzählung wird deutlich: Das, was wir totale Institution
nennen, ist nicht immer gleich. Das Ausmaß der Fremdbestimmung
und der Unterwerfung unter die herrschenden Zwänge ist sehr verschieden.
Ãœbereinstimmend ist jedoch, dass die jeweilige Einrichtung das
Leben der Menschen, die in ihr leben und arbeiten, umfassend regelt
und damit beherrscht.
Dies betrifft sowohl die Menschen, die in einer Einrichtung leben,
wie die, die dort arbeiten - in beiden Fällen geht es um Anpassung
an die Regeln der Institution in allen Phasen des Tages bis hin zur
Unterwerfung - mit wichtigen Unterschieden:
- Für die Menschen, die in einer Einrichtung leben, hat das Personal
die Macht. Die beherrschende Macht hat ein Gesicht - besser: Viele
Gesichter!
- Für die Menschen, die in einer Einrichtung arbeiten, stellt
das System selbst mit seinen Regeln und Abläufen die Macht dar.
Die beherrschende Macht wird als anonym erlebt
Der wichtigste Unterschied ist aber das zeitliche Ausmaß der Fremdbestimmung:
Während die Einen Tag und Nacht bleiben, begrenzt der Arbeitsvertrag
die Anwesenheit und die Pflichten der Anderen. Goffman nennt Institutionen
total, weil sie in erheblichem Umfang die Zeit ihrer jeweiligen Mitglieder
in Anspruch nehmen. Gemeint ist damit die Zeit, die man in einer Institution
verbringt, die Zeit, in der man sich mit dieser Institution und ihren
Regeln und Abläufen auseinandersetzt. Bestimmt die Institution, in
der man lebt oder arbeitet, das Denken und Handeln, und verfügt sie
im großen Umfang über die Zeit der Menschen, die in der Einrichtung
leben und arbeiten, nennt man sie total.
Wie funktioniert das eigentlich? Wodurch wird eine Einrichtung zu einer
totalen Institution. Die Größe der Einrichtung spielt eine
Rolle, ist aber nicht allein entscheidend: Goffman und in der Folge Giddens
oder Foucault nennen eine Reihe von weiteren Ursachen und Strukturen:
- In westlichen Gesellschaften besteht eine Tendenz zur Trennung
der Lebensbereiche Leben und Arbeiten - Menschen leben, schlafen,
essen, arbeiten oder vergnügen sich an unterschiedlichen Orten.
Kenzeichen totaler Institutionen ist die Aufhebung der Trennung der
Lebensbereiche. Alle Angelegenheiten des Lebens finden - zumindest
für längere Zeit - an ein und derselben Stelle statt. Das
ermöglicht eine umfassende Kontrolle des Personals über
die "Insassen" und zielt auf eine Steuerung des Verhaltens.
- Die Abläufe und Phasen des Lebens und Arbeitens sind mehr
oder weniger exakt vorgeplant. Diese "rationale Organisation
des Lebens" wird von allen Beteiligten als Fremdbestimmung und
Entmündigung erlebt, wieder mit einem feinen Unterschied: Im
Allgemeinen erfolgt die Aufstellung der Regeln durch Spezialisten
- besonders qualifizierte und oft gut bezahlte Mitarbeiter, die nicht
selbst von den Regeln betroffen sind; diese sind oft auch für
die Einhaltung der Regeln zuständig.
- Totale Institutionen unterscheiden eindeutig zwischen den so genannten
"Insassen", und dem "Funktionspersonal" - oft
schon in der (Dienst-) Kleidung, sicher in den Befugnissen und Rechten.
Wer die Schlüssel hat, hat die Gewalt und die Kontrolle über
die Situation, regiert und entscheidet über den Alltag. Dem gegenüber
bilden sämtliche "Insassen" (Bewohner,…) einer
Einrichtung die große Gruppe der Schicksalsgenossen. Die totale
Institution verwischt die individuellen Unterschiede zwischen ihnen.
- Je weniger individuell die Menschen in einer Einrichtung leben,
desto stärker der totalitäre Anspruch der Institution und
ihrer Mitarbeiter! Ein Kennzeichen für die Totalität ist
die so genannte Gerechtigkeit: Allen "Insassen" wird prinzipiell
die gleiche Behandlung zu teil - nicht jedem das, was er individuell
braucht, sich wünscht, anstrebt, sondern: Jedem das Gleiche!
Bei der Zimmereinrichtung, beim Essen, beim Urlaub, … die Liste
lässt sich verlängern.
- In totalen Institutionen verrichten die "Insassen" ihre
Tätigkeiten oft gemeinsam gemäß den Regeln der Einrichtung.
Sowohl beim Arbeiten wie bei den alltäglichen Verrichtungen des
Lebens. Die im Grundgesetz garantierte freie Entfaltung der Persönlichkeit
ist dadurch eingeschränkt. Die individuellen Wünsche und
Vorstellungen, das eigene Leben zu gestalten, enden an den Grenzen
der Räume, die die Institution bereitstellt.
- Der Schutz der Privatsphäre ist aufgehoben. Durch konkrete
Hilfeleistungen, durch Beobachtung, Befragung und Informationsaustausch
kann das Personal Informationen sammeln und aufzeichnen, die von den
Betroffenen selbst als peinlich eingeschätzt und normalerweise
verheimlicht werden.
Unter derartigen Lebensumständen kommt es, wie Heizelmann in seiner
Untersuchung der Altenheime (M. Heizelmann, Das Altenheim - immer noch
eine totale Institution? Dissertation Göttingen 2004) schreibt,
"zu einer systematischen Schwächung des Selbstwertgefühls:
"Zudem werden die in den westliche Gesellschaften üblichen
Grenzen zwischen Verbergen und Zur-Schau-stellen des eigenen Körpers
in "totalen Institutionen" aufgelöst. Notdurft, Hygiene
und Körperpflege unterliegen der Kontrolle anderer. Es existieren
keine Rückzugsmöglichkeiten, die nicht den Ansprüchen
der Disziplin unterworfen sind. Folglich kommt es oft zu erzwungenen
und kontinuierlichen Beziehungen zu anderen Mitgliedern. Die freie Wahl
des sozialen Umgangs ist damit weitgehend aufgehoben…
Außerdem ist den Mitgliedern die Kontrolle über den eigenen
Tagesablauf entzogen. Sie haben nur die Zeit, die ihnen vom Personal
für die jeweiligen Aktivitäten zugestanden wird. Der dominierende
Faktor einer jeden "totalen Institution" ist also die Ausübung
von Macht. Die Mitglieder unterliegen ihren vielfältigen Erscheinungsformen.
Es ist entscheidend festzuhalten, dass die gesamte Struktur, bis hin
zu den feinsten Verästelungen, von Machtausübung gekennzeichnet
ist…
In einer derartigen Lage entwickeln Menschen unterschiedliche Praktiken
zum Schutz ihres Selbst vor dem übermächtigen Zugriff der
Institution. Eine davon ist Widerstand in den unterschiedlichsten Formen.
So kann es dazu kommen, dass sich die Mitglieder weigern, sich weiterhin
so zu verhalten, wie es von einem vernünftig handelnden Menschen
erwartet wird. Eine andere Möglichkeit ist der Versuch, Lücken
zur eigenen Gestaltung in dieser Welt des verwalteten Raums und der
verwalteten Zeit zu finden. Gelingt dieses Unterfangen, verfügen
Mitgliedergruppen selbst in geschlossenen Anstalten über eine beträchtliche
Kontrolle ihrer alltäglichen Aktivitäten. Die am meisten verbreitete
Strategie besteht darin, innerlich auf Distanz zu gehen, den Anforderungen
also lediglich "formal" zu gehorchen." (ebenda, S.56)
Fazit:
Das Leben in einer Institution, die die Kriterien einer totalen Institution
erfüllt, hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Persönlichkeit,
das Verhalten und die Entwicklung der Betroffenen. Mehr noch: Auch das
Selbstbild der Menschen, die in einer solchen Einrichtung leben, wird
massiv beeinflusst: Sie erleben sich als Folge der Umstände, unter
denen sie leben, als arm, alt, krank, behindert. Sie sehen nicht die
Möglichkeiten und Chancen ihres Lebens, sondern leiden an den Einschränkungen,
Begrenzungen und Übergriffen infolge der Lebensumstände. Sie
leiden an der Stigmatisierung und öffentlichen Darstellung dieses
Lebens - ihnen werden die Verantwortung und die Fähigkeit abgesprochen,
das eigene Leben selbst zu gestalten.
2. Der Gegenentwurf: Normales Wohnen
In den nunmehr fast 10 Jahre alten Planungshilfen des Landes NRW für
den Bau von Wohnungen für Menschen mit Behinderungen heißt es im Vorwort
des Ministers, Dr. Michael Vesper: "Gefragt sind heute (1996!) nicht
mehr große Sondereinrichtungen für behinderte Menschen, sondern eine
sensible Planung, die allgemeine Wohnstandards und besondere Anforderungen
behinderter Menschen so integriert, dass möglichst normale Wohnungen
und Wohnhäuser entstehen - und zwar unabhängig davon, ob Wohnungen oder
Wohnheime errichtet werden. Soviel Normalität wie möglich zu realisieren,
ist der Leitgedanke eines zukunftsorientierten Wohnungs- und Wohnheimbaus
für behinderte Menschen." (Wohnkonzepte für Menschen mit Behinderungen,
Aachen 1996, Vorwort)
Was ist das - normales Wohnen?
Sie kennen die Frage: "Und wo wohnst du?" - Die Antwort macht
deutlich, was das ist - normales Wohnen: "Ich wohne in Düsseldorf-Lörick,
Straße, Hausnummer…" - die Adresse bezeichnet den Ort,
wo jemand seinen Patz gefunden hat. Hier lebt er, hier nimmt er seine
Rechte als Staatsbürger wahr, hier hat er seine Freunde, seine
Nachbarn, seine Familie. Hier gehört er dazu - hier ist sein Platz
in der Gesellschaft. Ich zitiere aus der oben genannten Planungshilfe
des Landes NRW: "Dieser Platz, wo man hingehört, der fast
täglich Ausgangspunkt und Zielpunkt aller Aktivitäten ist,
an den man sich zurückziehen kann und wo man vor mancherlei Unbill
des Lebens geschützt ist, wo man tun und lassen kann, was man möchte
(solange man die Freiheit und die Rechte anderer nicht beeinträchtigt
- möchte man ergänzen) dieser Ort spielt eine wichtige Rolle
im Gemütshaushalt des Menschen: Hier ist man Zuhause. Hier ist
man Hausherr, bestimmt also selber." (ebenda, S.7)
Wie man wohnt oder wohnen möchte, ist individuell verschieden.
Der eine lebt gern in der Stadt, die andere eher auf dem Lande. Der
eine mit vielen Menschen, die andere eher für sich allein. Wie
man wohnt oder wohnen möchte, ist eine Sache des persönlichen
Geschmackes, der Erfahrungen und der Vorlieben und Abneigungen. Wie
man sein Leben gestalten möchte - das nennen wir: einen Lebensplan,
einen persönlichen Stil entwickeln. Das ist mehr als nur dies oder
das gerne tun - es ist die Summe vieler Erfahrungen und Entscheidungen.
Die eigene Wohnung bietet dafür einen Raum, sich zu entfalten und
sich nach den eigenen Vorstellungen und in Auseinandersetzung mit den
Anforderungen der Umwelt zu entwickeln.
Eine eigene Wohnung bedeutet zugleich Schutz und Abgrenzung. Hier kann
das Bedürfnis nach Privatheit und Intimität gelebt werden.
Aber hier kann man auch Freunde, Angehörige, andere Menschen einladen,
mit anderen Kontakt pflegen. Die eigene Sexualität leben - mit
einem Partner, einer Partnerin. Mit der Familie zusammenleben, mit eigenen
Kindern. Eine eigene Wohnung schafft Raum für die Entwicklung und
Entfaltung der eigenen Persönlichkeit - sie ermöglicht persönliche
Freiheit - und verlangt die Übernahme der Verantwortung für
das, was man aus seinem Leben macht.
Eine eigene Wohnung bietet die Möglichkeit der Beständigkeit
und Vertrautheit - frei nach dem Motto: "Hier bin ich, hier fühle
ich mich wohl - hier bleibe ich!" Eine eigene Wohnung bedeutet
aber auch die Freiheit, diese Situation nach persönlichen Wünschen
oder Erfordernissen ändern zu können - und das heißt:
"Ich ziehe um!"Ich zitiere noch einmal aus der oben genannten
Planungshilfe: "Die Wohnung ist dabei geradezu ein Aktionsfeld
auf der Suche nach dem eigenen Ich und nach den Möglichkeiten einer
Lebensgestaltung mit den Menschen, mit denen man zusammenleben möchte.
Es ist auch interessant, wann man nicht mehr wohnt, sondern nur irgendwo
lebt: Der Obdachlose schläft in der Unterführung. Im Krankenhaus
wohnt man nicht und auch nicht im Gefängnis (wohl weil man annimmt,
hier nur vorüber gehend zu verweilen?) … Im Zelt wohnt man
nicht, wohl aber in einem Wohnwagen oder einem Hotel. Mindestvoraussetzungen,
um vom Wohnen zu sprechen, sind bei uns also Selbstbestimmung (Hausrecht)
und ein festes Dach über dem Kopf." (S.7)
Ich fasse die Ausführungen zusammen:
Die Wesensmerkmale des normalen Wohnens sind also:
- die eigene Adresse als Bestimmung des Standortes in der Gesellschaft
und Basis für die Integration;
- der so genannte "Hausherrenstatus" als Basis für
persönliche Freiheit und Selbstbestimmung;
- der Schutz der Privatsphäre;
- die Geborgenheit des Zuhauses und nicht zuletzt
- die Möglichkeiten der Entfaltung der Persönlichkeit,
d.h. der Verwirklichung des eigenen Lebensplans und Konzeptes.
3. Kommen wir zum Schluss meiner Ausführungen:
ch habe in meinen Ausführungen zwei Bilder schwarz - weiß
gegeneinander gestellt. Nicht weil dies die heutige Realität des
Wohnens von Menschen mit Behinderungen ist - das Zerrbild der totalen
Institution ist vielerorts in Auflösung begriffen, andererseits
kann das Recht auf eine eigene Wohnung noch nicht von vielen Menschen
mit einer Behinderung verwirklicht werden. Ich habe diese Eckpositionen
dargestellt, um einen Maßstab zu entwickeln für die Beurteilung
der konkreten Lebensumstände. Um in einer totalen Institution zu
leben, braucht es keine große Anstalt, sondern nur eine Betreuungssituation,
bei der der Mensch, der auf Assistenz, Hilfe, Pflege oder Unterstützung
angewiesen ist, umfassend verplant und verwaltet wird. Und umgekehrt
können auch große Institutionen Entwicklungsräume schaffen
für Freiheit und Selbstbestimmung. Dies zeigt die Entwicklung der
Stiftung Hephata, in der ich diesen Prozess zehn Jahre entwickeln und
unterstützen durfte.
Wenn Sie sich wundern, dass ich nichts Besonderes zum Wohnen behinderter
Menschen sage, da gibt es nichts, worüber Sie sich wundern sollten,
denn es gibt meine Erachtens nichts Besonderes zum Wohnen von Menschen
mit Behinderung zu sagen. Jeder Mensch braucht seine besondere Lebenssituation
für seine persönlichen Möglichkeiten, seine Wünsche
und Bedürfnisse. Wenn man auf Hilfe angewiesen ist, auf Assistenz
und Unterstützung, muss man sehen, wie man das organisiert. Macht
man es selbst, kostet es Zeit und Mühe. Dafür gewinnt man
an Freiheit und Verantwortung. Überlässt man dies aus Bequemlichkeit
oder Not einer Institution; erkauft man dies mit (mehr oder weniger)
Abhängigkeit und Begrenzung individueller Freiheiten. Letztlich
gilt es immer zu entscheiden, ob das, was ist oder was sein wird,
- den eigenen Ansprüchen nach Freiheit und Gerechtigkeit genügt,
- Raum lässt für die Befriedigung eigener Wünsche
und Bedürfnisse
- Sicherheit, Schutz und Geborgenheit garantiert und
- die notwendigen Hilfen quantitativ und qualitativ (mindestens)
ausreichend bereitgestellt werden.
Im Einzelfall können individuell sehr unterschiedliche
Lösungen für das Wohnen sinnvoll und praktikabel sein, für
eine Zeit jedenfalls und nicht für ein ganzes Leben lang. In jedem
Fall, ob behindert oder nicht, muss man herausfinden, was man braucht,
was man anstrebt - und was man nicht möchte. Es bedarf also in erster
Linie nicht der Fürsorge von Eltern oder Institutionen, sondern jeder
Mensch braucht die Möglichkeit, Erfahrungen mit unterschiedlichen
Situationen zu machen, um daraus zu lernen - damit man weiß, was
man wirklich will. Beim Wohnen nicht anders als in anderen Bereichen des
Lebens.
Ich bin sicher: Die Utopie ist erreichbar - Lernen aus der eigenen
Erfahrung! Dann wird auch selbständiges Wohnen für alle, unabhängig
von Art und Schwere der Behinderung, unterstützt durch Assistenzdienste,
die unabhängig wählbar sind nach individuellen Bedarf und
sozialen Erfordernissen und Wünschen, möglich werden. Dafür
lohnt es sich, sich einzusetzen, zu streiten und zu kämpfen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Zur Person
Jürgen
Peters, geboren 1952, von Beruf Dipl. Psychologe und Supervisor/DGSv.
Seit 2003 leite ich die Evangelische Beratungsstelle für Erziehungs-,
Ehe- und Lebensfragen der Evangelischen Kirche in Düsseldorf. Zuvor
war ich über zwanzig Jahre in verschiedenen Diakonischen Einrichtungen
in unterschiedlichen Funktionen tätig; zuletzt 10 Jahre in der Evangelischen
Stiftung Hephata in Mönchengladbach. Man kann sagen, dass ich mich seit
Ende der siebziger Jahre damit befasst habe, wie man Heime und Anstalten
Institutionen umwandelt oder auflöst und menschenwürdige Lebensumstände
schaffen kann.
Jürgen Peters, 04. Mai 2005