Vorfahrt für Partikularinteressen?
oder
Wie man eine Grube auffüllt
Mit Illustrationen von David Siems, selbstbestimmung.ch
Von allen Türmen schallt er, der Ruf nach Beendigung der Einkommens- und Vermögensanrechnung für Menschen mit behinderungsbedingtem Assistenzbedarf, sofern sie am Tropf der Sozialhilfe hängen. Die Regierung tut, was sie für Menschen mit Behinderung schon immer gerne tut, sie verzögert, untersucht, debattiert, hört an - schlicht das ganze Instrumentarium, das man als Regierung hat, wenn sie nicht handeln will. Da die Regierung jedoch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen unterschrieben hat, dürfte sie es mit dieser Haltung nicht in die vierte Legislaturperiode nach der Unterschrift schaffen. Mürbe vom vielen Verhandeln, vom Fordern und Protestieren, haben sich viele Forderungen scheinbar in Luft aufgelöst. Übrig bleibt in der öffentlichen Diskussion als zentrales Element der Forderungen die Aufgabe der Einkommens- und Vermögensanrechnung. Deren Protagonisten haben eigenes Einkommen, sind jung, wollen Familien gründen und was vom Leben haben. Diese sind im bisherigen Konzert der Forderungen am deutlichsten herauszuhören gewesen. Sollte sich deren nachvollziehbare Forderung ganz oder in großen Teilen erfüllen, wird der Forderungschor deutlich schwächer daherkommen. Das ist die Befürchtung aller, die es heute schon sehr schwer haben, sich gegen die geschulte und kampferprobte Phalanx der Kostenträger durchzusetzen. Das sind behinderte, oft auch schwerstmehrfachbehinderte Personen, darunter Kinder, deren Eltern ihr ganzes Leben für ihre Nachkommen gesorgt und gekämpft haben. Sie hatten wie viele andere auch Hoffnungen in die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen gesetzt und wurden – wie viele andere auch – bislang bitter enttäuscht. Enttäuscht nicht nur von der Regierung, sondern auch von Verbänden, die ihre Interessen nicht oder nur halbherzig mit vertreten haben. Deren Sorge möchte ich anhand der beigefügten Zeichnungen hier erläutern.
Das erste Bild zeigt Menschen in einer Grube. Diese symbolisiert die Menschenrechtssituation behinderter Menschen in Deutschland, denn sie unterscheidet sich wesentlich von denen der Menschen ohne Behinderung. Will man diese Diskriminierung behinderter Menschen ausglei-chen, also die Inklusion herstellen, dann füllt man die Grube so auf, dass sich die darin befindlichen Menschen mit Behinderung nach oben arbeiten können und dann das gesellschaftliche Niveau ihrer Mitmenschen erreichen.
Wenn wir dagegen uns weiterhin auf die Freiheit von Einkommens- und Vermögensanrechnung fokussieren, tritt das Beispiel von Bild zwei ein. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass diese Befürchtungen keineswegs konstruiert sind. Denn unter der Überschrift "Neid der Benachteiligten" wurde bereits ein entsprechender Artikel veröffentlicht. Zitat: "Doch kann hieraus abgeleitet werden, dass z.B. die Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit warten muss, bis auch diese Gerechtigkeitslücke geschlossen wird? Die Antwort lautet kurz und knapp: Nein!".
Somit wird am oberen Ende der Grube eine Decke eingezogen, die fitten, jungen Menschen mit eigenem Einkommen sind dann oben, die anderen, auf welche obige Beschreibung nicht zutrifft, sind weiterhin unten, nunmehr durch den Deckel unsichtbar und unhörbar.
Nachfolgendes Beispiel eines Briefes eines Kostenträgers an eine Antragstellerin dokumentiert deren Probleme stellvertretend für viele andere, die uns im Rahmen unserer Beratungstätigkeit erreichen:
"… nach § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII (Sozialgesetzbuch XII) gilt der Vorrang der ambulanten Leistung nicht, wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Hieran ändert auch Artikel 19 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen nichts.
Es sind folgende Punkte zu klären:
1. Wäre die Einrichtung „…." in …… geeignet? Aus welchem Grund ggf. nicht?
2. Ist diese stationäre Einrichtung grundsätzlich zumutbar? Wie sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände?
3. In welcher Höhe fällt Hauswirtschaftliche Hilfe an? Was ist genau zu tun?
4. In welcher Höhe fallen Eingliederungshilfeleistungen an? (Punkt 3 und 4 muss getrennt verbucht werden, daher ist die Trennung wichtig)
5. Wie ist der Tagesablauf von Frau …..? Wer macht was für Frau ….? Wer, in welchem Umfang, bei welchen Tätigkeiten unterstützt sie noch neben diesen fünf Angestellten?"
Hier wird die ganzheitliche Betrachtung des Hilfebedarfes ignoriert Viele Menschen mit Behinderung benötigen Unterstützung in allen Dingen des täglichen Lebens. Die Einordnung in unterschiedliche Hilfearten macht das Thema vielleicht verwaltungstauglicher. Mit der Lebenswirklichkeit hat dies jedoch nichts zu tun. Kein Tag ähnelt einem anderen, unser Leben lässt sich nicht in Tabellen fassen. Das Bundessozialgericht hat längst festgestellt, dass auch Zeiten zwischen den Verrichtungen zum Bedarf gehören, da Assistenzpersonen nicht je nach Bedarf ein- oder ausgeschaltet werden können. Wörtlich: "Denn eine Hilfsperson kann regelmäßig nur für zusammenhängende Zeitabschnitte, nicht jedoch für einzelne Handreichungen herangezogen bzw. beschäftigt werden." Selbstverständlich gilt auch der § 13 SGB XII weiter. Lediglich der Kostenvorbehalt im ersten Absatz wurde durch den selbstvollziehenden und damit unmittelbar anzuwendenden Artikel 19 in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen abgestellt. Mit diesem Brief werden auch allgemeine Grundsätze verletzt wie z.B. die §§ 13 und 14 SGB I sowie § 6 SGB XII. Die Behörde erteilt falsche Beratungen und ignoriert ihre Verpflichtungen. Zudem ist zu erkennen, dass man dort auf dem betreffenden Gebiet weder aus- noch fortgebildet ist. Ob das Unwissen echt oder nur vorgegeben ist. Es ist ein Teil der Gewalt, der Antragstellerinnen und Antragstellern ständig ausgesetzt ist.
Nachdem die Forderungen der agilen, lauten Menschen mit Behinderungen erfüllt sind, lehnt sich die Politik zurück. Weitere Verbesserungen rücken wieder in weite Ferne. Denn das größte Protestpotenzial ist dann von der Straße. Die Verlierer bleiben beispielsweise schwerstmehrfachbehinderte Kinder und ihre Eltern, aber auch Menschen, die durch Krankheiten oder selbstverschuldete Unfälle zu ihrer Behinderung gekommen sind. Diese werden weiterhin der Gewalt von Behörden ausgeliefert sein, mit der sie in schöner Regelmäßigkeit überzogen werden. Diese werden weiterhin ihren Bedarf mit Zähnen und Klauen verteidigen müssen. Gegen Argumente, die einander in Sachen Absurditäten den Rang ablaufen. Sie werden in unschöner Regelmäßig-keit weiterhin Gutachtern ausgesetzt sein, die mit unserer Lebenswirklichkeit nicht vertraut sind, die sehr oft unsere Behinderungsart und deren Folgen nicht mal kennen.
Das alles, weil eine kleine, aber sehr laute, mobile und durchsetzungsfähige Gruppe durchaus verständlich ihr Recht auf uneingeschränkte Nutzung des eigenen Einkommens und Vermögens einfordert, aber sich wenig darum kümmert und dazu beiträgt, dass andere Menschen mit Behinderung die Chance bekommen, auf ihr gesellschaftliches Niveau aufzuschließen. Wer anderen Menschen Solidarität verweigert, sollte sie nicht für sich selbst einfordern!
Eine Behinderung macht aus Menschen keine besseren Menschen. In der heutigen Zeit kommt man scheinbar nur noch mit einem ausgeprägten Egoismus voran. Dennoch erwarte ich von Menschen mit Behinderung, dass sie nicht dieselben Fehler begehen wie die Menschen ohne Behinderung. Wir kennen die Lebenswelten der Menschen am unteren Ende der Skala oder können sie wenigstens besser einschätzen als die Nichtbehinderten. Gleichwohl versuchen wir, unsere Interessen zuerst durchzusetzen. Für mich ist das kein solidarisches Verhalten.
Mir wurde mal ins Stammbuch geschrieben:
"Wer nicht sagt, was er will, muss nehmen was er kriegt."
Wenn wir Menschen mit Behinderung uns das Fordern abtrainieren, nur weil andere für ihr Thema Vorfahrt beanspruchen und uns dabei noch einreden, wir hätten eh keine Chance, dann sind wir selbst schuld. Die Früchte der Behindertenrechtskonvention sind für alle da. Was ist so verwerflich an der Vision, dass sich alle Menschen mit Behinderungen hinter einem Speer versammeln und damit den gesammelten Forderungen den nötigen Nachdruck verschaffen? Dann kommen wir am Ende alle zusammen über die Ziellinie. Lassen wir jedoch zu, dass Partikularinteressen nach Lautstärke oder gesellschaftlichen Rangfolgen bedient werden, dann werden die Positionen der nachrangigen Gruppen wesentlich geschwächt.
Von Visionen zu träumen ist schön. Zurück in der Realität muss man dann erkennen, dass auch Menschen mit Behinderung eben Menschen sind, auch mit Schwächen. Diese Schwächen werden von den Regierenden gnadenlos ausgenutzt.
Abschließend noch ein Hinweis auf die Juli-Kolumne von Harald Reutershahn in den kobinet-Nachrichten: "Vielen Dank für Garnichts", in der die Sozialpolitik in der Vergangenheit sehr gut beschrieben wurde.
Gerhard Bartz
ForseA-Vorsitzender
24. September 2014