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Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.


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Eine unerledigte Jahrhundertbaustelle

Menschenrecht Persönliche Assistenz

Eine unerledigte Jahrhundertbaustelle

Erschienen im Januar 2018 in der Zeitschrift "Orientierung" des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe BeB

Gerhard Bartz, Vorsitzender des Bundesverbands Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V. (ForseA ), ist der festen Überzeugung, dass das vielgerühmte Bundesteilhabegesetz das „Menschenrecht Persönliche Assistenz" massiv erschwert, anstatt es zu befördern. Menschen mit Behinderungen wurden und werden in eine Schattenwelt gezwängt und dort als zu kategorisierende Objekte behandelt.

Wenn man die Situation von Menschen mit Assistenzbedarf in der heutigen Zeit verstehen will, muss man etwas in die Vergangenheit zurück. Noch im 19. Jahrhundert wurden Menschen mit Behinderung vor der Öffentlichkeit versteckt. Sie galten als eine Strafe Gottes. Fragen nach dem möglichen Grund hierfür wollte man sich ungern aussetzen. Mit dem ersten Weltkrieg kamen viele Kriegsversehrte hinzu, die zum ersten Mal Opfer von Massenvernichtungswaffen wurden. Damals wurden als Kriegsfolgen auch psychische Erkrankungen in großer Zahl registriert.

„60.000 Reichsmark kostet dieser Erbkranke"

Mit Beginn der NS-Herrschaft wurden behinderte Menschen aus rassenideologischen Gründen erstmals systematisch erfasst. Viele Betroffene steckte man aber auch in Anstalten, um zusätzliche Arbeitskräfte für die Produktion zu bekommen. Stellte man fest, dass deren soziale Bindungen nicht allzu stark waren, wurden sie in weiter entfernte Anstalten verlegt. In den Jahren 1940 und 1941 wurden schließlich mehr als 70.000 dieser Mitmenschen in speziellen Anstalten (Grafeneck, Hadamar, Brandenburg oder Berneck, um nur einige zu nennen) im Rahmen der sogenannten T4-Programme ermordet. Diejenigen, die zuvor zuhause behinderte Menschen betreut hatten, wurden dadurch als Arbeitskräfte - auch für die Rüstungsindustrie - frei. In der Öffentlichkeit wurde für die Aktion mit Plakaten Stimmung gemacht: „60.000 Reichsmark kostet dieser Erbkranke die Volksgemeinschaft auf Lebenszeit. Volksgenosse, das ist auch dein Geld."

USA-Import Selbstbestimmt-Leben

Als nach dem Krieg die Gräuel der Nazizeit den Deutschen - teils unter Zwang - bekannt gemacht wurden, dauerte es noch Jahre, bis auch die Verbrechen an behinderten Menschen ihre Aufarbeitung erfuhren. Derweil ging deren Aussonderung ungestört weiter. Nun fasste man Betroffene in Heimen zusammen, wo sie ein vermeintlich sorgenfreies Leben führen sollten. Ihre Angehörigen sollten - ebenfalls von Sorgen befreit - mithelfen, den Wiederaufbau des zerstörten Landes, seiner Wirtschaft und Infrastruktur zu schultern. Das ging so lange gut, bis einige behinderte Menschen den Entschluss fassten, im Ausland - vornehmlich in den USA - zu studieren. Die USA waren ständig in Kriege verwickelt und konnten sich die Aussonderungspolitik nach deutschem Muster nicht leisten. So konnte sich in den Staaten eine starke Selbstbestimmt-Leben-Bewegung entwickeln, deren Philosophie die heimkehrenden Studenten nun auch in Europa verbreiteten. In der Folge wuchs in Deutschland eine neue Behindertenbewegung. Die behinderten Menschen hatten das eintönige Leben in den Anstalten satt und wollten Teil der sich entwickelnden Zivilgesellschaft werden. Nun aber zeigte sich, dass sich die anstaltsbetreibenden Wohlfahrtsorganisationen sehr gut in diesem System eingerichtet hatten. Viele entwickelten sich zu entschiedenen Gegnern dieser Freiheitsbewegung. Der Kampf wird bis in die heutige Zeit geführt, sehr deutlich zu erkennen beispielsweise in der Gestaltung des Bundesteilhabegesetzes, das in vielen Bereichen auf deren Bedürfnisse maßgeschneidert erscheint.

Menschen wie alle Menschen

Menschen mit Behinderung haben neben den jeweiligen Folgeerscheinungen ihrer Beeinträchtigung alle Probleme, die nichtbehinderte Menschen auch haben: Sie werden krank, arbeitslos, haben Probleme mit Vermietern, mit der Autowerkstatt etc. Kurz, sie unterscheiden sich nicht. Aber dazu kommen - behinderungsbedingt - weitere Probleme auf sie zu, Probleme, die Menschen ohne Behinderung nie haben werden. Solange diese Probleme mit Hilfsmitteln behoben werden können, müssen sich behinderte Menschen „nur" mit „Sachverständigen" herumschlagen, die ihr Dasein damit bestreiten, unsere Bedürfnisse als überzogen und unzumutbar für den Rest der Gesellschaft hinzustellen. Auf der einen Seite hat der Gesetzgeber im Bereich der Krankenversicherung gute Festlegungen getroffen, beispielsweise im § 13 Abs. 3a SGB V . Dennoch kann es über ein Jahr dauern, bis ein Hilfsmittel zur Verfügung steht. Die Zeit dazwischen wird mit mehr oder weniger sinnvollen Anfragen, Telefonaten, Briefen ausgefüllt, um Aktivität vorzutäuschen.

Behinderung ist eine lästige Angelegenheit

So richtig schlimm wird es jedoch, wenn statt Hilfsmitteln persönliche Assistenz benötigt wird. Hier wird so ziemlich alles aufgeboten, was Menschen mit Behinderung das Leben schwermacht. In erster Linie wird der beantragte Bedarf angezweifelt. Dabei wird uns unterstellt, dass wir - aus welchen Gründen auch immer - unseren Bedarf viel zu hoch einschätzen. Als weitere Beschwernis wird sehr oft ein absurd niedriger Stundenlohn genehmigt, zu dem keine Assistenz eingestellt werden kann Dabei wird auch schon mal der Mindestlohn unterschritten. Behinderung ist eine lästige Angelegenheit: Sie ist immer da. Manchmal total unauffällig, meist macht sie sich jedoch sehr deutlich bemerkbar und zwar immer dann, wenn gerade keine Assistenz da ist. Hat man Glück, dann ist die nur auf der Toilette, hat man Pech, kommt sie erst am Folgetag wieder.

Leben lässt sich nicht katalogisieren

Der grundsätzliche Denkfehler in unserer Gesellschaft besteht in der Ansicht, unser Bedarf wäre auf die Summe der Einzelbedarfe beschränkt. Das kann nie stimmen und führt zu vielen Einschränkungen. Richtig ist, dass es erstens nicht möglich ist, alle Einzelbedarfe aufzulisten, denn auch unser Leben ist individuell, bunt und vielfältig. Es lässt sich nicht katalogisieren! Noch schwieriger wird es, die Häufigkeit und Zeitdauer dieser Einzelbedarfe zu erfassen. Wer weiß schon, wann und wie oft heute die Toilette aufgesucht wird, wann und wie oft morgen die Nase läuft, ob ich in der nächsten Woche drei- oder viermal zum Einkaufen fahre? Aber genau an dieser Frage verdienen sich Tausende von Wissenschaftlern, Sachverständigen, Gutachtern, Sachbearbeitern ihre Brötchen. Niemand begreift, dass es ein Unterschied ist, ob ich den Produktionsprozess eines Autos oder ein menschliches Leben wissenschaftlich untersuche. Diese Untersuchungen reduzieren den Menschen zum Objekt. Nur so kann er nach festgelegten Kriterien bearbeitet werden. Man braucht sich nicht mit Emotionen, nicht mit Befindlichkeiten abzugeben. Der Mensch wird als Standardmodell bearbeitbar. Daran wird eisern festgehalten, denn daran hängen viele tausend Arbeitsplätze.

Minutenzählerei

Die Realität sieht jedoch so aus, dass ich aufgrund meiner Behinderung auf eine verlässliche Anwesenheit von Assistenz angewiesen bin. Und hier möchte ich selbst festlegen, über welchen Zeitraum ich diese Anwesenheit beanspruche. Ich für mich habe festgelegt, dass ich vom Frühstück um 8:00 Uhr bis nach dem Mittagessen um 13:00 Uhr Assistenz benötige. In diese Zeit muss ich alles reinpacken, wozu ich Hilfe brauche. Das, was am Nachmittag oder Abend anfällt, muss eben bis zum nächsten Morgen warten. Das ist zwar lästig und mitunter auch ärgerlich. Aber ich möchte mir nicht jeden Tag überlegen müssen, was ich für zwei oder mehr Stunden noch an Arbeit aufgebe. Denn ich habe hoffentlich noch lange keine dringenden unplanbaren Bedarfe. Dort jedoch, wo es diese unplanbaren Bedarfe gibt, haben die Wissenschaftler, Gutachter, die ganze Phalanx unserer Gegner kein Konzept außerhalb der Minutenzählerei entwickelt. In ihrem Bestreben, Bedarfe zu kürzen, verlangen Gutachter schon mal, dass man sich mit nacktem Hintern auf dem Toilettenstuhl am Küchentisch sitzend, die Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen vertreibt. Dies ist kein Extrembeispiel. Ähnliche kennen wir zuhauf aus der Beratungspraxis von ForseA.

Angehörige - billige Assistenten

Schlimm trifft es auch die Angehörigen von behinderten Menschen. Eltern werden bis ins hohe Alter genötigt, die Assistenz oder große Teile davon unentgeltlich zu leisten. Mit diesen Eltern geht unser Staat skrupellos vor. In Nordrhein-Westfalen bekam die Mutter eines schwerstmehrfachbehinderten Mannes das Bundesverdienstkreuz für ihre Bemühungen um die Situation behinderter Menschen und ihrer Eltern. Ausgehändigt bekam sie die Anerkennung vom Landrat. Dessen Behörde, das Sozialamt, setzte ungeachtet dessen die Schikanen und Diskriminierungen weiter fort. Die Mutter gab daraufhin das Bundesverdienstkreuz zurück und dem Drängen nicht nach, ihren Sohn in eine Einrichtung zu geben. Nur dort war die Kostenübernahme zugesichert. Nach wie vor müssen Eltern für ihre Kinder, die ambulante Eingliederungshilfe beziehen, Unterhalt für das Sozialamt zahlen. Auch das ist eine Form von Sippenhaft. Als ob Eltern durch ihre behinderten Kinder nicht genug leisten und geleistet haben. Unser Staat sieht sich verpflichtet, ihnen auch noch einen Obolus abzuverlangen. Man kann getrost davon ausgehen, dass sich diese Repressalie mindestens selbst kostet. Sie bringt aber in viele Familien Streit, wenn beispielsweise 90-jährige Eltern plötzlich Unterhalt an die Sozialämter zahlen müssen, hinzukommen noch Berge von Einkommens- und Vermögenserklärungen. Hier zeigt sich unser Staat von seiner ausgesprochen hässlichen Seite.

Schattenwelt behindertes Leben

Wie ist das alles möglich? Wie kann es sein, dass unter den Augen der Öffentlichkeit eine Gruppe von ca. acht Millionen Menschen mit voller Absicht benachteiligt wird? Hinzu kommen nochmals mindestens genauso viele Angehörige. Wie kann es sein, dass die letzte Bundesregierung ein Bundesteilhabegesetz verabschiedet, wissend, dass es gegen die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, aber auch gegen die Verfassung in mehrfacher Hinsicht verstößt? Die Frage ist einfach zu beantworten: Weil behinderte Menschen in einer Schattenwelt leben. Man nimmt sie wahr, wenn man will, ansonsten blendet man sie einfach aus. Weil die legislative und die administrative staatliche Gewalt dies in ihre Überlegungen einbezieht, macht man davon schamlos Gebrauch. Und so kommt es vor, dass Andreas Storm, ein ehemaliger Staatssekretär der CDU im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, später unter anderem saarländischer Landessozialminister und heutiger DAK-Vorstandsvorsitzender in einem Schreiben an ForseA am 11.03.2010 mitteilte: „Im Hinblick auf die Forderung nach bedürftigkeitsunabhängigen Leistungen der Eingliederungshilfe für finanziell besser gestellte Menschen mit Behinderungen zu Lasten des Steuerzahlers über bereits bestehende Begünstigungsregelungen in der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) hinaus, gebe ich zu bedenken, dass gerade in der heutigen Zeit eine solche Forderung weder fachlich noch politisch zu vermitteln ist." Wie man unschwer erkennen kann, ist das Grundmuster identisch: Die Gesellschaft soll sich Menschen, deren Behinderung Geld kostet, nicht leisten. Denn dieses Geld fehlt dem Konsum. Es würde zwar unserer Gesellschaft insgesamt guttun, wenn Behinderung nicht gleichzeitig zur Armut führen würde, wenn Menschen mit Behinderung inmitten der Gesellschaft leben könnten. Aber da damit kurzfristig kein Wirtschafts-Wachstum zu erzielen ist, soll es bleiben, wie es ist. Das ist das verheerende Signal, das von der gefakten Umsetzung der Behindertenrechtskonvention durch die letzte Bundesregierung ausgeht.

Mauern

Abschließend erinnere ich an die Rede unseres Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier anlässlich des Tages der deutschen Einheit 2017. Er redete von Mauern und von Heimat und dass wir uns ehrlich machen müssen . Bei allen seinen Aufzählungen hat er die Mauer zwischen Nichtbehinderten und Behinderten übersehen. Sie trennt die Schattenwelt, in die wir gezwungen werden, von der realen Welt der Nichtbehinderten. Und es gibt nur eine Heimat, aus der wir uns nicht vertreiben lassen. Es gibt auch keine Grundrechte zweiter Klasse, wie man uns stets dann weismachen will, wenn es darum geht, diese zu missachten. Wir haben Steinmeiers Vorgänger Gauck mehrfach darum gebeten, das Bundesteilhabegesetz nicht in Kraft zu setzen. Wir erhielten nicht einmal eine Antwort!

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