Der Kassettenrecorder dudelt Songs von den Stones, von Barry Ryan, von den Equals. Immer und immer wieder. Ich liege im Bett. Der Arzt stellte die Diagnose: Nierenbeckenentzündung, 39,5° Fieber. Was soll´s? Auch ohne Fieber wäre ich nicht aufgestanden. Wofür auch? Mein Bett steht nicht zu Hause, sondern 400 km davon entfernt in einem Pflegeheim für Körperbehinderte. Ich bin 21 Jahre alt und seit Februar querschnittsgelähmt. Nie wieder werde ich laufen oder meine Hände „normal" benutzen können. Ein Autounfall war die Ursache für den Anfang eines zweiten Lebens.
Es ist der 24. Dezember, Heiligabend. Draußen ist es dunkel. Ich mache kein Licht an. Was könnte ich schon groß sehen? Nein keinen Weihnachtsbaum. Nicht einmal ein Gesteck oder nur eine einsame Kerze. Einen abgenutzten Linoleumboden könnte ich sehen, zwei Schränke, zwei Stühle, ein Tisch ohne Tischdecke. Ein zweites Bett, das verwaist dasteht. Die Frau, die bis vorgestern darin geschlafen hat, fuhr nach Hause, Weihnachten mit der Familie feiern.
Bloß keine Weihnachtslieder hören! Noch voriges Jahr habe ich über den ganzen Weihnachtsrummel gelästert: Ist ja doch alles nur Konsumterror. Und dieser Kitsch, man macht ihn ja nur der Familie wegen mit. Damals musste ich, heute kann ich nicht mehr.
Mein Vater und meine Stiefmutter haben mich zwei Wochen vor Weihnachten besucht. Meine Mutter hat versprochen anzurufen. Sie kann nicht wissen, dass viele heute nicht durchkommen. Es gibt nur zwei Leitungen, die ständig belegt sind. Ab 16 Uhr ist die Zentrale ohnehin nicht mehr besetzt. Dann geht gar nichts mehr. Die Leute, die in der Zentrale ihren Dienst taten, wollen schließlich auch feiern. Das muss man verstehen!
Der Kassettenrecorder spielt Eloise. Zum fünften, sechsten oder siebten Mal? Ich habe nicht mitgezählt. Die Kassette kann ich nicht wechseln. Also zurückspulen und noch mal Eloise. Bloß nicht umschalten auf das Radio. Es könnten Weihnachtslieder gespielt werden. Ich will kein Weihnachten! Ich will auch keinen Rollstuhl! Und vor allem will ich nicht alleine sein!
Der Pflegedienstleiter kommt herein, fragt, ob ich etwas brauche. Er meldet sich jedes Jahr freiwillig zum Dienst an Heiligabend. Als überzeugter Atheist gibt es für ihn kein Weihnachten. Die anderen freut´s. Können sie daheim bei ihren Familien sein.
Plötzlich hat jemand im Aufenthaltsraum den Plattenspieler eingeschaltet. Laut schallt es durch das Haus „Stille Nacht". Mein Kassettenrecorder wird übertönt. Mit meiner Fassung ist es endgültig vorbei. Ich weine, bis ich endlich irgendwann einschlafe.
Mittlerweile sind zwanzig Jahre vergangen. Seit fünfzehn Jahren bin ich glücklich verheiratet. Wir haben ein eigenes Haus. Ich habe den Führerschein gemacht und fahre ein eigenes Auto. Seit ein paar Jahren bin ich in der Behindertenarbeit tätig.
Jedes Jahr freue ich mich auf das Weihnachtsfest. Aber nie habe ich Weihnachten 76 vergessen. Ich habe nur ein kleines Problem: in der Vorweihnachtszeit muss ich beim Einkaufen aufpassen. Sonst bringe ich immer mehr Strohengel, Christbaumschmuck, Gestecke und was es sonst noch zum Dekorieren gibt, mit nach Hause. Dabei sieht es bei uns sowieso schon bald wie auf dem Weihnachtsmarkt aus. Aber wehe, es versucht mir jemand zu erklären, Weihnachten sei kitschig....
Elke Bartz (†)
Weihnachten 1996