„Es ist 19.35 Uhr. Sie hören den aktuellen Verkehrsbericht. Zwölf Kilometer Stau auf der A 3 Richtung Würzburg wegen starken Schneetreibens. Weitere Staus auf......." tönt die Stimme aus dem Autoradio.
„Was machen wir jetzt? Sieht nicht so aus, als wenn wir heute noch nach Hause kommen. Jetzt stehen wir schon über zwei Stunden und es geht einfach nicht weiter. Man sieht aber auch die Hand nicht vor den Augen. So langsam muss ich auf die Toilette; und müde bin ich nach acht Stunden Fahrt oder besser Fahrt und Rumstehen auch", meint Nina. Die junge Frau sagt das zu Daniela, ihrer Assistentin, die sie begleitet. Sie selbst sitzt im Rollstuhl hinter dem Lenkrad ihres Kleinbusses und gähnt.
„Ist aber auch zu blöd, eine Tagung erst am 23. Dezember durchzuführen. Wer sich so was einfallen lässt. Mensch mir knurrt der Magen. Die Kekse sind auch schon alle gegessen" antwortet Daniela. Leise rieselt der Schnee, spielt das Radio. „Leise vielleicht, aber ganz schön heftig" bemerkt Nina ironisch.
Eine Viertelstunde später. „Da sieh, die Autos fahren an. Hoffentlich geht es jetzt weiter. Ich muss immer dringender. Bei der nächsten Abfahrt fahren wir runter und suchen uns ein rollstuhlgeeignetes Hotel zum Übernachten. Ich bin einfach zu müde, um die letzten 250 km zu fahren. Vor allem, wenn es im Schritttempo weitergeht. Dann fahren wir lieber morgen früh weiter. Wenn wir Glück haben, hat sich das Wetter bis dahin gebessert und die Straßen sind geräumt. Dann kommen wir noch rechtzeitig zum Baumschmücken nach Hause. Ich rufe schnell an und sag Sven Bescheid, dass wir heute nicht mehr kommen" meint Nina. Sie telefoniert übers Handy mit ihrem enttäuschten Mann. In der Zwischenzeit ist die Autokolonne ein Stück vorwärts gekommen. Vorsichtig schleichen sie an liegen gebliebenen Autos vorbei, denen wohl das Benzin ausgegangen ist.
Plötzlich ruft Daniela: „Da hinten kommt eine Ausfahrt. Gott sei Dank, da können wir endlich von der Autobahn runter." Das im Schneegestöber halb zugewehte Hinweisschild zeigt an, dass es zur nächsten Kleinstadt nur noch zwei Kilometer sind. Mit Tempo zwanzig geht es auf der glatten Straße weiter. In einer Schneewehe kommt das Auto trotz des langsamen Tempos leicht ins Rutschen.
Endlich erscheint das Ortsschild. „Jetzt müssen wir nur noch ein barrierefreies Hotel finden." Daniela verrenkt sich fast den Hals bis sie eine Infotafel in einer Haltebucht entdeckt. „Da stehen ein paar Hotels drauf," sagt sie zu Nina. „Ich geb dir die Nummern. Dann kannst du anrufen, ob du mit deinem Elektrorollstuhl überhaupt reinkommst."
Die nächsten zehn Minuten vergehen mehr als frustrierend. Alle angerufenen Hotels haben Stufen oder zumindest keine für Rollstuhlfahrer zugängliche Toilette und Zimmer. „Wenn ich nicht bald eine finde, passiert noch was" meint Nina. „Das kann doch nicht wahr sein. Wir haben doch Landesbauordnungen. Und überall wird von Gleichstellung und Gleichberechtigung gesprochen. Ich frage mich, ob das Gleichstellung ist, wenn alle vier Hotels, die auf der Infotafel Werbung für sich machen, für unsereins nicht zugänglich sind." Nina ist wütend. Plötzlich ruft Daniela: „Auf der linken Seite ist eine Gaststätte. Ich muss mittlerweile auch. Weißt du was, ich spring rein, geh schnell zur Toilette und frage, ob die hier Zimmer haben. Stufen scheint es zumindest keine zu geben." Sie springt aus dem Auto und verschwindet.
Nach einigen Minuten kommt sie wieder heraus. „Puuh, mir geht es wieder besser. - Also hier haben sie nichts, kein WC und kein Zimmer in das du reinkommst. Ich habe nachgeschaut. Die Türen sind viel zu schmal. Aber ungefähr ein Kilometer geradeaus und dann nach der großen Kreuzung rechts rein hat kürzlich ein neues Hotel eröffnet. Dort gibt es wohl rollstuhlgeeignete Zimmer."
Sie fahren weiter und finden auf Anhieb das Hotel. „Kannst du mal nachfragen, ob sie hier tatsächlich ein geeignetes Zimmer haben?" fragt Nina ihre Assistentin. „Sonst steige ich gar nicht erst aus." Daniela verschwindet im Hotel. Nur einen Moment später ist sie wieder zurück. „Das kann doch nicht wahr sein. Die haben hier tatsächlich zwei Zimmer, überleg mal, zwei von 158 Zimmern, die wohl total barrierefrei sind. Leider haben sie kein Behinderten-WC im Restaurant. Und beide Zimmer sind schon belegt. Was machen wir jetzt?" Nina überlegt: „Ich glaub wir fahren zurück auf die Autobahn und nach Hause. Was bleibt uns anderes übrig? Bei einer der nächsten Raststätten gibt’s bestimmt ein Klo. Fragt sich nur, wie lange wir bis dahin brauchen. Ich hab schon richtige Bauchschmerzen. – Und hoffentlich schlafe ich nicht vor lauter Übermüdung ein. Aber noch mehr Städte abklappern, ohne sicher zu sein, ob wir überhaupt was finden; dazu habe ich auch keinen Nerv mehr."
Sie lässt das Auto an und will gerade losfahren, als es an der Beifahrerseite ans Fenster klopft. Draußen steht ein Mitarbeiter des Hotels. „Ich habe gerade mitbekommen, dass Sie dringend ein Zimmer suchen. Ich wollte keine falschen Hoffnungen wecken. Darum habe ich erst bei meiner Schwester angerufen, ob sie zu Hause ist und nicht zufällig gerade Besuch hat. Sie ist nämlich auch Rollstuhlfahrerin und hat ein eigenes Haus mit Gästezimmer. Also, wenn Sie wollen, sind Sie bei ihr für diese Nacht herzlich willkommen. Morgen soll das Wetter ja wieder besser werden. Da können sie dann rechtzeitig zum Heiligen Abend weiterfahren. Ich beschreibe Ihnen gerade noch den Weg. Es sind nur ein paar hundert Meter."
Nina und Daniela bedanken sich. Zwischenzeitlich schneit es nicht mehr so stark und schnell ist das Haus gefunden. Sie werden schon erwartet. Im hell erleuchteten Eingang sitzt eine Frau im Rollstuhl und ruft: „Kommen Sie nur herein. Hier ist es warm und etwas zu Essen mache ich Ihnen auch gleich." Erleichtert steigen die beiden müden Frauen aus dem Auto und gehen bzw. fahren in das gemütliche Haus, in dem schon die Betten für sie bezogen werden.
„Es ist 9.07 Uhr. Nach den vielen Staus der vergangenen Nacht liegen uns heute Morgen keine Meldungen über Verkehrstörungen vor. Wir wünschen ihnen eine gute Fahrt" lautet die Stimme aus dem Radio. „Auch ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt und fröhliche Weihnachten" verabschiedet sich die Gastgeberin von ihren dankbaren Übernachtungsgästen. „Wenn Sie mal in unsere Gegend kommen, müssen Sie uns auf jeden Fall besuchen. Sie sind uns jederzeit herzlich willkommen. Und vielen, vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft" bedanken sich Nina und Daniela zum Abschied. bevor es Richtung Heimat geht.
Elke Bartz (†)
Weihnachten 2000