Es wird einmal sein…
Von Elke Bartz (†)
Es
ist der Heilige Abend. Der Heilige Abend im Jahre 2030. Eine dünne
Schneedecke überzuckert Gärten, Häuser und Straßen.
Viel hat es nicht geschneit. Doch alle freuen sich, dass es überhaupt
etwas weiß ist, denn die Winter sind nicht mehr so kalt, wie noch
vor ein paar Jahren. Weiße Weihnachten gibt es immer seltener.
Es
ist schon dunkel und die Kirchenglocken laden läutend zum Besuch
des Gottesdienstes ein. Viele Menschen folgen der Einladung. Da kommt
gerade eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Sie strebt auf den hell
erleuchteten und festlich geschmückten Eingang der Kirche zu. Ein
paar Meter weiter hält ein Linienbus an. Eine automatische Rampe
klappt aus und ein kleiner Junge im Elektrorollstuhl fährt heraus.
Er wird von seinen Eltern, seiner Oma und seiner großen Schwester
begleitet.
Schon
in der Kirche angekommen, suchen sich eine gehörlose Frau und ihr
hörender Mann einen guten Platz, damit die Frau nachher die Gebärdensprachdolmetscherin
gut sehen und dem Gottesdienst folgen kann. Etwas am Rande hat sich
ein blinder Mann postiert. Er möchte nicht mitten auf der Bank
sitzen, weil sein Führhund sonst nicht genügend Platz findet.
Um ihn herum ist es unruhig, denn die Kinder können kaum erwarten,
dass es losgeht. Sie freuen sich schon auf das angekündigte Krippenspiel.
Unter ihnen ist ein kleines Mädchen mit Down-Syndrom, das zum ersten
Mal mitspielen darf und vor Aufregung hin und her hüpft. Seine
Mutter zupft sein Kostüm noch etwas zurecht.
Die
Kirche ist nun bis zum letzten Platz gefüllt. Es herrscht eine
feierliche Stimmung. Der Gottesdienst beginnt. Nach dem Krippenspiel,
einigen Gebeten und Liedern ist es Zeit für die Predigt. Der Pfarrer
steigt auf die Kanzel und beginnt:
"Liebe
Gemeinde, heute möchte ich euch eine etwas andere Botschaft überbringen
als sonst am Heiligen Abend üblich. Wenn ich mich umschaue, sehe
ich junge und alte Menschen, behinderte und nicht behinderte. Was die
ganz jungen unter euch nicht mehr wissen, möchte ich heute berichten.
Es ist nämlich noch nicht lange möglich, dass Jung und Alt,
Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam den Heiligen Abend in unserer
Kirche feiern können. Wie es gekommen ist, dass dies heute ganz
normal ist, möchte ich euch nun erzählen:
Schauen
wir in das Jahr 2006. Viele behinderte und alte Menschen leben in Heimen,
andere alleine oder mit ihren Familien in eigenen Wohnungen, manche
auch in Betreutem Wohnen. Einige von ihnen brauchen Hilfe zur Pflege,
zur Haushaltsführung, bei der Arbeit und bei der Freizeitgestaltung.
Das kostet Geld. Da die wenigsten dieser Menschen genügend Geld
haben, um die Hilfen selbst bezahlen zu können, brauchen sie die
Unterstützung durch die Sozialämter. Diese sehen die Hilfeleistungen
jedoch nicht als Nachteilsausgleiche, sondern als Fürsorgegaben,
für die die betroffenen Menschen dankbar zu sein haben. Und darum
wollen sie - also die Sozialhilfeträger und damit die Kommunen
- nur die billigsten Hilfeleistungen bezahlen. ‚Die Kassen der
öffentlichen Haushalte sind leer', klagen sie. ‚Alle müssen
Kürzungen hinnehmen. Da geht es nicht, dass behinderte und alte
Menschen selbst bestimmen, wo und wie sie leben wollen. Wer auf unsere
Kosten lebt, muss sich nun mal einschränken".
Und
während sie so laut jammern, kommen die verantwortlichen Landespolitiker,
ihnen voran die aus den südlichen Bundesländern, auf eine
Idee, die Kosten sparen soll: Wir bauen einfach ein paar große
Reservate, die komplett barrierefrei sind. Da wohnen dann alle Alten
und Behinderten. Da kommen Arztpraxen, Krankenhäuser, Theater,
Geschäfte und alles, was sonst so gebraucht wird, hin. Und die
Hilfen bekommen sie dann von Servicezentren. Alle, die Barrierefreiheit
einfordern oder von uns Hilfe bezahlt haben wollen, werden dort leben.
Als Gleiche unter Gleichen werden sie sich sehr wohl fühlen.
Außerdem
können wir viel Geld sparen, denn wenn alle Alten und Behinderten
in diesen Reservaten wohnen, müssen wir unsere anderen Städte
nicht mehr barrierefrei planen, keine zugänglichen öffentlichen
Verkehrsmittel anschaffen, keine Automaten behindertengerecht gestalten
usw. Die Angehörigen bekommen kostenlose Freifahrten, damit sie
ihre alten und behinderten Familienmitglieder besuchen können und
so auch zufrieden sind.
Die
Proteste der behinderten und alten Menschen und ihrer Angehörigen,
die zusammen leben wollen, verhallen ungehört. Ihnen wird erzählt,
dass die alten und behinderten Menschen sich fügen und in die neuen
Reservate müssen. Sonst sind sie Schuld, wenn die Kommunen pleite
gehen, die Arbeitslosenzahlen steigen und eine Hungersnot ausbricht.
Und
so setzen sie ihre Pläne um. Was mit der Einführung der Mautgebühren
auf den Autobahnen nicht geklappt hat, funktioniert beim Bau der barrierefreien
Reservate hervorragend. Schon nach vier Jahren, also im Jahr 2010, ziehen
die ersten alten und behinderten Menschen in die eigens für sie
gebauten Orte um.
Es
gibt Arztpraxen, Geschäfte, Kinos, Theater usw., die alle barrierefrei
ausgestattet sind. Für blinde und schlecht sehende Menschen gibt
es akustische, für gehörlose und schwerhörige optische
Hilfen. Menschen mit Lernschwierigkeiten finden überall Informationen
in leichter Sprache. Pflegebedürftige haben Pflegestützpunkte
in ihrer unmittelbaren Nähe. Es ist alles vorhanden, was behinderte
Menschen immer gefordert haben.
Nur
eines fehlt: Das ganz normale Zusammenleben mit Nichtbehinderten. Die
kommen nur zum Arbeiten als Ärzte, Therapeuten, Pfleger, Geschäftsleute,
als Verwaltungsmitarbeiter oder aber als Besucher in die Reservate.
Nur noch wenige alte und behinderte Menschen leben außerhalb dieser
Orte. Die werden von ihren Angehörigen versorgt, so dass keine
Kosten entstehen. Diejenigen, die noch die Kraft haben sich gegen die
Isolation zu wehren, die auf keinen Fall in die Reservate ziehen wollen,
sehen sich mit immer neu entstehenden Barrieren gegenüber. Denn
die Kommunen müssen nicht mehr barrierefrei bauen, die Verkehrsbetriebe
keine barrierefreien Verkehrsmittel mehr anschaffen, die Arbeitgeber
keine behinderten Mitarbeiter mehr beschäftigen (die sollen in
ihren Reservaten arbeiten!)… Diejenigen, die diese Reservate geplant
und gebaut haben, klopfen sich auf die Schultern und freuen sich über
ihre geniale Idee, Geld sparen zu können".
Hier
macht der Pfarrer eine kurze Pause. Die Kirchenbesucher schweigen betroffen.
Die älteren unter ihnen erinnern sich mit Erschaudern an das, was
sie längst verdrängt hatten. Die Jüngeren können
kaum verstehen, dass sie nicht eine schreckliche Geschichte, sondern
die reale Vergangenheit erzählt bekommen.
Nach
einer kurzen Pause fährt der Pfarrer fort: "So gehen ein paar
Jahre ins Land. Wir zählen nun das Jahr 2014. Es ist kurz vor Weihnachten.
Die Ministerpräsidenten der Bundesländer wollen vor dem Jahresende
noch einmal zu einer Tagung in München zusammenkommen. Anschließend
wollen sie sich alle gemeinsam mit ihren Familien zu einer Weihnachtsfeier
treffen. Während die Ministerpräsidenten tagen, gibt es ein
Programm für deren schon fast erwachsenen Kinder. Mit einem Kleinbus
soll es in die Berge zum Ski fahren gehen.
Auf
dem Weg dorthin geschieht das Unfassbare. Auf schneeglatter Fahrbahn
gerät der Bus ins Schleudern und stürzt eine Böschung
hinab. Die schnell herbei geeilten Retter können glücklicherweise
alle Passagiere lebend retten. Doch einige sind schwer verletzt.
Im
Krankenhaus stellt sich heraus, dass der 19-jährige Sohn eines
Ministerpräsidenten ab dem fünften Halswirbel querschnittgelähmt
bleiben wird. Eine 21-jährige Tochter einer Ministerpräsidentin
wurde durch Glassplitter so schwer an den Augen verletzt, dass sie blind
bleiben wird. Die anderen tragen Verletzungen davon, die mit der Zeit
verheilen.
Die
beiden nun behinderten Kinder der Ministerpräsidenten erhalten
die bestmögliche medizinische Rehabilitation und alle notwendigen
technischen Hilfen. Sie wollen jedoch nicht in die für Behinderte
bestimmten Reservate ziehen. Vielmehr wollen sie ihr Studium ganz normal
an der Universität fortsetzen und später mitten in der Gemeinschaft
leben und arbeiten. Doch das ist in Deutschland nicht mehr möglich.
Es gibt keine barrierefreie Universität mehr, die auf die speziellen
Bedürfnisse behinderter Menschen eingerichtet ist. Und wer wie
der querschnittgelähmte junge Mann auf personelle Hilfen angewiesen
ist, muss qua Gesetz ohnehin in das Reservat ziehen. Nur dort steht
bezahlte Hilfe zur Verfügung. - Nicht nur einmal fragen die Beiden
ihre Eltern, wer solche Gesetze, die ihnen ein ganz normales Leben mit
Behinderung unmöglich machen, beschlossen hat.
Da
sie nicht länger in Deutschland bleiben wollen, entschließen
sich die beiden Studierenden, ihre Heimat zu verlassen und nach Amerika
zu ziehen. Die englische Sprache beherrschen sie; und sie wissen, dass
sie in Amerika barrierefreie Städte mit barrierefreien Universitäten
vorfinden. Und die Assistenz lässt sich ebenfalls unproblematisch
organisieren.
Nun
sind Ministerpräsidenten auch nur Menschen, die ihre Kinder lieben
und sie möglichst in ihrer Nähe haben wollen. Sie beginnen
zu begreifen, dass behinderte nicht nur unter anderen behinderten Menschen
leben wollen. Sie beginnen zu verstehen, dass Behinderung kein Ausschlusskriterium
sein darf. Sie können plötzlich nachvollziehen, dass Geld
nicht das wichtigste im Leben ist, dass es viel wichtiger ist, in einer
humanitären, solidarischen Gesellschaft zu leben, in der man sich
gegenseitig unterstützt. Da sie die Macht haben beginnen sie, die
Gesetze zu ändern. In den geänderten Gesetzen steht, dass
nur noch barrierefrei gebaut werden darf, dass alle Menschen mitten
in der Gemeinde leben können und dort die notwendigen Hilfen bekommen.
Es
dauert noch ein paar Jahre. Doch dann sind die meisten Barrieren beseitigt:
Es gibt genügend geeigneten Wohnraum, Arbeitsplätze, die auf
die besonderen Bedürfnisse der Einzelnen eingerichtet sind, nur
noch integrative Kindergärten und Schulen und entsprechende Freizeitangebote
für alle. Hilfsangebote und Assistenz stehen im notwendigen Umfang
zur Verfügung und werden als Nachteilsausgleiche gewährt.
Niemand wird als minderwertig behandelt, nur weil er auf Hilfen angewiesen
ist". Der Pfarrer blickt auf seine immer noch schweigende Gemeinde.
Nur einige seufzen leise auf, weil sie froh sind, im Jahr 2030 zu leben,
in dem das Miteinander selbstverständlich ist. Mitten in die Betroffenheit
hinein platzt die Stimme eines vielleicht zwölfjährigen Mädchens.
"Was ist denn aus den beiden Ministerpräsidentenkindern geworden?
Dem blinden und dem querschnittgelähmten?" fragt es. "Die
leben und arbeiten schon längst wieder in Deutschland. Sie haben
ja auch keinen Grund mehr ihrer Heimat fernzubleiben", antwortet
der Pfarrer.