von Dr. Klaus Mück
Wie alle Jahre wieder begann zum Ende des Jahres eine zunehmend ansteigende betriebsame Hektik bei der Vorbereitung des Convents. Nicht dass für alle Beteiligten der Termin schon immer klar war, aber jeder hatte nun mal so seine Aufgaben und die galt es das ganze Jahr über zu erfüllen. Seit die technische Überprüfung der Betriebsmittel eingeführt worden und ein Fitness-Training zu absolvieren war, gab es zwar deutlich weniger Unfälle und eine Verbesserung der Auslieferungsstatistik, aber auch mehr Checklisten abzuarbeiten und mehr zu organisieren.
Dabei hatten die Menschen die absurdesten Vorstellungen, was Weihnachtsmänner anging. Das ganze Jahr faulenzen und am Ende des Jahres ein paar Geschenke verteilen – toller Job muss das sein! Darüber könnte man ja noch schmunzeln und über den Dingen stehen. Verletzend war es aber schon, wenn daran gezweifelt wurde, dass es sie überhaupt gäbe! Angeblich gäbe es sogar Beweise für die Nicht-Existenz, basierend auf Berechnungen, dass soundsoviel Millionen Kinder gar nicht gleichzeitig von einem einzigen Weihnachtsmann mit Geschenken versorgt werden könnten. Ok, zugegeben, es gab in den letzten Jahren Probleme mit der rechtzeitigen Verteilung. Aber die exponentiell wachsende Zahl von Menschenkindern stellte auch ganz neue noch nie dagewesene Herausforderungen. Das Outsourcing an diverse Paketdienste war zwar zum Teil erfolgreich, aber die Übertragung von weihnachtlichen Aufgaben an die Eltern hat die Zweifel an der Existenz des Weihnachtsmannes eher gefördert. Wie überall gab es Fehler, die nicht erkannt und deshalb wiederholt gemacht wurden. Die nicht ganz unumstrittene Einführung einer Controlling-Abteilung brachte entgegen der Meinung einiger Kritiker durchaus gewisse Fortschritte, aber mancher Erfolg braucht eben seine Zeit und die gemeinsame Bemühung aller Beteiligten. Nicht jeder konnte sich daran gewöhnen, dass der Schlitten regelmäßig zu warten war, die Rentiere einem Gesundheits-Checkup unterzogen werden mussten und auch das Fitness-Programm gerade für ältere Kollegen nun ja, sagen wir mal, etwas ehrgeizig war.
Schmunzeln musste man aber schon, wie die Menschen so Manches sahen. Die Sternschnuppen, die sich gerade viele Verliebte im August ansahen, werden von den Menschen dadurch erklärt, dass Meteorströme die Erdbahn kreuzen und in der Atmosphäre verglühen. Perseiden im August, Leoniden im November und Geminiden im Dezember. Gerade im August waren jedoch die Hochgeschwindigkeitstests der Schlitten angesetzt und die erzeugten nun mal beim Abbremsen mit ihren Kufen entsprechende Lichterscheinungen. Nicht jeder schaffte diese Prüfung und so musste repariert und neu getestet werden, eben im November und die letzten im Dezember, vereinzelt aber auch schon mal noch unter dem Jahr. Die Technik-Abteilung konnte sich über Mangel an Arbeit jedenfalls nicht beklagen.
Warum die Menschen jedoch die Vorstellung eines einzelnen Weihnachtsmannes hatten, konnten sich die Weihnachtsmänner nur dadurch erklären, dass ein Getränkehersteller diese Vorstellung forcierte und ihnen auch noch ein einheitliches Erscheinungsbild gab. Wie sollten die Menschen nun feststellen können, dass es ganz viele von ihnen gab? Darüber hinaus standen nun allerorts die Kaufhaus-Weihnachtsmänner in diesen kitschigen roten Kostümen mit angeklebten weißen Rauschebärten herum. Wie absurd! Völlig vergessen wurde dabei ein ganz bekannter Vertreter aus Urzeiten von ihnen: Nikolaus von Myra, der im 4. Jahrhundert n.Chr. als Bischof den Menschen in Erscheinung getreten ist und heute als St. Nikolaus mit Knecht Ruprecht hausiert. Doch eigentlich hatten sie alle einen Ehrenkodex einzuhalten, der es ihnen nur in zuvor vom Convent genehmigten Ausnahmefällen gestattete, mit den Menschen direkt in Kontakt zu treten …
So gab es auch dieses Jahr neben vielen eher schnell besprochenen Anliegen auch wieder Streitthemen, die der Convent auf der Tagesordnung hatte. Die Nachwuchsfrage war ein alljährliches Thema, damit eng verknüpft auch die Frage des Einsatzes von Weihnachtsfrauen – was viele für viel zu gefährlich hielten! Man denke nur daran, wenn die Rentiere mal wieder versuchen wollten auszubüchsen oder durch irgendwelche neumodischen Raketenstarts aus dem Tritt kämen!
Aber der Convent in der Vorweihnachtszeit war eher dafür vorgesehen, dass darüber gesprochen wurde, wie man den Menschen eine Freude bereiten könnte und wie man anderen Menschen eher die Leviten lesen sollte. Nicht selten hing auch beides miteinander zusammen. Da hatten die Menschen es endlich geschafft, international die Rechte der Menschen mit Behinderungen in einem bemerkenswerten Dokument festzuschreiben, schon gab es wieder eine Gruppe von Menschen, die befürchteten, dass dies zu weit ginge. Nun sollte besprochen werden, wie man hier unterstützend eingreifen könnte, damit die Menschen mit Behinderungen ihre garantierte volle und wirksame Teilhabe gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft leben können.
Ganz konkret gab es Menschen mit Assistenzbedarf, die gerne in einer Partnerschaft leben wollten. Menschen, die z.B. durch einen Unfall in diese Situation gekommen waren, also durch ein Ereignis, das ausnahmslos jeden treffen könnte. Eine Partnerschaft bei der alleine schon die körperlichen Einschränkungen großen Einfluss nehmen, wird durch die finanzielle Beteiligung an den Aufwendungen für die Assistenz die Luft zum gemeinsamen Leben genommen. Beide Partner werden bis zur Bedürftigkeitsgrenze mit ihrem Einkommen und Vermögen herangezogen.
Oder Menschen, die eine Schulbegleitung für ihren behinderten Sohn erst vor Gericht erstreiten mussten. Menschen, die in ein Heim sollen, das angeblich kostengünstiger sei, obwohl sie das Anrecht auf Assistenz hätten. Und immer und immer wieder das Totschlagargument mit den zu hohen und nicht bezahlbaren Kosten. Dabei gibt es da einen Bundesverband, der doch tatsächlich mal nachgerechnet hat, wie es sich wirklich verhält und Unglaubliches zu Tage befördert hat.
„Hiermit eröffne ich den diesjährigen Convent der Weihnachtsmänner!" Mit erhobener Stimme verkündete dies der altehrwürdige Präsident des Conventes, der dieses Amt nun seit 534 Jahren innehatte. Als es leise im Saal wurde, fuhr er fort: „Wie der Tagesordnung entnommen werden kann, gibt es einige sehr wichtige Anträge. Einen Antrag möchte ich hier jedoch besonders hervorheben und aufgrund seiner Dringlichkeit hinsichtlich seiner Umsetzung vorziehen. Es handelt sich um den Antrag Nr. 19. Ich bitte den Antragsteller um eine Erläuterung und gebe ihm das Wort …"
Bereits in einer Pause, als der Convent noch in vollem Gange war, traten die Weihnachtsmänner zusammen, die sich freiwillig gemeldet hatten, den Antrag Nr. 19 umzusetzen. Es kam nicht oft vor, dass Weihnachtsmänner einen solchen außergewöhnlichen Auftrag erhalten, um sich direkt mit den Menschen in Verbindung zu setzen. Dabei konnte viel passieren. Die größte Gefahr war, dass ein Weihnachtsmann nicht mehr rechtzeitig zurückkam und bei den Menschen bleiben musste. Nicht für immer, aber die Zeit bis zur nächsten Rückkehr konnte sehr lange werden. Doch es sollte alles gut gehen.
20. Dezember 2012
Im Bundeskanzleramt sah man die Bundeskanzlerin mit nachdenklichem Gesicht. Auch wenn sie sonst gut aber meist traumlos schlief, so hatte sie in der letzten Nacht einen sehr realen Traum, der, wenn sie es nicht besser wusste, auch Wirklichkeit hätte sein können. Sie sah sich im Traum an der Seite eines Mannes, der nach einem Unfall im Rollstuhl saß, angewiesen auf die Unterstützung durch andere. Trotzdem lebte er selbstbestimmt sein Leben. Dabei war sie nicht die Bundeskanzlerin, die von allen hofiert und geachtet wurde, sondern eine engagierte Frau, die ihren Mann liebte, die dafür kämpfte, dass sie ein gemeinsames Leben hatten trotz aller Einschränkungen und trotz der Notwendigkeit von Assistenz, die ihr Mann eben benötigte. Mit einem Mal wurde ihr konkret erfahrbar, welche Hürden der Gesetzgeber noch entfernen musste, um ein Leben mit voller und wirksamer Teilhabe gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft zu ermöglichen. Die Leitung der letzten Kabinettssitzung in diesem Jahr würde ihr heute schwerer fallen als sonst. Sie, die sonst mit Worten jonglieren konnte wie nur wenige andere, hatte Mühe, ihre Gedanken zu ordnen.
Doch als sie im Sitzungssaal auf ihre Ministerinnen und Minister traf, wurde ihr sofort bewusst, dass sie nicht die Einzige mit diesem Erlebnis war. Getrieben von einer inneren Unruhe sprach sie aus, was sich keiner zu sagen traute und man beschloss, das angekündigte Bundesleistungsgesetz für behinderte Menschen unverzüglich anzugehen. Darüber hinaus würde man den Ländern empfehlen, die ihnen obliegenden Sozialhilferichtlinien umgehend anzupassen und die Bedürftigkeitsvoraussetzung für behinderungsbedingte Leistungen zu streichen. Es musste jetzt schnell gehen, denn viel zu viel Lebenszeit der Betroffenen war bereits unwiderruflich in der Sanduhr des Lebens zerronnen …