Das Leben ist kein Zuckerschlecken (für die allermeisten!)
Die ForseA-Weihnachtsgeschichte 2016
von Walter Herbst, Leipzig / Wien
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Erinnern Sie sich noch an Rudichen, liebe Leserinnen und Leser? Wir haben ihn und seine Eltern Rudi und Rudine im vorvorigen Jahr, kurz vor Weihnachten, kennengelernt. Rudichen ist ein junges Rentier, das immer schon ein wenig anders war als die anderen Rentiere. An einem seiner Hinterläufe gab es da ein Problem, so dass Rudichen – anders als all die anderen Rentiere – nicht zum alljährlichen großen Geschenkeverteil - Big Business des Weihnachtsmannes eingespannt werden konnte. Also vor den Karren, pardon: Schlitten des rotbemützten Bärtigen gespannt. Stattdessen braucht Rudichen ständig Hilfe und Unterstützung, also Assistenz. Wir haben ihn vor knapp zwei Jahren verlassen, als er diese Assistenz bekommen hat, und er das Leben erstmals so richtig unter die Hufe nehmen konnte, wie man in Rentierhalterkreisen so treffend wie herzlich formuliert.
Nun, was ist seither in Rudichens Leben passiert – wie ist es ihm und seinen Lieben ergangen? Seine guten Eltern sind – nein, nicht tot, aber (so der Leiter der zuständigen VordenSchlittenspann-, pardon Geschenkelogistikabteilung, für die sie ihr Leben lang gearbeitet haben) irgendwie abgearbeitet und schwach und langsam und somit (natürlich!) für einen himmlisch modernen Betrieb wie seinen gänzlich unbrauchbar; mit einem Wort: sie mussten dringend verrentet werden. Rudi und Rudine verabschiedeten sich also in den wohlverdienten Ruhestand. Keine Ruhe stand den beiden Rentierrentnern aber natürlich vor dem Kostenträger von Rudichens Assistenz zu, denn der benutzte eine kleine, aber für ihn sehr nützliche Regelung im Rentiergesetzbuch (die uns irgendwie sehr an den §94 im deutschen SGBXII erinnert), um den beiden eine monatliche „Unterhaltszahlung" an ihren erwachsen gewordenen Sohn vorzuschreiben. Dass diese Zahlungen jeweils sofort an den Kostenträger umgeleitet wurden, mussten Rudi und Rudine natürlich einsehen. Das war alles rechtens, und man musste schon ein sehr böser Onkel mit einer sehr spitzen Zunge sein, um derartige Zahlungsvorschreibungen etwa als „Strafsteuer" für Eltern behinderter Kinder zu bezeichnen.
Hatten wir erwähnt, dass Rudichen inzwischen ganz erwachsen geworden war? Weil dies so war, und weil die Dinge bei den Rentieren oft ganz ähnlich laufen wie bei uns Menschen, schaute sich Rudichen, als es an der Zeit war, nach einer Partnerin um, die ihr Leben mit ihm teilen würde. Seine Angebetete hieß Rudolfine, aber er nannte sie nur Silke. Ruck-zuck, auf Rentierart, wurde geheiratet, und die Flitterwochen waren herrlich: Rudichen konnte nicht genug davon bekommen, den Niagarafällen beim Fallen zuzusehen, und Rudolfine verbrauchte sechs Paar Gummistiefel. Sie hatte, wie fast alle Rentiere, zwölf Beine: zwei vorn, zwei hinten, zwei links, zwei rechts, und in jeder Ecke eins. Doch Sie ahnen es schon, liebe Leserinnen (und Leser!), nach dieser unbeschwerten Zeit (Rudichen konnte halbe Nächte lang die Beine seiner lieben Frau nachzählen) kam für die beiden Verliebten die Ernüchterung: Als Ehepartnerin eines Assistenznehmers ohne eigenes Erwerbseinkommen wurde Rudolfine vom Kostenträger zur Zahlung herangezogen, sie musste also einen Teil ihres Einkommens für die Assistenz ihres Mannes abgeben. Auch ihr gemeinsam gefasster Plan, ein Haus zu bauen oder zu kaufen, erwies sich als undurchführbar: Ansparen war natürlich nicht gestattet! Die beiden mussten lernen, dass es da sehr strikte Vermögensfreigrenzen gab. Als Rudolfine durch eine Erbschaft (ihre zwölfbeinige Erbtante Daphne war verstorben) zu genügend Mitteln kam, um sich den Traum vom gemeinsamen Haus doch noch zu verwirklichen, griff der Kostenträger auch auf diese Mittel zu. Vorhandenes Vermögen ist für die Assistenz einzusetzen, erklärte man ihnen. Obwohl Rudolfine voll berufstätig war (natürlich für den rotbemützten Bärtigen), wurde ihre Arbeitskraft in die Bedarfsrechnung für Rudichens Assistenz voll einberechnet. Der himmlische Kostenträger beschied ihr, dass es ihr (und ihrem Mann) zumutbar ist, dass sie jederzeit – also auch nachts und an Wochenenden – pflegerische Dienste an ihrem Mann erbringt. Nach eineinhalb Jahren musste Rudolfine einsehen, dass es für sie nur entweder den direkten Weg in den Burnout gab, oder die Trennung. Schweren Herzens trennten sich die beiden, und Rudichen sah ein, dass – sollte er sich je wieder verlieben – für behinderte Rentiere wie ihn nur eine ganz und gar „inoffizielle", heimliche Beziehung in Frage kommt. Er glaubte zwar, irgendwann und irgendwo mal etwas von einem Grundrecht für Rentiere auf Ehe und Familie gehört zu haben,, aber da musste er sich wohl getäuscht haben.
Nicht lange danach hatte Rudichen das Pech, krank zu werden. Sehr krank. So krank, dass er ins Rentierkrankenhaus musste. Das hattte natürlich Konsequenzen. Für ihn. Als erstes erklärte der Chefarzt (wow!) der Intensivstation, in die Rudichen gebracht worden war, dass es ganz unmöglich sei, Rudichens Assistenten auf seiner (wow!) Station aufzunehmen. Als zweites erklärte die Sachbearbeiterin vom himmlischen Kostenträger, dass sie die spitze Abrechnung, die Rudichens Exfrau für das abgelaufene Monat vor Rudichens Erkrankung – aus Freundschaft und alter Verbundenheit – für ihn durchgeführt und eingereicht hatte, während er im Krankenhaus im Koma lag, leider nicht bearbeiten könne; Rudolfine habe ja schließlich keine Vollmacht! Als drittes erklärte nach vier Wochen die pflegegeldauszahlende Stelle, dass sie die Zahlungen an Rudichen einstelle, denn das Pflegegeld ruhe ja bekanntlich nach 28 Tagen Aufenthalt des Empfängers in einem Krankenhaus, und eine andere Regelung, etwa für Rentiere mit einer Betriebsnummer, die ihre Pflege in einem Arbeitgebermodell mit eigenen Pflegekräften organisieren, sei dortamts völlig unbekannt und könne es deshalb gar nicht geben (wow!). Als viertes schließlich erklärte der himmlische Kostenträger für Rudichens Behandlungspflege, dass er Behandlungspflegekosten für die Zeit seines Krankenhausaufenthaltes selbstverständlich nicht tragen könne, da diese häusliche Behandlungspflege ja bekanntlich während eines Krankenhausaufenthaltes ruhe. Das müsse ja so sein, denn alle Behandlungspflege für Rudichen werde ja vom Rentierkrankenhaus erbracht, und da seien Rudichens arbeitsrechtliche Verpflichtungen gegenüber seinen Assistenten gänzlich irrelevant, und gegenteilige höchstgerichtliche Entscheidungen (wie z.B. LSG Schleswig-Holstein, L5KR144/13B) seien dortamts völlig unbekannt.
Und wie ist es Rudichen im Rentierkrankenhaus ergangen? Nun, nachdem seine Assistenten den Herrn Doktor Wichtig Chefarzt (wow!) lang genug bekniet hatten, gestattete dieser, dass die Assistenten zumindest tagsüber stundenweise bei Rudichen sein durften. Als es Rudichen nach vielen Wochen in der Intensivstation ein wenig besser ging und er für eine Operation in ein anderes Rentierkrankenhaus verlegt wurde, staunten seine Assistenten nicht schlecht: Der dortige Chefarzt agierte nämlich ganz anders als sein geschätzter Kollege. Er ließ sofort ein zweites Bett in Rudichens Zimmer stellen, und die Assistenten bekamen die vollen Hotelleistungen, die ihnen in so einem Fall zustehen, nämlich Nächtigung und Vollpension. Ach ja, nicht vergessen dürfen wir zu erwähnen, dass dies bereits in einem Isolierzimmer geschehen ist. Denn in dem Rentierkrankenhaus, in dem Rudichen so viele Wochen lang in der Intensivstation lag, hat man ihm einen mit multiresistenten Keimen belasteten Hochrisikopatienten mit ins Zimmer gelegt. Konsequenz daraus war u.a., dass viele Tage lang nicht klar war, ob Rudichen auch mit diesen oft tödlichen Keimen angesteckt worden war, und dass er nur mit Schutzkleidung, behandelt, gepflegt, besucht und transportiert werden durfte und er auch in dem zweiten Krankenhaus als so genannte „Kontaktperson" zu multiresistenten Keimen ins Isolierzimmer gesteckt werden musste. Mit der eigenen Assistenz im Zimmer statt des keimbelasteten Hochrisikopatienten wäre das nicht passiert!
Wir hatten erwähnt, dass es Rudichen nach vielen Wochen in der Intensivstation etwas besser ging; allerdings war er noch weit davon entfernt, dass es ihm etwa gut ging. Er musste immer noch zeitweise beatmet werden, und so erklärten ihm die Ärzte (in ihrer gewohnt einfühlsamen Art), dass sie bzw. ihr gewinnträchtiges Intensivbett wirklich nicht dazu da seien, die Entwöhnung von der Beatmung durchzuführen. Dies ginge am besten in einer Reha. Also beantragte Rudichen eine Reha. Und bekam von seiner himmlischen Krankenkasse eine prompte Ablehnung. Es gehe aus der Aktenlage ganz eindeutig hervor, dass bei Rudichen kein ausreichendes Rehabilitationspotenzial vorhanden sei; bei ihm habe die Pflege im Vordergrund zu stehen. Mit anderen Worten: Rudichen, Du bist ein Pflegefall, finde Dich damit ab und beantrage nicht solche kostspielige Sachen! Die Konsequenz aus der Ablehnung war, dass Rudichen aus dem Krankenhaus statt in die dringend benötigte Anschlussreha erst mal nach Hause entlassen wurde. Erst nach Interventionen an höherer Stelle durch einen sehr guten Freund, der bei weitem wortgewaltiger ist als Rudichen, wurde die Reha dann ganz plötzlich doch genehmigt. In der Rehaklinik erholte sich Rudichen dann ganz gut, und er konnte sogar ein wenig schmunzeln über die dortige wirklich drollige Variante des Spieles „Wir kennen die Gesetze nicht" (in Deutschland würde die Spielvariante lauten: „Wir kennen §11 (3) SGB V nicht, ehrlich!"), das man dort mit Rudichen und seinen Assistenten spielte: Eine Liege wurde ihnen in Rudichens Zimmer gestellt. Verpflegung gab's für sie aber nicht. Es bestünde ja die Möglichkeit, für 17 Rentiertaler pro Tag in der Mitarbeiterkantine zu essen...
So also, liebe Leserinnen und Leser, ist es Rudichen ergangen, seit wir vor knapp zwei Jahren zuletzt von ihm berichtet haben. Dass ihn die diversen Schicksalsschläge und bürokratischen Absurditäten nicht gerade froh machten, können Sie sich bestimmt vorstellen. Manchmal musste er an ein Gedicht denken, das er kürzlich in dieser Zeitschrift gelesen hatte. Darin hieß es:
„Doch geht es immer weiter, ein Ende siehst Du nie.
Du bist ein Körnchen Sand in der Sozialbürokratie."
Da hatte ihm der Autor wirklich aus dem Herzen gesprochen, und manchmal fragte sich Rudichen, ob das alles wirklich so sein müsse. Er war ein Rentier, soviel stand fest, kein Sandkorn. Also musste es etwas oder jemanden geben, der ihn zum Sandkorn machte. Manchmal empfand er all die sachunkundigen Sachbearbeiter, die ahnungslosen Ärzte und die bürokratieverliebten Behörden wie eine einzige große Maschine, die Rentiere zu Sandkörnern zerkleinerte und mahlte und mahlte, bis sie so klein und schwach waren, dass sie sich gegen nichts mehr wehren konnten und alles mit sich machen ließen. Und manchmal fragte sich Rudichen, wer denn da an den Hebeln dieser „Machine" sitzen mag, die so zuverlässig funktionierte: oben Rentiere rein, shreddern, unten Sandkörner raus? Alle, die Rudichen fragte, sagten, das ist die Gesellschaft, oder: die Verhältnisse, oder: die Sachzwänge. Und doch wurde Rudichen das Gefühl nicht los, dass es in der himmlischen Gesellschaft, in der er lebte, doch jemanden geben müsse, der all diese Regeln und Gesetze und Abläufe bestimmt, und somit zuständig und verantwortlich ist für die Art und Weise, wie mit Rentieren wie ihm umgegangen wird. Und wissen Sie was? Rudichen hatte recht. Es gab tatsächlich eine himmlische Funktionsträgerin (hier auf Erden würden wir sagen: eine Ministerin), die viele willige Rentiere (hier auf Erden würden wir sagen: Beamte) damit beschäftigte, Gesetze zu formulieren, die festlegten, wie die Gesellschaft mit Rentieren wie Rudichen umgehen soll.
Dieser Funktionsträgerin – nennen wir sie Frau Mahles, weil sie doch die Mahlmaschinerie so gut beherrscht – ist es in den letzten Jahren, ganz im Gegensatz zu Rudichen, sehr gut ergangen! Kein Wunder. Sie hat eine große Aufgabe bravourös gemeistert, und das ganz ohne eigene Arbeit: Die Aufgabe war, ein Teilhabegesetz für behinderte Rentiere zu schaffen, das garantiert, dass sie Verhältnisse so bleiben, wie sie bisher waren, dass also Fürsorge, Kontrolle und Machtausübung von oben fortgesetzt werden können, statt dass eine echte Teilhabe auf Augenhöhe möglich würde. Dazu hatte sie sich einen tollen Plan zurechtgelegt: Sie würde das Gesetz Rentierteilhabegesetz nennen, aber es würde eine Mogelpackung sein! Sie würde einen Rentierbeteiligungsprozess einleiten, der keiner ist (weil, was auch immer die dazu eingeladenen behinderten Rentiere einbrachten, nicht in das Gesetz aufgenommen wurde). Sie würde die wahren Ziele des Gesetzes verschweigen, nämlich dass es ganz simpel ein Spargesetz sein sollte und die neue Sichtweise auf behinderte Rentiere aushebeln sollte, die die seit 2009 gültige Behindertenrechtskonvention vorschrieb – nämlich als gleichberechtigte Partner statt als zu bevormundende Objekte staatlicher Gewalt. Dies alles zum Wohl von Sozialkonzernen und Pflegeheimlobby – aber selbstredend würde Frau Mahles auch niemals Profiteure ihrer Gesetzgebung benennen!
Und weil sie und ihr Beamten- - pardon: Rentierapparat – so geübt darin sind, Giftzähne in umfangreichen Gesetzestexten zu verstecken, war das „wie" gar kein Problem mehr: man musste nur ein paar schön verpackte „Bonbons" für einige wenige Betroffene in das Gesetz einbauen, gleichzeitig diverse Ermessensspielräume für Behörden vergrößern, das Wunsch- und Wahlrecht für behinderte Bürger (pardon: Rentiere!) einschränken, Zumutbarkeitsklauseln und Kostenvorbehalte perpetuieren, das Ganze dann mit unverschämt kurzen Rücklauffristen zur Begutachtung aussenden, und schon konnte man sich sicher sein, dass das Werk gelungen und der Zweck erfüllt war!
Wie gesagt: Frau Mahles hatte eine gute Zeit, und die Konsequenzen, die ihr Teilhabegesetz, das in Wahrheit ein Teilhabeverhinderungsgesetz war, für Rudichen und unzählige andere Betroffene haben würde – vom zwangsweisen Poolen von Assistenzleistungen bis hin zur möglichen Kündigung seiner Versorgung – waren ihr herzlich egal. Man konnte sich (als eine so bedeutende Persönlichkeit!) schließlich nicht um jede Befindlichkeit und jeden Wunsch kümmern, Weihnachten hin oder her. Dass es den Betroffenen dabei jedoch nicht um Wünsche, sondern um den ihnen nach der Behindertenrechtskonvention und dem Grundgesetz für Rentiere zustehenden Nachteilsausgleich geht, das hat Frau Mahles freilich noch nie gehört – denn: Wer hört schon auf ein paar selbst gemahlene Sandkörner?
Frohe Weihnachten Ihnen allen!