von Gusti Steiner (1938-2004)
Ich bin 1938 geboren, habe einen fortschreitenden Muskelschwund, konnte
die ersten 10 Jahre meines Lebens noch laufen und besuchte von 1946
bis 1950 in Frankfurt die Grundschule. Anschließend ging ich zu
einer Realschule und merkte bei meiner Entlassung 1956, dass mein weiterer
Lebensweg anders zu verlaufen drohte als der meiner Mitschüler.
Ich hatte all diese Jahre eine Regelschule besucht, weil zu dieser Zeit
das Sonderschulunwesen noch nicht so ausgeprägt war wie einige
Jahre später.
Trotz dieser Zufallsintegration gelang es mir 1956 nicht, eine Berufsausbildung
zu erhalten, ich fand trotz Bemühungen keine Lehrstelle. Ich begann
damals, Nachhilfeunterricht in verschiedenen Fächern zu geben.
Auf diese Weise sicherte ich bescheiden meine Existenz und füllte
mein Leben mit einer sinnvollen Aufgabe. Diese Tätigkeit übte
ich bis 1972 aus. Ich lebte bei meiner Mutter. Sie versorgte mich, half
mir bei allen möglichen Verrichtungen und gab mir die notwendige
Pflege. Als sie 1972 plötzlich starb, war ich mit einem Schlag
auf mich gestellt und musste mir überlegen, wie mein Leben weitergehen
sollte.
Ein Heim kam damals für mich nicht in Frage - ich kann heute nicht
mehr sagen, wieso ich eine solche Abneigung gegen Heime hatte. Fakt
war, ich begann in Frankfurt eine rollstuhlgerechte Wohnung zu suchen
und bemühte mich, mit dem Arbeitsamt abzuklären, was ich beruflich
als 34jähriger Rollstuhlfahrer machen könnte.
Bei der Wohnungssuche sagte man mir schon beim ersten Anruf, dass es
in Frankfurt keine einzige rollstuhlgerechte Wohnung gebe. Diese Auskunft
schien mir ganz unglaublich, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass
ich der einzige Rollstuhlfahrer in dieser Stadt sein sollte. Ich bemühte
mich weiter um eine zugängliche Wohnung und erhielt vom Wohnungsamt
die Anschriften einiger Altenwohnungen, die mehr zufällig rollstuhlzugänglich
waren. Bei dem Versuch, mir diese Wohnungen anzusehen, merkte ich sehr
schnell, dass die Öffentlichen Verkehrsmittel mit dem Rollstuhl
nicht zu benutzen waren und dass es keinen besonderen Fahrdienst für
mich gab. Diese Erfahrung war für mich vollkommen unakzeptabel:
Ich dachte mir, es kann doch eigentlich nicht sein, dass Rollstuhlfahrer
in einer Stadt nicht leben können. Ich verstand nicht, dass Politiker
die Bedarfe behinderter Menschen in ihren Entscheidungen unberücksichtigt
ließen.
Für mich war unsere Lebenssituation politisch verursacht - durch
politische Entscheidungen dieser Gesellschaft wurden wir zu Behinderten
und wir nahmen diese Rolle, die uns den Entscheidungen anderer unterwarf,
an.
Ernst Klee und ich - wir begannen im Oktober 1973 eine Behindertenarbeit
an der Volkshochschule Frankfurt, eine Behindertenarbeit, die genau
diese politische Situation, behindert zu werden und dadurch zum Behinderten
gemacht zu werden, aufgriff und dieses politische Konfliktfeld mit der
Selbsthilfegruppe aufsuchen und beackern wollte. Mein Ziel war dabei,
dass wir als Behinderte aus der Rolle des Objekts von Fremdbestimmung
zum Subjekt eigenen Handelns werden. Wir begannen im Januar 1974 die
direkte Arbeit mit einer Gruppe und hatten uns für Behinderte zum
Ziel gesetzt:
- Ãœberwindung der individuellen Isolation
- Erkennen eigener Bedürfnisse
- Selbstorganisation und Eigeninitiative
- Verhaltensänderung durch Lernerfahrungen
- Entwicklung eines eigenen Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls.
Nichtbehinderte wollten wir für die Probleme und Lebenssituation
Behinderter sensibilisieren, ihnen die Scheu vor uns nehmen und wir
strebten zwischen uns ein persönliches und damit normales Verhältnis
an. Wir waren als Behinderte aber entschlossen, uns vor allem der Wechselbeziehungen
"Behinderter - Umwelt" auszusetzen. Wir wollten Benachteiligungen nicht
resignierend hinnehmen, sondern als Herausforderung erleben, und hatten
uns vorgenommen, diese Herausforderung durch unsere eigenen Aktivitäten
beseitigen zu helfen. Der Alltag und seine Behinderungen waren unser
Lernfeld und ich war überzeugt, dass es möglich ist, unseren
Selbsthass in schöpferische Energie zu verwandeln. Der schöpferische
Umgang mit Konflikten sollte unsere Lust am eigenen Handeln wecken.
Wir gedachten, Schluss zu machen mit unserer resignativen Lebenshaltung
und der demütigen Ergebenheit, mit der wir all die Fremdbestimmung
über uns ergehen ließen.
Ernst Klee und ich hatten bei der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung
gelernt. Wir hatten dort gesehen, wie das Selbstverständliche,
das Normalste zu fordern auf den Widerstand der Obrigkeit stieß.
Schwarzen in den USA wurden wie uns die Bürger- und Menschenrechte
verweigert. Pete Seeger sang im Zusammenhang mit der amerikanischen
Bürgerrechtsbewegung ein für mich wunderbares Lied: Wenn ihr
mich im Mississippi vermisst, dann schwimm ich im Städtischen Schwimmbad!
Wenn ihr mich hinten im Bus vermisst, dann sitz ich vorn! Schwarzen
war es verboten, dass Städtische Schwimmbad aufzusuchen, sie durften
nicht vorn im Bus sitzen! Sie hatten sich hinten aufzuhalten.
Das erinnerte mich sehr an meine eigene Lebenssituation. Ich war durch
Stufen und Treppen, die von anderen, die Macht hatten, geplant und gebaut
wurden, aus Gebäuden ausgesperrt. Ich und andere Behinderte waren
durch die Art, Busse und Bahnen zu planen, zu bauen und einzusetzen,
aus den Öffentlichen Verkehrsmitteln ausgesperrt. Und genau das
hatte Auswirkungen auf unser Selbstbewusstsein! Wir mussten dahin, wo
diese Konflikte deutlich waren. Dort mussten wir unsere schöpferische
Energie einsetzen, um selbstbewusst auf die Probleme aufmerksam zu machen
und die behindernde Situation zu verändern. Eldridge Cleaver, ein
Anführer der Bürgerrechtsbewegung der amerikanischen Schwarzen
und einer der bedeutendsten Gesellschaftskritiker der Epoche, hatte
in seinem Buch "Seele auf Eis" (Cleaver, 1969) sehr eindrucksvoll geschildert,
wie das Selbstbewusstsein amerikanischer Schwarzer aus der Sklaverei
bis zur diskriminierten Bürgerrolle eines Apartheid-Regimes nur
noch eines wollte: Nicht schwarz sondern so wie Weiße zu sein.
Wir wollten als Behinderte - wenn wir ehrlich sind - nichtbehindert
sein! So wie die Schwarzen Nordamerikas mit Chemikalien versuchten ihre
Haut aufzuhellen, die Krausen ihres Haares zu glätten, so rannten
wir zu Ärzten und Therapeuten, um die Beeinträchtigung weg
zu kriegen - zu sein wie Nichtbehinderte. Die diskriminierten Schwarzen
der USA hatten uns vor Augen geführt, dass es Unsinn war, weiß
sein zu wollen. Ihr Slogan hieß: "Black is Beauty" (Schwarz ist
schön). Und sie zeigten ihr neues Selbstbewusstsein im Kampf gegen
die strukturelle Gewalt, gegen Benachteiligung und Diskriminierung im
Staat. Wir übernahmen den Kampfbegriff und wandelten ihn zu "Behindertsein
ist schön" (Klee, 1974).
Vor diesem Hintergrund kam es im Mai 1974 in Frankfurt mit unserer
Selbsthilfegruppe der Frankfurter Volkshochschule zur ersten spektakulären
Straßenbahnblockade durch Behinderte. Wir hatten bauliche Barrieren,
bauliche Behinderungen in direkter Konfrontation mit dem "Prädikat
Behindertenfeindlich" ausgezeichnet, hatten uns zwei Kriegsopferverbände,
das Sozialamt, die Allgemeine Ortskrankenkasse und das Gesundheitsamt
der Stadt Frankfurt aufs Korn genommen. Am Tage darauf veranstalteten
wir im Zentrum der Stadt Frankfurt ein Rollstuhl-Training, in dessen
Verlauf wir eine Straßenbahn blockierten. Ein Rollstuhlfahrer
versuchte, in die Straßenbahn einzusteigen. Stufen und eine Mittelstange
versperrten ihm den Zutritt. Währenddessen rollte ich auf die Schienen,
stellte mich vor die Straßenbahn und erklärte über ein
Megaphon, dass Busse, Straßenbahnen, U-Bahnen nicht für Behinderte
konstruiert wurden.
Die Straßenbahn zieht kurz an, eine Drohgeste, als wolle sie
weiterfahren, doch der Fahrer kann schließlich keinen Behinderten
überfahren und hält. Über Außenlautsprecher fordert
er mich (Gusti Steiner) auf, die Schiene freizugeben. Ich erwidere,
wenn ich mitfahren könne, sei ich sofort von den Schienen. (Klee,
1980, S. 242)
Ich erläuterte den Fahrgästen, dass ich ihnen deutlich machen
möchte, was Behinderung ist. Ich wies darauf hin, dass die Fahrgäste
jetzt erleben, nicht weiterfahren zu können, und dass ich und andere
Rollstuhlfahrer immer diese Situation, vor einer Straßenbahn zu
stehen und nicht reinzukommen, erlebten. Frankfurter Bürger sammelten
sich am Ort des Geschehens. Unabsichtlich blockierten sie mit uns die
Straßenbahn und den Verkehr. Einige stimmten uns zu und hielten
die Blockade für eine gute Sache. Andere beschimpften uns wüst,
versicherten, dass bei Hitler "so was vergast worden wäre". Dritte
wollten ein Maschinengewehr hineinhalten. Ich hatte nach 20 Minuten
die Schienen verlassen, nachdem ich noch einmal erklärte, dass
Behinderung eine sehr reale Sache sein kann und dass ich hoffte, die
Passanten hätten gespürt, wie sich Behinderte ständig
fühlen müssen, die aus Öffentlichen Verkehrsmitteln ausgesperrt
sind.
Unsere Selbsthilfegruppe hat weitere spektakuläre Aktionen mit
Pfiff und Spott durchgeführt: Wir schenkten der behindertensicheren
Hauptpost eine "Kurt-Gscheidle-Gedächtnisrampe" (Kurt Gscheidle
war der damalige Postminister), setzten einen Planungsdezernenten in
einen Rollstuhl, um die politisch verursachten Behinderungen im öffentlichen
Stadtbild zu verdeutlichen, und wir boten zum Weihnachtsfest im Stile
der Weihnachtsmänner über den Studentenschnelldienst Spastiker
gegen Kostenerstattung zum gefühlsduseligen Weihnachtsbetrieb an.
Weihnachtszeit ist Spendenzeit - auch für Behinderte, also drehten
wir das Prinzip um, und vermieteten unter der Ãœberschrift "Rent
a spasti" Spastiker ohne Sprachfehler für 7.88 DM die Stunde, solche
mit Sprachfehler zum Stundenpreis von 11.88 DM. Heimkinder, die für
jede kleine Hilfsgeste dankbar waren, gab es im Sonderangebot. So sollten
Bürger der Stadt in einer sinnentleerten Zeit ihrer Weihnachtsfeier
eine soziale Note geben. Wir forderten auf: Nehmen sie Behinderte, sie
sind demütig, dankbar und bescheiden. Wir persiflierten unsere
eigene Rolle als "Musterkrüppelchen", hielten aber auch der Gesellschaft
den Spiegel vor. Spott wurde uns zur Waffe.
Jährlich zeichneten wir zusammen mit Schauspielern im Frankfurter
Schauspielhaus in einer Feierstunde die größte Niete der
Behindertenarbeit mit der "Goldenen Krücke" aus. Wir hatten alle
in dieser politischen Arbeit unseren Spaß und wir hatten die Möglichkeit,
Dinge zu verdeutlichen, die verändert werden mussten.
Selbsthilfe ist für mich - zumindest wenn sie etwas in uns und
an den behindernden Lebensbedingungen verändern will - eine hoch
politische Arbeit! Wer im ältesten Wörterbuch der deutschen
Sprache, dem Grimmschen Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm
im Band 16 auf Seite 479 den Begriff Selbsthilfe nachschlägt, kann
dort folgendes lesen: "SELBSTHILFE, - HÃœLFE, f. hilfe, die man
sich selbst leistet, besonders eigenmächtige hilfe mit umgehung
oder im widerspruch zu der obrigkeit ..."
Das verdeutlicht die politische Dimension von Selbsthilfe, die meiner
Meinung nach innewohnen muss, wenn immer gesellschaftspolitische Verbesserungen
erreicht werden sollen. Es kann nicht darum gehen, dass Menschen sich
in Gefühlsduselei einander zuwenden und den Dampf unter dem Deckel
halten. Es muss darum gehen, gesellschaftliche Missstände zu entlarven,
strukturelle Gewalt gegen Menschen an den Pranger zu stellen und im
Kampf mit dem Wort am politischen Ort des Konflikts und mit Spott benachteiligende
Wirklichkeit zu verändern. Das ist meine Vorstellung von Selbsthilfe.
Geschichte der Idee der Selbstbestimmung und der Assistenz
Die Grundausrichtung von Behindertenpolitik und Behindertenarbeit muss
sich heute nach der Jahrtausendwende an der Selbstbestimmung Betroffener
orientieren. Das gebietet 2001 der durch die Behinderten- und Krüppelbewegung
erfochtene Fortschritt in der Behindertenarbeit und das durch große
Teile dieser Bewegung im Verbund mit vielen Organisationen und Einzelnen
erstrittene Diskriminierungsverbot des Artikels 3 Absatz 3 Grundgesetz
(GG) vom Oktober 1994. Selbstbestimmung im Leben Behinderter setzt voraus,
dass notwendige Hilfe weitestgehend unabhängig von Institutionen
und deren fremdbestimmenden Zwängen und von fremdbestimmender,
entmündigender Hilfe durch die sogenannte Fachlichkeit von Helferinnen
organisiert wird.
In der Behindertenbewegung der vergangenen 20 Jahre hat sich zur Erfüllung
dieser Voraussetzungen der Assistenzgedanke herauskristallisiert. Kernpunkte
dieses Ansatzes sind, dass der Hilfeabhängige sich die Assistentinnen
aussucht, sie anleitet, unter seinen Vorstellungen einsetzt und bezahlt.
Ich bin durch meinen fortschreitenden Muskelschwund mittlerweile so
stark beeinträchtigt, dass ich nicht mehr mit der Hand schreiben
kann oder die Tastatur eines Computers bedienen kann. Die Entwicklung
der Spracheingabe - also dass ich Texte diktiere, die dann im Rechner
als geschriebene Datei und nicht als Grafik abgelegt sind, ist technisch
noch nicht so weit entwickelt, dass ich damit arbeiten könnte.
Dennoch schreibe und veröffentliche ich. Diese Texte entstehen
dadurch, dass ich mir eine Schreibassistentin gesucht habe, der ich
diktiere. Sie schreibt - ich bestimme den Text, korrigiere ihn - bin
gelegentlich für Tipps dankbar und es entsteht so ein Beitrag wie
der vorliegende zu diesem Buch.
Ich bezahle die Assistentin nach Vereinbarung. Eine Voraussetzung für
dieses Arbeitsverhältnis: Sie beherrscht die deutsche Sprache hervorragend,
so dass keine Aneinanderkettung von Fehlern entstehen kann, und schreibt
im Gegensatz zu mir motorisch in großer Geschwindigkeit. Unter
diesen Voraussetzungen können Frauen Frauen und Männer Männer
als Assistentinnen und Assistenten in ihr Leben mit einbeziehen, sowohl
in ihre Arbeit als auch in ihre Pflege und in die alltäglich notwendige
Hilfe in allen Bereichen. Sie können Assistenz entweder als Arbeitgebermodell
oder als Assistenzorganisation gestalten. Bei dem Arbeitgebermodell
stellt die Hilfeempfängerin - sprich Assistenznehmerin - die Assistentinnen
direkt an. Die Behinderten, die Hilfe und Pflege brauchen, werden zur
Erfüllung ihres eigenen Bedarfs zu Miniarbeitgeberinnen. Sie melden
einen eigenen Betrieb an und wickeln all` die Aufgaben, die eine Arbeitgeberin
hat - von der Beantragung der Arbeitgebernummer über die Abführung
möglicher Sozialversicherungsbeiträge bis zur Lohnauszahlung
-, ab.
Wer sich von diesem Aufwand überfordert fühlt oder tatsächlich
dem Aufwand nicht gewachsen ist, gründet mit anderen Betroffenen
eine Assistenzorganisation, die die notwendigen Organisationsarbeiten
abnimmt, sie erledigt, aber den Selbstbestimmungsgedanken in der Form
der Assistenz ermöglicht. Das kann ein Verein oder eine Genossenschaft
oder eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung sein. Bei dieser
Form der Indirekten Assistenz sind die Assistentinnen bei der Organisation
angestellt. Das Binnenverhältnis zwischen Assistenznehmerin und
Assistentin bleibt aber im Denkmodell der Selbstbestimmung und Assistenz
erhalten. Die Hilfeabhängigen können so Assistenz in Anspruch
nehmen.
Selbstbestimmung als Gegenbegriff zu Fremdbestimmung
Der Begriff der Selbstbestimmung muss im Zusammenhang mit dem Behindertenhilfesystem
definiert werden. Er ist meiner Meinung nach abzugrenzen einmal von
Selbstständigkeit, die als ein Leben ohne fremde Hilfe zu verstehen
ist. Andererseits aber auch von Autarkie, die Bedürfnislosigkeit,
wirtschaftliche Unabhängigkeit, Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit
zum Ausdruck bringt. Selbstbestimmung muss im Sinne von Autonomie verstanden
werden, meint also das Recht, seine Angelegenheiten selbst zu ordnen.
Selbstbestimmung grenzt sich damit sehr deutlich von Fremdbestimmung
ab, ist quasi ein Gegenbegriff zu jeglicher Fremdbestimmung. Veröffentlichungen
in der Bundesrepublik erzeugen häufig den Eindruck, die Idee Selbstbestimmung
statt Fremdbestimmung und Hilfen durch Assistenz wären bei uns
von den USA übernommen worden. Hier liegt meiner Meinung nach ein
grundlegender Irrtum vor. Die Behinderten- und Krüppelbewegung
hat in den vergangenen 25 Jahren in der Bundesrepublik einen eigenen
Weg zu diesem heutigen Ergebnis zurückgelegt. Selbstbestimmung
für das eigene Leben und der Kampf gegen Fremdbestimmung spielten
schon in den frühen 70er Jahren eine entscheidende Rolle in den
Anfängen der Behindertenbewegung als Politische Selbsthilfe (vgl.
Steiner, 1974a; Steiner, 1974b; Steiner, 1999).
Aus einer Dialektik zwischen Kritik am Hilfesystem - Kampf gegen Fremdbestimmung
- und Entwurf und Verwirklichung von Alternativen entwickelten sich
über Heimkritik das Paradigma Ambulante Dienste und über die
Kritik an Ambulanten Diensten der Gedanke Selbstorganisierter Hilfen,
der dann in der ersten Hälfte der 80er Jahre zu einem weitgehend
gemeinsamen Konzept der Bundesrepublik und der USA von Selbstbestimmt
Leben und Assistenz führte. (vgl. Vereinigung Integrationsförderung
e. V. 1981; Daniels, Degener, Jürgens, Krick, Mand, Mayer, Rothenberg,
Steiner & Tolmein, 1983; Vereinigung Integrationsförderung e. V.,
1982; Steiner, 1984).
Für die Bundesrepublik sind Selbstorganisierte Hilfen und Selbstorganisierte
Helferinnen Ausgangspunkte für den Assistenzgedanken. Die Selbstorganisierten
Hilfen, aber auch Mieterin in der eigenen Wohnung zu sein, über
das eigene Einkommen - und sei es nur der Sozialhilfesatz - selbstbestimmt
zu verfügen, sich selbst als Expertin in eigener Sache zu begreifen
und sich selbst Helferinnen zu suchen, anzuleiten und zu bezahlen, ist
in der Bundesrepublik die Ausgangsbasis für Assistenz. Behinderte
Menschen mit Selbstorganisierter Hilfe haben bundesweit vor Verwaltungsgerichten
die Kostenübernahme für ihre selbstbestimmte Lebensform erstritten
- häufig mit der solidarischen Unterstützung der VIF in München,
dem fib in Marburg, von MOBILE - Selbstbestimmtes Leben Behinderter
e.V. in Dortmund und anderer Selbsthilfegruppen oder selbstorganisierter
Vereinigungen.
Die Form der Selbstorganisierten Hilfe existierte, bevor die amerikanische
Philosophie von independent living bei uns bekannt wurde.
Behinderten- und Krüppelinitiativen erhoben in der Bundesrepublik
schon in den frühen 70er Jahren als Selbsthilfegruppen Protest
gegen das überkommene Hilfesystem im Behindertenbereich. Aktionen
wie die "Frankfurter Straßenbahnblockade" 1974, die Demonstrationen
gegen das "Frankfurter Urteil" 1980 oder der Protest gegen das "UNO-Jahr
der Behinderten" 1981 machten Schlagzeilen. Ausgrenzung, Aussperrung,
Diskriminierung, Bevormundung einer zahlenmäßig großen
aber demütigen Minderheit prangerten die Betroffenen mit unerwarteter
und unbekannter Härte an. Das Konfliktfeld unserer eigenen Lebenssituation
wurde Gegenstand unserer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung.
Politiker und Verbandsfunktionäre des überkommenen Behindertenhilfesystems
hörten unsere Forderungen, nahmen uns aber nicht ernst. Wir wurden
als "Wirrköpfe" und "Radaumacher" abgetan.
Selbst als sich in den 80er Jahren Eltern behinderter Kinder zu Wort
meldeten und für ihre Söhne und Töchter nichtaussondernden
gemeinsamen Kindergarten- und Regelschulbesuch forderten - und im Einzelfall
auch durchsetzten -, diffamierten Politiker und sogenannte Fachleute
diese Ansinnen als "unverarbeitetes Elternsyndrom". Mitglieder der Behinderten-
und Krüppelinitiativen, die in vergangenen Jahrzehnten Ambulante
Dienste und die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung als Alternativen zum überkommenen
Hilfesystem aufbauten, erhielten oft verächtlich das Prädikat
"Spinner".
Zwanzig Jahre nach Beginn dieser Entwicklung bestätigt das wissenschaftliche
Gutachten zur Lebenssituation von behinderten Menschen und Behindertenpolitik
von Nordrhein-Westfalen, dass von dieser Politischen Selbsthilfe ein
Paradigmawechsel erreicht wurde: "Die letzten zehn Jahre sind geprägt
durch ein neues Verständnis von Behinderung. Das Paradigma ,Selbstbestimmtes
Leben' ist Ausdruck des veränderten Selbstverständnisses behinderter
Menschen und Forderung zugleich: Gegen Entmündigung, Diskriminierung
und Aussonderung! Für gesellschaftliche Mitwirkung und Teilhabe
im Sinne selbstbestimmter Wahl- und Lebensmöglichkeiten! Unabhängig
von Art und Schwere der Behinderung soll damit das Recht auf gleichberechtigte
Lebenschancen in allen Lebensbereichen betont und eingelöst werden.
Einem weitgehend negativen Fremdbild von Behinderung wird ein positives
Selbstbild der Betroffenen entgegengestellt. Das ist mehr als Protest
und Ablehnung von Diskriminierung und Aussonderung" (Ministerium für
Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, 1993,
S. 11 f).
Assistenz
Wenn man aus diesem Paradigma des Selbstbestimmt Lebens ein adäquates
Hilfesystem entwickeln will, dann kann das nur über die Elemente
der Direkten Assistenz (Persönlichen Assistenz), der Indirekten
Assistenz oder der Assistierenden Hilfe geschehen. Bei der Direkten
oder Indirekten Assistenz wird die Assistenznehmerin quasi zur Arbeitgeberin,
sie hat das Sagen, sie bestimmt, was die Assistentin tun muss oder was
sie nicht tun soll. Die Hilfeempfängerin, also die Assistenznehmerin,
schlüpft in dem Machtverhältnis zwischen Arbeitgeberin und
Arbeitnehmerin in die Rolle der Mächtigen und hebt damit - quasi
per Konstruktion des Arbeitsverhältnisses - Macht auf, die sie
fremdbestimmen könnte. Die Assistentinnen geraten in die Rolle
der Arbeitnehmerinnen, sie können ihrer Chefin oder ihrem Chef
nichts anordnen! Sie können in diesem Arbeitsverhältnis nicht
fremdbestimmen. Damit gerät die Assistenznehmerin in die günstigere
Machtposition und kann die Rahmenbedingungen ihres Lebens selbst bestimmen.
Selbstbestimmung ist Konstruktionsprinzip des Assistenzgedankens.
Ursachen für Fremdbestimmung
Die Selbstbestimmung kann aber auch immer wieder bedroht sein, wenn
Fremdbestimmung in der Konstruktion des Hilfesystems vorherrscht.
"Auf der anderen Seite habe ich aber auch oft das Gefühl,
gerade die, die über so eine Ausbildung [im Pflegebereich] verfügen,
meinen, sie wären die Profis und meinen dann auch so, über
mich bestimmen zu können oder zu müssen, halt. So nach dem
Motto "Ich weiß ja, was für Dich gut ist" und nehmen dann
so´n bisschen mein selbstbestimmtes Leben. Und das, find ich halt,
ist eine sehr gefährliche Sache und eine Gratwanderung. Man muss
da, denke ich, Hand in Hand arbeiten."
Aber die Selbstbestimmung kann auch dadurch bedroht sein, dass die
Assistenznehmerin ihre Rolle als Vorgesetzte in diesem Machtspiel nicht
einnimmt. Fremdbestimmung geht immer von der Institution, der sogenannten
Fachlichkeit der Helferinnen und von der Verschleierung der wahren Machtverhältnisse
aus.
"Ja, gut, teilweise möchten die [AssistentInnen] ihren
Willen durchsetzen, teilweise möchte ich meinen Willen durchsetzen,
das sind so kleine Sachen, dass sie halt nicht sauber machen, wenn sie
es sollen [...]"
"Ja, es ist..., es ist so ein Gemisch aus Selbstbestimmung
und Abhängigkeit, weil wenn ich so an meine Mitschriften denke,
kann ich schon sagen, dass, wenn derjenige das für sich selber
machen würde, bestimmt nicht so strukturiert machen würde
oder sicherlich anders... [...] Von daher ist das selbstbestimmt....
was... ja, wo das Selbstbestimmte aufhört, das... da kann man eigentlich...
das kann ich eigentlich nie so genau sagen, weil ich... das ist so...
weil mir das nie... ich kann das nicht genau sagen, weil mir nie einer
gesagt hat "So, wenn Du das jetzt nicht so machst, dann geh ich oder
mach ich nicht, ne" und eigentlich ist klar, die Abhängigkeit ist
dann gegeben, wenn, sag ich mal, die Schreibhilfe sagt "Nee, ich will
jetzt nicht", dann musst Du eben entweder halt vorher Ersatz haben,
damit Du sagen kannst "Ja und, geh doch!", oder Du musst dann halt sagen
"Warum, was ist denn los?". Da ist für mich die Abhängigkeit,
dass man... ja, Du kannst zwar alles wollen, aber Du musst es auch im
bestimmten Rahmen halten, Du musst die Leute kennen, Du musst wissen,
wie weit Du gehen kannst, weil irgendwann hast Du dann, wenn Du nur
auf dem Arbeitgeberstil bist, hast Du irgendwann die Leute vielleicht
so gereizt, dass sie sagen "Ich geh jetzt", und so was kann man sich
dann nur erlauben, wenn man genug Leute... wenn man sagt "Ok, wenn Du
keinen Bock mehr hast, ich hab hier noch zehn andere, dann nehm ich
den." Und wenn Du das aber nicht hast, dann kannst Du Dir so was auch
nicht erlauben. Und auch vom Zwischenmenschlichen her ist es nicht so
toll, wenn Du einfach einen dann so behandelst."
"Es gibt Leute, die aus dem pädagogischen Bereich kommen,
wo man meint, die haben vom Studium her etwas theoretisch vielleicht
gehört über Behinderte und wie man mit ihnen umgeht, gehört.
Und das kann Konflikte geben."
"Ich bin natürlich in gewissen Dingen abhängig,
halt, wie schon gesagt, wenn es um handschriftliche Sachen geht, weiß
ich, dass ich jemanden benötige, der mir etwas vorliest, als Beispiel.
Ich bin zwar abhängig, sehe mich da aber nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis
der Arbeitsassistenz, sondern es ist halt jemand, der da ist, vergleichbar
mit einem technischen Hilfsmittel oder einer Lupe oder so. Das kann
man natürlich nicht mit einem Hilfsmittel gleichsetzen."
"Ich bin natürlich immer abhängig von diesen Hilfestellungen,
ne?! Ich bin sowohl von den Hilfepersonen wie auch von den Hilfskräften,
also den bezahlten Kräften abhängig, das lässt sich auch
meiner Meinung nach nicht auflösen, die Abhängigkeit. Nur
ich würde schon sagen, dass ich diese Abhängigkeit relativ
selbstbestimmt organisiere."
"Und insofern mag ich es halt lieber, wenn die Leute da nicht
groß irgendwie professionalisiert sind und denken: Ja, ich mach
das jetzt so, wie ich es gelernt habe, weil das besser ist, sondern
wenn die Leute halt einfach kommen und mich dann halt fragen, wie das
ist."
Die einzelnen Aussagen der Assistenznehmerinnen machen deutlich, dass
auf der einen Seite immer wieder die Fremdbestimmung durch die Assistentinnen
in die Arbeitgeber-/Arbeitnehmerfunktion einfließt, auf der anderen
Seite aber auch Abhängigkeit von den Helferinnen erlebt wird. Hier
hilft nur, dass die Assistenznehmerinnen in einem klaren Rahmen ihre
Arbeitgeberinnenfunktion durchsetzen. In diesen Interviewaussagen wird
aber auch deutlich, dass Abhängigkeit erlebt wird und das Angst
entsteht, die Assistentinnen zu verlieren. Die Abhängigkeit, die
die befragte Assistenznehmerin erlebt, ist nicht abzubauen. Die Abhängigkeit
besteht immer dort unauflöslich, wo jemand einer anderen Arbeit
überlässt oder überlassen muss. Die Eignerin eines Betriebes
ist in der gleichen Weise abhängig von ihren Beschäftigten.
Diese Art der Abhängigkeit kann nur durch eine klare Arbeitgeberinnenposition
geregelt und teilweise kompensiert werden, aber sie ist immer da - in
unserem Beispiel hat sie Furcht, die Assistentin könnte gehen,
in anderen Zusammenhängen regiert die Angst um die Qualität
der durchgeführten Arbeiten. In all diesen Fällen können
nur Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen - sprich Assistentinnen - und
eine klare Arbeitgeberinnenposition Abhilfe schaffen.
Institutionen
Dem Grundgedanken der Selbstbestimmung wirken fast immer die Institutionen
der Behindertenhilfe entgegen. Diese entwickeln formale Strukturen und
Sachzwänge, die den Behinderten übergestülpt werden und
sie fremdbestimmen (vgl. Goffman, 1973). In diesem Zusammenhang beschränken
Institutionen immer die Aneignungsmöglichkeiten derer, die diesen
Zwängen ausgesetzt sind: Versorgung, Großküchen, Zentrale
Wäschereinigung, Medikamentenausgabe, festgesetzte Zeiten für
Mahlzeiten und für das Zubettgehen. Gesetzte und gewachsene Rituale
verstellen der einzelnen die Möglichkeiten der Vielfalt der Aneignung,
aber auch die Möglichkeiten der Selbstbestimmung in diesen Bereichen.
Der Lebens-, Erfahrungs- und Aneignungsraum ist nicht mehr das Konfliktfeld
täglichen Lebens, sondern ein mehr oder minder geordneter, einengender
Rahmen fremdbestimmter Setzungen. Nach Goffman sind solche Einrichtungen
Totale Institutionen (Goffman, 1973, S. 11). So lassen sich die Wohnstätten
einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen, die für lange
Zeit - wenn nicht für immer - von der übrigen Bevölkerung
separiert sind, und in denen die Bewohnerinnen miteinander ein abgeschlossenes,
formal reglementiertes Leben führen, als Totale Institutionen bezeichnen.
Kennzeichnende Faktoren, die die Aneignungs- und Lebensmöglichkeiten
der einzelnen in dieser formalen Reglementierung einengen, sie fremdbestimmen,
können sein oder sind:
- Zusammenlegung vieler Gleicher auf engem Raum
- Elementare Bereiche der Intimsphäre sind ungeschützt
- Isolierte Standorte weitab mit eingeschränktem Kontakt zur
Außenwelt
- Hierarchische Machtstrukturen (Medizinische, Pädagogische und
Pflegerische Hierarchiesäule), die Bewohnerinnen Macht unterwerfen,
von Entscheidungsebenen fernhalten und sie damit fremdbestimmen
- Zeitpläne organisieren das tägliche Leben (Anziehen, Waschen,
Arbeit, Freizeit)
Anthes hat 1975 mehr als 500 Hausordnungen von Heimen in NRW und Bayern
untersucht und ausgewertet. Er kommt zu dem Schluss, dass dort einerseits
der Privatbereich gering geschätzt und dass die abendliche Rückkehr
in die Institution in 90% der Fälle beschränkt wird (vgl.
Anthes & Karsch, 1975). Kenner der Situation behaupten oft, dass die
Bestimmungen des Strafvollzugs bisweilen mehr freie Entfaltungsmöglichkeiten
lassen als das in Heimen erkennbar ist. Die nachfolgende Hausordnung
eines Heims vom März 1995 operationalisiert die Theorie Goffmans:
Präambel
Der ... ist Träger des Wohnhauses ... mit ... Dauerwohnplätzen
für behinderte Mitbürger. Das Wohnhaus besteht aus ... in
sich gegliederten Wohnbereichen, die die Gesamtheit des Wohnhauses bilden.
Hausbewohner und Mitarbeiter bilden eine Hausgemeinschaft. Gegenseitige
Achtung und gegenseitiges Vertrauen sollen das Verhältnis zueinander
bestimmen. Die persönliche Freiheit jedes Einzelnen findet nur
dort eine Grenze, wo es die Rücksichtnahme auf andere erfordert.
Über die notwendige Betreuung und Versorgung hinaus möchten
die Mitarbeiter durch Anregungen und gezielte Hilfestellungen die Persönlichkeitsentwicklung
der Hausbewohner so weit wie möglich fördern, Wünschen
und Bedürfnissen in geeigneter Form Rechnung tragen und zu einem
rücksichtsvollen und friedvollen Zusammenleben beitragen. Diesem
Anliegen soll auch die Hausordnung dienen, da ein vertrauensvolles Miteinander
entsprechender Reglung bedarf, die von jedem Hausbewohner zu beachten
sind. Die vertraglich zugesicherten Leistungen des Hauses umfassen die
Bereitstellung des Zimmers und der Gemeinschaftseinrichtungen sowie
Verpflegung, Angebote im pädagogisch-therapeutischen Bereich und
die Betreuung und Pflege.
Tagesablauf
- Am Tage mit Werkstatteinsatz wird um 6.00 Uhr geweckt, danach ankleiden
und Zimmer richten
- Gemeinsames Frühstück 6.45 Uhr
- Abfahrt zu den Werkstätten zwischen 7.00 Uhr und 7.40 Uhr
- Rückkehr gegen 15.40 Uhr - Kaffeetrinken
- Freizeitangebote bis zum Abendessen
- Abendessen zwischen 18.00 Uhr und 19.00 Uhr im jeweiligen Wohnbereich
- Nach dem Abendessen Freizeit zur eigenen Verfügung oder gemeinsame
Aktivitäten
- 22.00 Uhr Nachtruhe, die für alle Bewohner verbindlich ist
Bei Freizeitaktivitäten und besonderen Anlässen kann der
Tagesablauf entsprechend angepaßt werden. Dies soll mit den Hausbewohnern,
den Mitarbeitern und der Hausleitung abgesprochen werden.
Regelungen an den arbeitsfreien Tagen, sowie an den Wochenenden werden
zwischen Hausbewohnern, Mitarbeitern und der Hausleitung einvernehmlich
getroffen
Telefonate
Anrufe können bis 20.30 Uhr vermittelt werden. Die Essenszeiten
sind grundsätzlich ausgenommen. Privatanrufe sind am Clubtelefon
zu führen (Erdgeschoss).
Besuchszeiten
Besuche können grundsätzlich zwischen 16.00 Uhr und 20.00
Uhr stattfinden. Die Besuche sind mit der Hausleitung und den Mitarbeitern
abzustimmen.
Die Mitarbeiter
Die Hausleitung und alle Mitarbeiter stehen den Bewohnern zu Diensten.
In allen Angelegenheiten können sie sich vertrauensvoll an die
Gruppendienstmitarbeiter sowie die Hausleitung wenden.
Allgemeine Punkte
Wünschenswert ist die individuelle Gestaltung des eigenen Zimmers,
jedoch in Rücksichtnahme auf einen eventuellen Mitbewohner und
in Absprache mit der Hausleitung und den Mitarbeitern. Das Aufstellen
und der Gebrauch elektrischer Geräte ist vorher mit der Hausleitung
abzustimmen, da die Brandverordnung beachtet werden muss. Jeder Bewohner
hat, soweit er dazu in der Lage ist, sein Zimmer selbst in Ordnung zu
halten. Musik muss auf Zimmerlautstärke eingestellt werden.
Wertsachen sollen unter Verschluss genommen werden, da keine Haftung
übernommen wird.
Auftretende Mängel oder Beschädigungen sollen möglichst
sofort bei den Mitarbeitern gemeldet werden.
Wegen der großen Brandgefahr ist das Rauchen auf den Zimmern
untersagt. Rauchen ist nur im Gemeinschaftsraum gestattet. Haustiere
(Fische, Vögel und Meerschweinchen) können in Absprache mit
der Hausleitung mitgebracht werden.
Sonstiges
Gottesdienstbesuche an Sonn- und Feiertagen sind in der Pfarrkirche
sowie in den umliegenden Kirchen möglich. Bei einem Verlassen des
Hauses mögen sich die Bewohner beim zuständigen Mitarbeiter
abmelden und sich wieder anmelden. Die Wäsche wird regelmäßig
im Hause gewaschen...."
Man kann ohne Ãœbertreibung sagen, dass in diesem Heim ein solches
Maß an Fremdbestimmung herrscht, dass die Heimbewohner als fremdbestimmte
Heiminsassen bezeichnet werden können. Ihnen fehlt jede Selbstbestimmung.
Aber auch Behinderte, die noch in der Familie leben, werden fremdbestimmenden
Faktoren ausgesetzt. Betroffene, die unter solchen Umständen leben,
werden häufig den Sachzwängen der Familienabläufe bzw.
den dort vorherrschenden Problemlösungsstrategien unterworfen.
Aussagen zweier Assistenznehmerinnen:
"Aber das ist bei der Familie anders, die Familie könnte
sagen: "Ich habe keine Lust dazu, Deine Fenster zu putzen, das mach
ich ein andermal." Das ist schon ein bisschen was anderes."
"Mit der Familie ist das ja immer so eine Sache. [...] Ich
weiß, dass ich so schnell keine Haushaltsführung oder -assistenz
[als seine Mutter] hätte organisieren können, innerhalb von
zwei Wochen teilweise, und deshalb war es in gegenseitigem Einvernehmen,
aber wirklich nur für eine Übergangszeit, länger hätte
ich das auch nicht gewollt. Das ist schon eher so ein Abhängigkeitsverhältnis
als durch eine Arbeitsassistenz."
Die gleichen Mechanismen wirken bei Freundinnen oder Bekannten. Auch
hier kann man die Hilfe nur im gegenseitigen Einvernehmen organisieren,
kaum zu dem Zeitpunkt, an dem man sie in einer gewissen Form braucht.
Das macht die Aussage einer behinderten Frau deutlich:
"Ja, man kann natürlich, wenn man von Freunden ausgeht,
kann man natürlich sagen, dass das nicht immer dann ist, wenn man
das vielleicht gerade jetzt will. Weil man auch eher sagen würde:
Komm, ich muss das jetzt machen, sollen wir das morgen oder übermorgen
machen?", und dann können die gerade nicht, dann kann man das natürlich
auch nicht verlangen. Das ist dann die Sache, wenn man keinen bezahlten
Helfer für sich alleine hat. Die sagen dann: "Ja, komm, am Samstag
können wir das machen, da habe ich Zeit" oder so. [...] Ja, so
habe ich es bis jetzt gemacht [gewartet, bis die FreundInnen sie z.B.
zum Möbelgeschäft begleiten können]."
Die unterschiedlichen Formen der Sachzwänge in der Familie bzw.
bei der Organisation der Hilfe durch Freundinnen lassen sich nicht aufheben.
Die Hilfebedürftige ist immer diesen Abhängigkeiten ausgesetzt
und kann nur durch Assistenz zu einer selbstbestimmten Organisation
der Hilfe kommen. Das verdeutlicht die Aussage einer befragten Assistenznehmerin:
"Habe ich keine Assistenten, bin ich dann angewiesen auf Freunde,
Bekannte, Familie. Das war z.B. besonders blöd, als drüben
die Wohnung zu renovieren [war], da muss man ja viel herumfahren und
Sachen aussuchen. Das war wirklich doof, weil da war ich halt immer
angewiesen auf irgendwelche Leute, die dann mit mir da hinfahren. Ja.
[...] Freunde, Kollegen, Geschwister, Eltern."
Fachlichkeit der Mitarbeiterinnen
Mitarbeiterinnen der Behindertenhilfe müssen meiner Meinung nach
eine veränderte Fachlichkeit mitbringen, um Fremdbestimmung entgegenzuwirken
und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Sozialberuflerinnen (z.B.
Heilpädagoginnen, Sozialpädagoginnen, Sonderpädagoginnen,
Sozialarbeiterinnen, Erzieherinnen, Heilerziehungspflegerinnen u.a.)
erfahren bis zum heutigen Tag eine leider typische Professionalisierung,
die Mitarbeiterinnen und Helferinnen ihrem Selbstverständnis nach
zu Expertinnen über die Probleme ihrer Zielgruppen macht. Diese
Art Fachlichkeit bestreitet ausdrücklich das Expertentum Betroffener.
"Je spezialisierter und professionalisierter die Erzieher, desto bildungsbedürftiger,
ja passiver und behandlungsbedürftiger der Laie. Ihnen wird das
Wissen über sich selbst abgesprochen in dem Maß, wie professionelle
,Kompetenz' wirksam wird" (Schumann, 1979, S. 76). Ein solches Expertentum,
dass einer "Enteignung sozialer Problemlösungskompetenz" (Marzahn,
1979, S. 82) gleichkommt, steht jedem Leitgedanken der Selbstbestimmung
Behinderter entgegen. Hier ist eine andere Fachlichkeit gefordert: Akzeptanz
des Expertentums Betroffener und die Fähigkeit zur Kooperation
mit ihnen aus der Position der geminderten Macht, also aus der Rolle
als Arbeitnehmerin der Betroffenen heraus.
Verschleierung der wahren Machtverhältnisse
Wenn die Macht in einer Totalen Institution und die Macht, der die
Behinderte durch bevormundende Fachlichkeit in direktem Helferbezug
ausgesetzt ist, nicht verändert oder wenn sie gar verschleiert
wird, ist weder Selbstbestimmung noch Assistenz möglich. Das heißt:
Selbstbestimmung und Assistenz sind nur außerhalb Totaler Institutionen
machbar und die veränderte Fachlichkeit der Helferinnen, sprich
Assistentinnen, ist unabdingbare Voraussetzung für die Selbstbestimmung
Behinderter. Augenblicklich kann im Behindertenhilfesystem beobachtet
werden, dass Selbstbestimmung Behinderter, also auch das Paradigma Selbstbestimmt
Leben, von mehreren Strategien der Behindertenhilfe bedroht wird:
- Sinnentleerte Inflationierung des Selbstbestimmungs- und des Assistenzbegriffs
- Unterwerfung des Selbstbestimmungs- und Assistenzgedankens unter
die Macht der Pädagogisierung der Assistenznehmerinnen
- Bedingungen, die Selbstbestimmung und Assistenz verhindern oder
ermöglichen
- Sinnentleerte Inflationierung von Begriffen
Die Behinderten- und Krüppelbewegung hat in den vergangenen 25
Jahren in ihrer Kritik am Behindertenhilfesystem eine bestimmte Begrifflichkeit
entwickelt und jeden einzelnen Begriff mit bestimmten Inhalten gefüllt
(z.B. Selbstbestimmung, Assistenz, Nichtaussonderung usw.). All diese
Begriffe wandten und wenden sich gegen Fremdbestimmung und Ausgrenzung
aus der Gesellschaft. Sie sind in ihrer Begrifflichkeit mit diesen Inhalten
besetzt und umreißen in einem Wort umfassende Konzepte der Politischen
Selbsthilfe Behinderter. Sie sind nur so zu verstehen, wie sie aus dieser
geschichtlichen Entwicklung der Politischen Selbsthilfe gedacht waren.
Eckhard Rohrmann nennt in seinem Beitrag "Integration und Selbstbestimmung
für Menschen, die wir geistig behindert nennen" solche Begriffe
Kampfbegriffe (vgl. Rohrmann, 1994) und zeigt an den Beispielen Solidarität,
Integration, Autonomie, wie mit politischen Inhalten solcher Begriffe
umgegangen wird:
"Neue Begriffe, jeweils in kritischer Absicht eingeführt,
unterliegen mit der Zeit mehr oder weniger dem gleichen Schicksal: Sie
werden inflationiert, auch und gerade von denjenigen übernommen,
gegen die sie sich ursprünglich gerichtet hatten und dabei mehr
und mehr inhaltlich aufgeweicht, unverständlich und ihrer ursprünglich
kritischen Potenz zusehends beraubt. Dieses Schicksal wiederfuhr dem
Solidaritätsbegriff, ursprünglich ein Kampfbegriff der Arbeiterbewegung
gegen die Kapitaleigner und ihre Sachwalter, welcher heute in der seichten
Bedeutung einer aller gesellschaftliche Widersprüche leugnenden
freundlichen Miteinanders dem Umgang von Menschen untereinander auch
konservativen Politikern und erklärten Gegnern der Ziele jener
Arbeiterbewegung leicht über die Lippen geht, ja neuerdings in
der euphemistischen Wortkreation Solidarpakt in das genaue Gegenteil
seiner ursprünglichen Bedeutung verkehrt werde. ...
Integration und zunehmend auch Selbstbestimmung werden heutzutage als
geradezu selbstverständliche Zielsetzungen beinahe jeglicher Praxis
in der Arbeit mit Behinderten genannt, wenn auch nicht selten in die
sinnersetzende Formel eingebettet, soviel Integration und Selbstbestimmung
wie möglich' und zwar auch von denen, gegen deren Praxis beide
Begriffe ursprünglich gerichtet waren. Nur zu einem geringen Teil
lässt sich das auf eine diesbezüglich geänderte Praxis
zurückführen. Wie Integration so ist auch der Selbstbestimmungsbegriff
längst von einem kritischen Programm zu einer begrifflichen Dekoration
auch solcher Praxis verkommen, die Integration und Selbstbestimmung
im jeweils ursprünglich gemeinten Sinne diametral zuwiderläuft
(ebd. S. 19).
Mit anderen Worten: Man verändert nicht die Praxis, Behinderte
in Heime und Anstalten auszugrenzen, nennt aber die Wärterinnen
inhaltsentleert Assistentinnen. Rohrmann schlägt vor, diese Begrifflichkeiten
zu rehistorisieren und zu radikalisieren und "die hinter ihnen verborgenen
Programme auf ihre Ursprünge zurückzuführen, d.h. auf
die Verhältnisse, auf die Praxis, deren Negation sie ihren eigenen
Ansprüchen nach sein wollten und - möglicherweise anfangs
auch waren" (ebd. S. 19 f).
Auch der Begriff Selbstbestimmung oder Selbstbestimmt Leben - in der
Untersuchung "Behinderte Menschen in Nordrhein-Westfalen" (Ministerium
für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen,
1993) als Paradigmawechsel beschrieben, muss unter diesen Gesichtspunkten
- also der durch den Kampf gegen Fremdbestimmung eingebrachten Inhalte
- rehistorisiert und auf diese Inhalte hin radikalisiert werden, um
in der Behindertenhilfe diese Konzepte von Selbstbestimmung und Assistenz
wach zu halten und dem Inhalt nach umzusetzen.
Wenn Adolf Ratzka, Betroffener und Vertreter der Behinderten-Autonom-Leben-Bewegung,
schreibt: "Wir müssen endlich einsehen, dass eigene Erfahrungen
von Behinderung und das Bewusstsein, einer unterdrückten Minderheit
anzugehören, unerlässliche Voraussetzungen und Qualifikation
für ernsthafte und erfolgreiche Behindertenpolitik ausmacht" (Ratzka,
1988, S. 183 ff), dann ist das eine historische und radikale Inhaltsaussage,
die ein Hilfesystem bestimmen muss und Selbstbestimmung Betroffener
aus dem historischen Zusammenhang als Programm der Behinderten-Autonom-Leben-Bewegung
charakterisiert.
Ähnlich verhält es sich dort, wo der Begriff Assistenz inhaltsentleert
für den im alten Behindertenhilfesystem verankerten Profi eingesetzt
wird. Diese Manipulation darf nicht geschehen, weil der Assistenzbegriff,
der als Antwort auf Fremdbestimmung entstanden ist, auf diesen Ursprung
zurückgeführt werden muss, um zu erkennen, was Betroffene
im Kampf gegen fremdbestimmende Strukturen (Institution und Fachlichkeit)
mit diesem Begriff verbunden haben. Die Assistenz dreht die Machtverhältnisse
von Arbeitgeber (Institutionen) und deren verlängertem Arm (Fachleute)
auf der einen Seite und den Behinderten als ohnmächtige Opfer,
die dem Machtpotential der Institutionen und sogenannter Fachleute ausgesetzt
sind, um. Assistenz macht das Opfer des alten Systems (weniger mächtige
Behinderte) zur mächtigeren Arbeitgeberin und die Helferinnen zu
machtlosen Gehilfinnen ihrer anordnungsberechtigten Arbeitgeberinnen.
Es werden die Verhältnisse auf den Kopf gestellt, um den Betroffenen
Selbstbestimmung zu ermöglichen. So ist in der Theorie immer wieder
davon die Rede, dass im Assistenzsystem die betroffenen Behinderten,
die Personal-, Organisations-, Anleitungs- und Finanzkompetenz haben.
Kompetenz ist ein Schlüsselbegriff von Selbstbestimmung und Assistenz.
Das älteste deutsche Wörterbuch, das Grimm´sche Wörterbuch
(1984) kennt den Begriff Kompetenz überhaupt nicht. Der Duden übersetzt
das Fremdwort mit Zuständigkeit (Bibliographisches Institut, 1966).
Das Fachwörterbuch im täglichen Gebrauch setzt für Kompetenz
Anordnungsrecht und Zuständigkeit und erwähnt die Kompetenzkompetenz
als das Recht, über den Umfang seiner Zuständigkeiten zu entscheiden
(Mackensen, 1981). Mackensen erklärt in seinem Etymologischen Wörterbuch
der deutschen Sprache das Adjektiv kompetent mit seiner Herkunft in
der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus dem Lateinischen "competens"
und übersetzt es als rechtlich zuständig (Mackensen, 1985).
Im Synonymwörterbuch (Görner & Kempcke, 1985) werden die Wörter
Kompetenz und kompetent in gleicher Weise als zuständig und Zuständigkeit
verstanden.
Es kann über die Inhalte des Kompetenz-Begriffs keinen Zweifel
geben. Im Kampf gegen fremdbestimmende Strukturen und Fachlichkeit haben
Betroffene die Zuständigkeit für ihre eigene Person, für
ihr eigenes Leben gefordert, erkämpft und übernommen. Die
Zuständigkeit für das eigene Leben ist quasi ein Bestandteil
der Autonomie - sprich Selbstbestimmung - eines jeden Individuums. Jeder
Mensch ist autonom, jeder Mensch hat die Zuständigkeit für
sich und sein Leben, hat also alle Kompetenzen seiner eigenen Person
in Händen. Mir drängt sich hier ein Vergleich auf, der die
Zuständigkeit für die eigene Person verdeutlicht: Im Rahmen
der Aufklärung und der Französischen Revolution wurden die
Menschenrechte erkämpft und erklärt. Dabei handelt es sich
um unveräußerliche Grundrechte eines jeden Individuums -
quasi Naturrechte, die jedem Menschen zustehen, unveräußerlich
gegeben sind, gleich ob das Land, in dem er lebt, diese Menschenrechte
anerkannt hat, also der einzelnen zugesteht oder nicht. Die politische
Gefangene in irgendeinem Land der Welt ist im Besitz dieser Grundrechte,
dieser Menschenrechte, selbst wenn man sie verfolgt, einsperrt, möglicherweise
foltert. Das, was man ihr antut, ist und bleibt Unrecht, das verurteilt
und gesühnt werden muss, selbst, wenn das tatsächlich oft
nicht gelingen sollte.
In ähnlicher Weise sind Menschen zuständig für die eigene
Person, sie haben alle Kompetenzen in Händen. Selbst wenn sie aus
Gründen einer Funktionseinschränkung infolge einer Schädigung
diese Zuständigkeit nicht eigenständig verwirklichen können,
bleibt alle Kompetenz für ihr eigenes Leben in ihren Händen.
Man muss dann höchstens darüber nachdenken, wie man ihnen
helfen kann, diese Zuständigkeit in ihrem Leben umzusetzen. Man
muss nachdenken, wie man ihnen assistieren kann (Assistierende Hilfe),
ihre Selbstbestimmung und ihre Zuständigkeit für ihr eigenes
Leben zu verwirklichen - ohne Fremdbestimmung und ohne bevormundende
Hilfe. Sie sind und bleiben zuständig für sich - ihre Person
und ihr Leben! Es gibt im Sinne der Menschenrechte nicht die Unterscheidung
zwischen Menschen und Menschen, es gibt im Sinne der Selbstbestimmung
und der Zuständigkeit für sich ebenso wenig die Unterscheidung
zwischen Menschen und Menschen.
Alle Behinderten sind in diesem Sinne zuständig für ihr eigenes
Leben. Sie sind kompetent für ihre Person und sie haben das Recht,
ohne Fremdbestimmung selbstbestimmt zu leben. Keine kann sagen: "Die
und die kann nicht zuständig sein für das eigene Leben - sie
ist zu schwer behindert - im Sinne von beeinträchtigt!" Es gibt
viele denkbare Möglichkeiten, Selbstbestimmung zu praktizieren
und der Betreffenden die Zuständigkeit für ihr Leben zu belassen:
Die eine wird qualifizierte Arbeitgeberin in der direkten Assistenz,
die andere schließt sich in indirekter Assistenz einer Assistenzorganisation
an, wälzt damit Aufgaben ab und kontrolliert die Organisation über
ihre Organe - beispielsweise einen Assistenzverein über die Mitgliederversammlung.
Eine Dritte nutzt einen Auflesedienst oder einen Umsetzungsdienst für
Literatur, kontrolliert die Qualität der Umsetzung über Kriterien,
die von Behinderten erarbeitet wurden. Eine Vierte nutzt ein beliebiges
Dienstleistungsangebot und übt Selbstbestimmung durch das Wechseln
zu einer anderen Dienstleisterin. Eine Fünfte braucht Assistierende
Hilfe, um Assistenz einzusetzen. Die Nächste braucht Assistierende
Hilfe, um Selbstbestimmung in ihrem Leben zu verwirklichen. Entscheidend
dabei ist, dass jeweils die Wahlmöglichkeit gegeben ist, ohne Fremdbestimmung
und ohne Bevormundung. Diese Inhalte von Selbstbestimmung und Assistenz
im Sinne von Zuständigkeit für die eigene Person und das eigene
Leben sind die Rehistorisierung und Radikalisierung der konzeptionellen
Inhalte dieser Begrifflichkeit, sie müssen in allen Fällen
Ausgangspunkt für Selbstbestimmung und Assistenz sein. Das ist
unveräußerliches Recht aller Menschen.
Häufig wird der Kompetenzbegriff im Zusammenhang mit Assistenz
gänzlich verbogen, weil die Begrifflichkeit offensichtlich falsch
interpretiert wird. Immer wieder begegnet man der Argumentation: "Dieser
Mensch ist aber doch so schwer beeinträchtigt, ja sogar mehrfach
beeinträchtigt, dass er Selbstbestimmung und Assistenz nicht in
sein Leben umsetzen kann!" Bei diesem Beispiel wird der Autonomiebegriff
(Selbstbestimmung) und der Kompetenzbegriff (Assistenz oder Assistierende
Hilfe) sinnentstellend verstanden.
Selbstbestimmung ist nie ein Alles-oder-Nichts-Prinzip oder gar ein
Synonym zu Selbstverwirklichung. Selbstbestimmung heißt, sich
für eine Möglichkeit zu entscheiden und zwar in Abwesenheit
institutionalisierter Zwänge und bevormundender Fachlichkeit. Das
ist die Definition, die rehistorisiert und radikalisiert (vgl. Rohrmann,
1994) gemeint ist und die es gilt, im Leben eines Individuums über
Assistenz oder mit Assistierender Hilfe zu verwirklichen. Kein Mensch
auf dieser Welt - gleich ob behindert oder nichtbehindert - ist gänzlich
selbstbestimmt. Wir sind alle auf dem Wege. Aber für behinderte
Menschen ist entscheidend, dass in der Aneignung von Selbstbestimmung
Fremdbestimmung und Bevormundung keine Rolle spielen. Wenn sich dieser
Rahmen findet und zwar ohne Wenn und Aber, dann eignen sich Menschen
Selbstbestimmung an. Dann sind wir im Behindertenhilfesystem auf einem
richtigen Kurs und verändern dieses System in die richtige Richtung.
Wer nicht bereit ist, das zu akzeptieren und das zur Voraussetzung zu
machen, stabilisiert ein überkommenes Hilfesystem und gibt die
Inhalte unseres Kampfbegriffes Selbstbestimmung gegen Fremdbestimmung
auf, inflationiert diese Begrifflichkeit in unzulässiger Weise.
Nach dem gleichen Grundprinzip definiert sich der Begriff Kompetenz
als Zuständigkeit oder Anordnungsmacht (s.o.) im Zusammenhang mit
Assistenz: Wir sind zuständig für uns, unser Leben und können
innerhalb des Begriffs Assistenz weder die Fremdbestimmung durch Institutionen
noch Bevormundung akzeptieren. Der Begriff wird gänzlich entstellt,
wenn - und das geschieht häufig - Kompetenz nicht als Zuständigkeit,
sondern als Fähigkeit verstanden wird. Dies geschieht seltsamerweise
häufig in der Alltagssprache - oft wird aber auch bei Wissenschaftlerinnen
und bei in der Behindertenarbeit Tätigen der Begriff als Fähigkeit
uminterpretiert. Unter einer solchen Voraussetzung gehen ganze Systeme,
die sich auf diese falsche Interpretation aufbauen, in eine verkehrte
Richtung.
Pädagogisierung der Assistenznehmenden
Selbstbestimmung und Assistenz machen uns Behinderte von Objekten der
Fremdbestimmung und der Bevormundung zu Subjekten der eigenen Entscheidungen
und der Zuständigkeit für uns und unser Leben - völlig
unabhängig von der Schwere der Beeinträchtigung. Wir werden
vom Objekt der Fremdbestimmung zum Subjekt eigenen Handelns (vgl. Steiner,
1974b). Wenn verhindert wird, dass wir Selbstbestimmung ohne Fremdbestimmung
und ohne Bevormundung und dass wir Zuständigkeit (Kompetenz) für
uns und unser Leben erlangen, dann bleibt das alte Verhältnis von
Macht und Ohnmacht zu unseren Lasten bestehen. Dann wird die Umkehr
der alten Machtverhältnisse "Behinderter / Institution und Bevormundung"
verhindert, und wir können keine Selbstbestimmung, keine Zuständigkeit
über uns und unser Leben erlangen. Das passiert immer, wenn im
oben beschriebenen Sinne gedacht und so gehandelt wird, als hieße
Kompetenz dasselbe wie Fähigkeit.
Ich kann in diesem Sinne Pädagoginnen, Sonderpädagoginnen
und alle Fachleute des überkommenen Behindertenhilfesystems nur
davor warnen, die Kampfbegriffe der Politischen Behindertenbewegung
zu inflationieren oder zu pädagogisieren, uns also unter der Wahrung
alter Machtverhältnisse Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und
zur Assistenz vermitteln zu wollen. Denn wer durch pädagogische
Methoden aus alten Machtstrukturen heraus - oder mit Bevormundung -
uns fähig machen will, aus der "Sklaverei entlassen" zu werden,
übt unverkennbar die überkommenen Machtstrukturen aus und
entscheidet aus dieser Position heraus, wer von uns das Ziel erreicht
und wer sich nicht über die Ziellinie schleppen kann. Natürlich
müssen wir uns auch Fähigkeiten aneignen, um Selbstbestimmung
und Assistenz zu praktizieren, aber das kann nur geschehen, wenn Aneignungsräume
frei von Zwängen der Institutionen und ohne Bevormundung durch
die alte Fachlichkeit geschaffen werden.
Literatur
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des Altenheims: eine Inhaltsanalyse der Hausordnungen von Altenheimen
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- Schumann, M. (1979). Professionalisierungsansätze und Vergesellschaftungsformen
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Jahrbuch der Sozialarbeit 3, Reinbek: Rowohlt.
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Wolfgang (Red.) (1981). Behindert ist, wer Hilfe braucht. Integration
- ein praktisches Problem; Erfahrungen und Perspektiven. München:
VIF.
- Vereinigung Integrationsförderung e. V, (VIF) (Hrsg.) & Schmidthuber,
Wolfgang (Red.) (1982) Behindernde Hilfe oder Selbstbestimmung Behinderter.
Neue Wege gemeindenaher Hilfen zum selbstständigen Leben. München:
VIF.
Die im Text verwandten Originalaussagen von Assistenznehmern und -nehmerinnen
entstammen den Interviews einer Untersuchung, die Birgit Drolshagen
und Birgit Rothenberg an der Universität Dortmund erstellen; sie
sind in diesem Zusammenhang zur Veröffentlichung freigegeben.
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