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Seelische Grausamkeiten - der alltägliche Wahnsinn! Wann kippt das System Pflege?

Archiv - INFORUM 3/2000

Seelische Grausamkeiten. Der alltägliche Wahnsinn - wann kippt das System Pflege?

Claus Fussek, Leiter der Vereinigung Integrationsförderung (ViF)

Kurzfassung des Vortrages anlässlich des Sozialmedizinischen Expertenforums des MDS "Die Zukunft der Qualitätssicherung - Was bringt das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz?" am 31. August 2000 in Berlin"

Trotz heftiger Diskussionen, die der erste Pflegeskandal in München vor fast vier Jahren auslöste, hat sich an den Missständen in der Altenpflege nichts geändert.

Eine rigide Personalpolitik macht aus Pflegehelmen marktgängige Wirtschaftsunternehmen und gleichzeitig aus überlasteten Pflegerinnen und Pflegern Opfer und Täter.

"Wir sind einfach viel, viel zu wenige. Wir kommen doch nur noch gerade zu den absolut nötigen Dingen wie Waschen der alten Menschen, Katheter legen, Betten machen. Es bleibt kaum noch Zeit für die eigentliche Betreuung, sich mal hinzusetzen und mit den alten Leuten zu reden. Und die Heimbewohner spüren das, sie resignieren, vereinsamen und sagen immer öfter zu uns, sie kommen sich vor wie in einem Fließbandbetrieb." Diese Aussagen des Altenpflegers Joachim S. sind vom Juli 1988.

Am 18. Februar 2000 schreiben junge Altenpflegerinnen und Altenpfleger einen offenen Brief und schildern ihren "Praxisschock". Die Ausbildung zum Altenpfleger hat mit dem ArbeitsAlltag wenig zu tun: "Im Dienstplan werden Schüler zwar so bezeichnet, aber bei der täglichen Aufgabenbewältigung werden sie wie examinierte Kräfte eingesetzt, teilweise sogar mit der Übertragung der Schichtleitung oder dem Absolvieren von Nachtdiensten. Dabei ist es den Arbeitgebern anscheinend nicht möglich, Schüler während der Unterrichtsblöcke von vier Wochen vom Wochenenddienst zu befreien. Nicht selten sieht es so aus, dass bis Sonntag auf der Station gearbeitet werden muss, und ab Montag beginnt dann der Schulalltag, und ebenso ist es nach dem letzten Schultag. Am Samstag ist wieder Dienst eingeteilt."

Altenpflege = Arbeit an der Belastungsgrenze

Überlastete Pflegekräfte arbeiten seit Jahren an der Belastungsgrenze: "Ich kann nicht mehr" "Wenn ich Akkord arbeiten möchte, dann gehe ich ans Fließband und nicht in die Altenpflege!" Ich bin nervlich am Ende. Ich bin entschlossen, den Beruf an den Nagel zu hängen" "Ich habe aus ethischen Gründen gekündigt!" Täglich erreichen uns unzählige Briefe, Faxe und Anrufe von verzweifelten Pflegekräften und Angehörigen aus der ganzen Bundesrepublik. Es wagen immer mehr den Weg an die Öffentlichkeit.

Die Angst, über die menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Altenhilfe mit denjenigen, die solche Zustände verantworten, offen zu reden, ist weit verbreitet. Befürchtungen, den Arbeitsplatz zu verlieren, als Nestbeschmutzer beschimpft zu werden und öffentlich diffamiert zu werden, sind in dieser Branche gang und gebe. Kritische Pflegekräfte werden auch von ihren Kolleginnen und Kollegen gemobbt. Dennoch, die Allianz des Schweigens scheint durchbrochen.

Seit über zehn Jahren ist bekannt, dass circa 80 Prozent der Pflegekräfte nach fünf Jahren den Beruf aufgeben. Hoch motivierte Pflegeschülerinnen und Pflegeschüler hören bereits in der Ausbildung auf. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege sind Resultat von politisch geschaffenen Rahmenstrukturen der Versorgung alter und pflegebedürftiger Menschen

Altenpflege unter den vorhandenen Bedingungen macht krank

Ein Krankenstand beim Personal eines Heimes von über 30 Prozent ist keine Seltenheit. Ärzte berichten von Pflegekräften, die sich "gesundschreiben lassen", weil "sonst überhaupt niemand da ist". Ein Thema, das offenbar die Krankenkassen und Berufsgenossenschaften nicht interessiert.

Zeitnot führt zu entwürdigender Pflege

Die ganze Verzweiflung einer Pflegekraft zeigt sich in dem bei einer Diskussion geäußerten Wunsch, "wenigstens zwölf Minuten einem sterbenden Menschen die Hand zu halten". Ursprünglich motiviertes und qualifiziertes Personal steht massiv unter Druck, verabreicht Psychopharmaka als Medikament gegen Zeitnot und nicht finanzierte Zuwendung. In den Arm nehmen, einem Sterbenden die Hand halten, trösten, heißt inzwischen "Kaviarleistung".

Viele Pflegebedürftige bekommen eine Magensonde, weil die Zeit fehlt, um einem Menschen mit Schluckproblemen das Essen mit der notwendigen Ruhe zu geben.

Auch Windeln und Dauerkatheter gelten inzwischen als "Pflege erleichternde Maßnahmen", obwohl die Pflegekräfte in der Ausbildung zum Beispiel Toilettentraining gelernt haben.

Warum funktioniert dieser "alltägliche Wahnsinn"?

Warum lassen sich die Pflegekräfte das gefallen? Es liegen uns Berichte von Pflegekräften vor, die besagen, dass sie in der Nacht für über 80 schwer pflegebedürftige Menschen allein zuständig sind, andere sogar für über hundert Menschen. Die damit Belasteten beschreiben diese Arbeitsbedingungen wohl zutreffend als kriminell. "Eigentlich darf ich meinen Dienst unter diesen Bedingungen gar nicht antreten."

Warum gibt es keinen gemeinsamen Aufschrei zum Beispiel der Altenpflegeschulen gegen diese unmenschlichen und unwürdigen Arbeitsbedingungen? Die Pflegekräfte vor Ort benötigen massive Unterstützung. Sie sind restlos überfordert und überlastet. Die Belastungsgrenze ist längst überschritten.

Wir haben es hier mit einer Berufsgruppe zu tun, die offenbar keine Schmerzgrenze kennt.

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist sehr niedrig; Gewerkschaften und berufsständische Organisationen interessieren sich auch kaum für Altenpflegekräfte. Die Kirchen äußern sich überhaupt nicht. Die desolate Lebenssituation pflegebedürftiger Frauen und die unzumutbaren Arbeitsbedingungen von Altenpflegerinnen ist eigentlich ein Thema für die Gleichstellungsstelle für Frauen - bisher Fehlanzeige!

Unsere Meinung:

von Gerhard Bartz

Hier konnte man in der bekannt griffigen Schilderung, die Claus Fussek zu eigen ist, das gesamte Dilemma unserer Gesellschaft im Umgang mit pflegeabhängigen Mitgliedern erkennen. Dort, wo das große Geld keinen Zuwachs (durch Produktion von Technik oder Pharmaka) mehr erwartet, löst sich die Gesellschaft vom Problem. Den ersten Schritt in dieser Richtung macht die Politik, in dem sie die gesetzlichen Rahmenbedingungen verändert. Plötzlich ist nicht mehr der alte oder kranke Mensch im Zentrum des Interesses. Der Fokus wird nunmehr nur noch auf das ausgerichtet, was dieser Mensch nicht mehr kann.

Das beste Beispiel dafür ist die Pflegeversicherung. Diese unterscheidet sich gravierend von dem, was unsere Gesellschaft zuvor unter "Soziales" verstanden hat (Beispiel BSHG). Statt nun die Pflegeversicherung auszubauen, um auf das alte, beileibe nicht Luxus-Níveau zu kommen, schrauben jetzt alle Interessengruppen auf der Zahler-Seite an den Leistungen des BSHG herum, um auch dieses Niveau noch zu senken. Terroristen laufen nicht nur mit Pistolen und Handgranaten herum, viele benutzen auch einen Kugelschreiber und werden aus Steuer- oder Beitragsgeldern bezahlt. Wie sonst würden Sie es nennen, wenn Menschen "von Amts wegen" die bisherige Existenz abgesprochen wird?

Ist wirklich nur noch der "Mensch", der leistungsfähig ist oder dessen Leistungsfähigkeit renditeintensiv wieder hergestellt werden kann. Ist der Rest nur noch möglichst "satt und sauber" bis zum "sozialverträglichen Frühableben" zu deponieren (ich habe damals schon nicht an einen Ausrutscher geglaubt)? Wenn wir diesen falschen Weg stringent so weitergehen, werden wir eines Tages wieder dort ankommen, wo wir in diesem Jahrhundert schon mal waren. Und die Gesellschaft wird bedauern erwähnen: "Also dieses Leben, das war nun wirklich nicht mehr lebenswert!"

Wir müssen also alles in unserer Kraft stehende tun, dass unsere Würde und unsere Verfassungsrechte nicht auf dem Altar der Lohnnebenkosten geopfert werden. Stellen wir unseren Politikern die Gretchenfrage. Wenn sie dann auch in das Gezeter von Lohnnebenkosten und Standortnachteil einfallen, dann wissen Sie (hoffentlich), was Sie von diesen Menschen zu erwarten haben. Wir brauchen Politiker, die mit dem Begriff "Solidarität" noch was anfangen können!

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