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Bundesgleichstellungsgesetz für behinderte Menschen in Kraft

INFORUM: Ausgabe 2/2002 (Textauszug)

Bundesgleichstellungsgesetz für behinderte Menschen in Kraft

zentrale Feier der Aktion Mensch in Berlin

Am 1. Mai war es endlich so weit: Das lang ersehnte Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen trat in Kraft. Viele der jahrzehntelangen Forderungen wurden manifestiert.

Wer viel gearbeitet hat, muss einen solchen Höhepunkt feiern, meinte die Aktion Mensch (AM) und richtete eine zentrale Feier in Berlin aus. Das Festzelt vor dem Martin-Gropius-Bau, in welchem zeitgleich die Ausstellung „Der imperfekte Mensch" präsentiert wurde, platzte fast aus den Nähten. Über vierhundert Gäste waren der Einladung der AM gefolgt, um Punkt 0.00 Uhr am 1. Mai das neue Gesetz zu begrüßen.

Schon morgens um 11.00 Uhr am 30. April begann es mit einer Pressekonferenz, zu der unerwartet viele MedienvertreterInnen gekommen waren. Am frühen Nachmittag schloss sich der gut besuchte Markt der Möglichkeiten an, auf dem sich verschiedene Selbsthilfeorganisationen präsentierten. Nach einer Umbaupause füllte sich das Zelt dann am frühen Abend sehr schnell zur eigentlichen Feier. Ein Programmpunkt mit Ansprachen, Musik und Podiumsdiskussionen jagte den anderen. Etwas weniger wäre mehr gewesen, meinten viele Gäste, die kaum zum Atemholen, sprich zu Gesprächen mit anderen kamen.

Es gab Rückblicke in die Geschichte der Behindertenbewegung, aber auch Ausblicke wie mit dem neuen Gesetz gearbeitAet werden muss, um es mit Leben zu erfüllen. So groß die Freude über das Erreichte ist, so sehr wurde deutlich, dass Landesgleichstellungsgesetze, das Zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetz (ZAG) und ein Assistenzsicherungsgesetz folgen müssen.

Kritische Worte gingen an Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin und ihr Ministerium, da das versprochene ZAG quasi fertig in der Schublade liegt und noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden könnte, wenn das Ministerium nur die entsprechenden Anstrengungen machen würde. Die Grußworte der Justizministerin, die sich für diesen Abend entschuldigte, zielen jedoch nicht in die Richtung. Vielmehr meinte sie, das sei eine Aufgabe der kommenden Legislaturperiode.

Der lange Weg zur Gleichstellung

Neben vielen anderen Programmpunkten war der Rückblick auf den Weg zum Gleichstellungsgesetz für viele besonders interessant. Ottmar Miles-Paul und Dr. Sigrid Arnade ließen die vergangenen Jahre Revue passieren.

Ein "Ausflug" in die Geschichte:

Anfang der 90er Jahre machte die Kunde von einem tollen Gesetz für behinderte Menschen in den USA die Runde. Zu den ersten, die darauf regierten, gehörten der damalige BSK-Vorsitzende Heinz Preis, der ehemalige Pressereferent Hans-Günter Heiden und der mittlerweile verstorbene Hans Aengenendt. Im März 1990 in Bonn machten sie auf einer Tagung auf die neuen Entwicklungen in den USA aufmerksam. Daraus erwuchsen die Forderungen nach Gleichstellungsgesetzen. Außerdem wurde der Grundstein zur Gründung des „Initiativkreises Gleichstellung Behinderter" gelegt.

Nicht nur moralische sondern auch handfeste pragmatische Unterstützung bekam die Bewegung durch die behinderte amerikanische Bürgerrechtlerin Marilyn Golden aus Berkeley, Kalifornien. Sie besuchte Deutschland ab August 1991 auf Einladung der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben, ISL, fast jährlich und gab wertvolle Tipps und Informationen für die Arbeit.

Berühmt wurde der sogenannte Düsseldorfer Appell anlässlich der Reha-Messe 1991. Der „Initiativkreis Gleichstellung Behinderter" gründete sich. Durch ihn wurden die Forderungen in die Öffentlichkeit transportiert. Ein wichtiger Unterstützer war Keyvan Dahesch, ein blinder Journalist, der keine Gelegenheit ausließ die Aktivitäten in den Medien darzustellen.

Die Bestrebungen gingen sowohl in Richtung Grundgesetzänderung und natürlich zu Bundes- und Landesgleichstellungsgesetzen für behinderte Menschen. Highlights brachten die Europäischen Protesttage für die Gleichstellung Behinderter, von denen der erste 1992 stattfand. Diese Protesttage werden nach wie vor durchgeführt und machen enormen Druck auf die Politik.

Blick über den Tellerrand

Sehr positiv wirkte sich die neue verbandsübergreifende Zusammenarbeit vieler Behindertenorganisation aus. Daran beteiligten – und beteiligen sich auch heute noch – Organisationen wie der BSK, die ISL, der VdK und der damaliger Reichsbund (heute Sozialverband Deutschland), sowie viele Mitgliedsorganisationen der BAGH und die Wohlfahrtsverbände.

Kurz vor der Bundestagswahl 1994 gelang es gemeinsam, dass der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung Abenachteiligt werden" in das neue Grundgesetz aufgenommen wurde. Eine ausgezeichnete Anhörung vor der Verfassungskommission im Januar 93 und die besondere Unterstützung durch Hans-Jochen Vogel und vieler anderer PolitikerInnen waren vorausgegangen.

Die Aktion Grundgesetz: Nicht lange danach gründete sich das NETZWERK ARTIKEL 3, NW 3, und der „Initiativkreis Gleichstellung Behinderter" wurde aufgelöst. Das NW 3 widmete sich fortan schwerpunktmäßig der Gleichstellung behinderter Menschen. Die Aktion Mensch – damals noch Aktion Sorgenkind genannt - rief 1997 die Aktion Grundgesetz ins leben. Was damals niemand von Aktion Sorgenkind zu hoffen wagte, trat ein: 104 Organisationen der Behindertenhilfe und -selbsthilfe schlossen sich zur wohl größten Bürgerrechtskampagne der Nachkriegszeit zusammen. Der traditionsbeladene, überaus erfolgreiche, aber dennoch längst überholte Name der Aktion Sorgenkind wurde in Aktion Mensch geändert, was ein wichtiges Zeichen setzte.

Die grün-roten Plakate der Aktion Grundgesetz Kampagne säumen seither jedes Jahr die Straßen und Plätze in unzähligen Städten quer durch die Republik. Rund um den 5. Mai finden vielerorts von der Aktion Mensch finanziell und ideell unterstützte Aktionen statt. Diese Aktionen zeichnen sich durch ungeheuere Vielfältigkeit und Kreativität aus. Und sie wirkten:

Die neugewählte rot-grüne Koalition nahm 1998 die Schaffung eines Gleichstellungsgesetzes in den Koalitionsvertrag auf.

Der Gesetzentwurf

Nach der Verabschiedung des Berliner Landesgleichstellungsgesetzes keimte dieA Hoffnung, die Regierung würde sich nun an die Arbeit machen und ein Bundesgleichstellungsgesetz schaffen. Doch der Schein trog.

„Wenn die nicht wollen, müssen wir wohl ran", war wohl die zutreffende Meinung des Forums behinderter Juristinnen und Juristen. Es war harte Arbeit, doch Anfang 2000 präsentierten Dr. Andreas Jürgens, Horst Frehe und Co. einen ersten Gesetzesentwurf. Dieser wurde dann auch zur Grundlage für das Gleichstellungsgesetz.

Unvergessen für die rund 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmer bleibt der Gleichstellungskongress im Oktober 2000 auf der REHAcare in Düsseldorf. Unter dem Motto „Gleichstellung jetzt" wurden im Rahmen von Podiumsdiskussionen und Workshops die Forderungen und Positionen der Beteiligten herausgearbeitet und präsentiert. Das Engagement des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Behinderten, Karl-Hermann Haack, und seines Teams waren unerlässlich für den Erfolg dieser wichtigen Veranstaltung, an der auch Wirtschaftsverbände teilnahmen.

Noch war „Sand im Getriebe", denn selbst als die Legislaturperiode zur Hälfte herum war, wusste noch niemand, welches Ministerium denn nun für das Gleichstellungsgesetz zuständig sei.

Ein grün gestrichener Bus kurvte ab Frühjahr 2001 für mehrere Monate durch Berlin. Auf ihm und im Internet wurden die Tage, die noch zur Schaffung des Gleichstellungsgesetzes blieben, rückwärts gezählt. Er erinnerte unübersehbar die Politikerinnen und Politiker daran, endlich ihre „Hausaufgaben" zu machen. Um auch den „ganz Vergesslichen" stets vor Augen zu haAlten, um was es geht, bekam jeder Abgeordnete eine Miniaturausgabe des grünen Aktionsbusses für seinen Schreibtisch.

Die Beharrlichkeit sollte letztendlich Früchte tragen. Als absolutes Novum wurden Andreas Jürgens und Horst Frehe ins Bundesarbeitsministerium berufen. Ihre Aufgabe war es, am endgültigen Gesetzentwurf mitzuarbeiten. Im November 2001 wurde das Gesetz in den Bundestag eingebracht.

Das Gesetz unter der Knute von Karl Hermann Haack und der Leitung von Norbert Paland wurde nun in einem rasanten Tempo vorangetrieben und schließlich im November 2001 in den Bundestag eingebracht und am 28. Februar 2002 vom Bundestag verabschiedet.

Das große Zittern

Nun begann das letzte große Zittern. Das Gleichstellungsgesetz musste noch vom Bundesrat verabschiedet werden. Dieser hatte noch etliche Bedenken, die jedoch weitestgehend ausgeräumt werden konnten. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte das Gesetz in den Vermittlungsausschuss gemusst. Dann wäre der Traum vom Gleichstellungsgesetz noch in dieser Legislaturperiode zu Zeitgründen ausgeträumt gewesen.

Am 22. März 2002 sollte das Gesetz den Bundesrat passieren. Das tat es auch. Allerdings von vielen unbemerkt, denn die Medien hatten genug damit zu tun, vom „Kasperletheater" wegen des Zuwanderungsgesetzes, das zuvor im Bundesrat behandelt wurde, zu berichten. So wurde das für behinderte Menschen so wichtige Gesetz von der breiten Öffentlichkeit fast unbemerkt verabschiedet. Abschließend sei dem Deutschen Behindertenrat für seine intensive und konstruktive Lobbyarbeit gedankt, die viel zum Erfolg beigetragen hAat.

Nun liegt es an den behinderten Menschen und ihren Organisationen, die Instrumente des Gesetzes einzusetzen und es zu beleben. Nur so kann es seiner Bestimmung gerecht wird, nämlich die Gleichstellung behinderter Menschen in seinem Zuständigkeitsbereich zu sichern.

Zusammenfassung

Die Stationen auf dem Weg zum Gleichstellungsgesetz

  • 1991 Düsseldorfer Appell und Gründung des Initiativkreises Behinderter
  • 1992 Erster Europäischer Protesttag zur Gleichstellung behinderter Menschen
  • 1994 Ergänzung Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes um den Halbsatz „..niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden"
  • 1997 Die Aktion Grundgesetz startet mit 104 unterstützenden Organisationen
  • 1998 Die Schaffung eines Gleichstellungsgesetzes wird in den Koalitionsvertrag aufgenommen
  • 2000 Im Frühjahr legt das Forum behinderter Juristinnen und Juristen einen ersten Gesetzentwurf vor
  • 2000 Im Oktober findet der Kongress „Gleichstellung jetzt" im Rahmen der Düsseldorfer REHACare mit rund siebenhundert Teilnehmern statt
  • 2001 Für mehrere Monate fährt der grüne Aktion-Grundgesetz-Bus als rollendes Mahnmal unübersehbar durch Berlin
  • 2001 Im November wird das Gesetz in den Bundestag eingebracht
  • 2002 Am 28. Februar passiert das Gesetz den Bundestag
  • 2002 Am 22. März stimmt der Bundesrat zu
  • 2002 Am 1. Mai tritt das Gesetz in Kraft!

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