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Aus der Sicht eines Weihnachtsbaumes

Aus der Sicht eines Weihnachtsbaums

Die ForseA-Weihnachtsgeschichte 2021

erzählt von Laura Brachtel

Prolog

Diese Weihnachtsgeschichte erhebt nicht den Anspruch, der Realität, zu entsprechen. Sie ist eher ein Wunsch, ein Appell an die reale Gesellschaft, endlich etwas gegen die Ausgrenzung der Behinderten was zu tun.

 

Foto einer Weihnachtspypramide mit drei sich drehenden EbenenMeine Gedanken kreisen um den langweiligen Tag: Es ist eine Woche vor Weihnachten. Jeden Winter – man könnte es im Kalender festhalten – fühle ich mich hier, an meinem Platz unwohl: Ich stehe geschmückt mit einer Lichterkette in einer Ecke im Heim. Wenn ich aus dem Fenster schaue, regnet es weiße Watte aus den Wolken, was sich im Volksmund „Schnee" nennt. …

Schon komisch: Das Personal ist jede Minute beschäftigt. Überall wird es gebraucht; „Wir haben viel zu tun…!" Es sind zu wenige, sie wirken hektisch. Die Bewohner sitzen in ihren Zimmern; zu zweit, zu dritt, manchmal auch allein. haben nur eine Klingel, um sich im Notfall bemerkbar zu machen.

„Das geht so nicht", denke ich – meine Zweige rascheln bei diesen Gedanken empört. Es entgeht mir nicht, dass sich meine Schützlinge beklagen, sie sagen: „Stunden dauert es, bis jemand kommt,". Aber den Pflegern und Pflegerinnen geht es in diesen Zeiten wirklich nicht gut; sie haben doppelt zu schuften, sie sind mit Schutzkleidung und Mundschutz ausgestattet, denn das Virus grassiert ja, es herrscht also doppelte Belastung.

Irgendwas muss sich ändern. Ich sehe zum Fenster hinaus; es dämmert. Irgendwie gelingt es mir zu gähnen. Ich muss etwas ändern…

Die Bewohner basteln Weihnachtsdekoration; sie schneiden mit stumpfen Scheren – damit sie sich nicht verletzen - Engel aus Goldpapier, rote Sterne, silberne Tannen. Die Weihnachtsstimmung wirkt jedoch gezwungen, nichts Natürliches. Die Bewohner sind nicht wirklich fröhlich; ihre Laune ist gedrückt. Immer wieder ist zu hören: „Wir möchten ein besseres Leben!" „Weihnachten war früher lebendiger." Auch die Weihnachtsmusik, die aus dem Radio vor sich hin dudelt, kann die Stimmung nicht beeinflussen.

Plötzlich hat jemand eine geniale Idee: Einer der Bewohner bastelt für mich ein Schild mit der Aufschrift:

„Hilfe! Wir benötigen Unterstützung!"

Sie beklecksen mir meine Zweige, mit so 'nem komischen Zeug, das sich „Klebstoff" nennt. Kleben das Pappschild drauf – einem E-Rolli-Fahrer gelingt es, mich nach draußen zu befördern.

Einer der Bewohner im Rollstuhl versucht die vorbeieilenden Passanten auf uns aufmerksam zu machen. Inzwischen sind wir eine große Gruppe, die man nicht mehr übersehen kann.

Draußen regnet es zwischenzeitlich in Strömen.

Nun stehe ich schräg gegenüber dem Heim. Ich kann meine Ungeduld kaum im Zaum halten und unterhalte mich mit einem Baum-Freund über die Situation. Doch ich muss feststellen, dass es nicht so einfach geht.

„Ich kann dich ja verstehen", sagt Kugli - mein Baumfreund - und raschelt im Wind. „Leiden deine Leute unter den Zuständen des Heims?" „Ja!" „Und das wäre im Klartext?" Ich erkläre, dass die Bewohner geradezu betteln müssen, um fünf Minuten draußen spazieren zu fahren. Mein Baumfreund nickt verständnisvoll, sofern das bei uns Weihnachtsbäumen möglich ist.

„Noch nie was von UN-Behindertenrechtskonvention gehört?" „Nein, habe ich noch nicht." „Die Bewohner müssen viel regeln, ehe sie in die Freiheit entlassen werden!" „Aber sie würden alles dafür tun!" Das stimmt. „Wenn du willst, kann ich dir helfen?" „Wie willst du das anstellen" Der Freund räuspert sich: „Man könnte den Tagesanzeiger der Stadt auf die Situation aufmerksam machen" „Dann bekommen wir doch Probleme mit dem Sozialamt", sagte ich skeptisch. „Ach, keine Sorge, das regele ich schon.

Die Zeit zieht sich in die Länge. Allmählich versammelt sich eine Menschenmenge um mich herum, von manchen werde ich fotografiert; Reporter der Tageszeitung unserer Stadt werden auf uns aufmerksam. „Was ist Ihr Anliegen?", fragt einer der Reporter die Bewohner. „Wir wollen in Freiheit unser Leben selbstbestimmen – wenn das ginge mit Assistenz!" Alles wird vom Reporter auf einem Notizblock, so heißt es, glaube ich, notiert.

Wie ich so dastehe, muss ich hinnehmen, dass so ein Interview wohl sehr lange dauern kann; immer wieder kommen die widersprüchlichsten Einwände: „Aber es ist doch gut für so Leute wie euch!" Es fällt meinem menschlichen Kämpfer schwer, den Reporter eines Besseren zu belehren, aber dieser notiert alles, was mein Schützling zu berichten hat.

Endlich – das Abenteuer kommt ins Rollen.

Am nächsten Morgen liest ein Bewohner verwundert folgende Zeilen aus der Zeitung vor: „Im Heim ‚Abendrot‘, herrschen chaotische Zustände; zu enge Toiletten, bei Bedarf keine Ausflugsmöglichkeiten." Erstaunt lässt er die Zeitung sinken. „Sind da nicht wir gemeint? Ist das nicht unser Heim?"

In meiner Ecke stehend grinse ich. Wenn Weihnachtsbäume überhaupt grinsen können. Es ist der Tag gekommen, an dem die Leiterin wohl einen Wutausbruch bekommen hat: Sie kommt aus der Küche und fuchtelt mit der Zeitung herum: „Wie wollt ihr denn da draußen zurechtkommen?" „Einen Versuch ist’s wert! Wir würden alles tun, um mit Assistenz unser eigenes Leben bestimmen zu können!", verteidigt sich ein Bewohner, der arglos sein Müsli löffelt. Die Leiterin schüttelt derweil den Kopf…

Nur drei Tage später, am 20.12.2021 klingelt es an unserer Heimwohnung. Eine Menge Leute stehen da, bitten um Erlaubnis hineinzukommen. „Was ist denn jetzt los?"

„Wir sind hier, um ihre ‚Insassen‘ zu befreien."

Soweit ich das von meiner Ecke aus beobachten kann, halten sie Schilder hoch: „Ein selbstbestimmtes Leben - kein Heim!"

Einer der neu Hinzugekommenen stellt sich als Leiter der Eingliederungshilfe beim örtlichen Sozialamt vor. Freimütig gibt er bekannt, dass die Ansprüche der Bewohnerinnen und Bewohner berechtigt sind. Seine Behörde wird sie bei der Realisierung unterstützen. Niemand muss gegen seinen Willen in einer Einrichtung leben, bestätigt er nochmal ausdrücklich, was von den behinderten Menschen begeistert aufgenommen wird. Sie jubeln alle und versammeln sich um mich.

So ist es klar, dass jeder berechtigt ist, eine barrierefreie Wohnung zu erhalten. Das Sozialamt wusste Bescheid…

Nur, wer hat das Ganze angeleiert? – mein Freund und ich…

Und das schöne: Es muss kein Märchen sein!

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