Porträt von Ferdinand (Ferdi) Schießl
von Ottmar Miles-Paul
Als ich Ferdinand Schießl Mitte der 90er Jahre das erste Mal
bei einer Pressekonferenz zu einer Protestaktion gegen die Mängel
der geplanten Pflegeversicherung in Bonn kennen lernte, lag er in seiner
Eisernen Lunge auf dem Tisch. Er machte auf beeindruckende Weise deutlich,
weshalb eine selbstbestimmte Assistenz für behinderte Menschen
nötig ist. Mit den inzwischen 21 Jahren, seit denen Ferdinand Schießl
trotz äußerst hohem Assistenzbedarf seine Hilfen selbst organisiert,
gehört der heute 45jährige zu den Vorreitern eines selbstbestimmten
Lebens behinderter Menschen in Deutschland.
Wenn man sich mit dem in München Ansässigen über seine
Geschichte unterhält, spürt man förmlich die Energie,
mit der er sich dafür engagiert, in einer eigenen Wohnung leben
zu können und die Hilfen so zu organisieren wie er sie braucht.
Dabei fing das Leben des Rollstuhlfahrers, der eine Eiserne Lunge zur
Unterstützung der Atmung benutzt, alles andere als auf ein selbstbestimmtes
Leben ausgerichtet an.
Aufgewachsen in Einrichtungen
"Die ersten zwölf Jahre meines Lebens verbrachte ich im Schwabinger
Krankenhaus, wo auch Uwe Frevert vom Vorstand der Interessenvertretung
Selbstbestimmt Leben in Deutschland - ISL e.V. - seine Kindheit verbringen
musste. Danach zog ich zusammen mit meinen Eltern in die Münchener
Stiftung Pfennigparade, wo ich meinen Hauptschulabschluss machte," erinnert
sich Ferdinand Schießl. Dort bewohnte er zusammen mit seinen Eltern
eine Drei-Zimmer-Wohnung, so dass letztendlich die ganze Familie in
der großen Sondereinrichtung lebte. "Dies bedeutete, dass ich
völlig auf meine Eltern angewiesen war, weil ich Hilfen bei vielen
Verrichtungen des täglichen Lebens brauche. Ich habe schnell gemerkt,
dass ich mich dabei erheblich einschränken musste. So konnte ich
zum Beispiel nie ins Bett, wann ich wollte, denn wenn ich länger
aufbleiben wollte, hätte meine Mutter auch länger aufbleiben
müssen. Vor allem konnte ich nicht weg, wann ich wollte und damals
war ich ein ziemlich verrückter Fußballfan von 1860 München
und bin zu sämtlichen Spielen mitgefahren. Darüber hinaus
war mein Vater ziemlich ängstlich, dass mir etwas passieren könnte.
Daher gab es ständig Konflikte," resümiert Ferdinand Schießl
das damalige Dilemma, in dem er sich befand. Ihm wurde also schnell
klar, dass er etwas unternehmen musste, um seine Situation zu verbessern.
Auf eigene Faust
"Ich bin dann schließlich auf den Gedanken gekommen, dass ich
völlig selbständig und alleine leben will. Ich bin ohne Wissen
meiner Eltern zum Wohnungsamt gegangen und habe mich für eine eigene
Wohnung beworben." Dabei hatte er jedoch nicht damit gerechnet, dass
der Antwortbrief des Wohnungsamtes an seine Eltern anstatt an ihn selbst
geschickt wurde. "Als meine Eltern auf diese Weise von meinem Plan auszuziehen
Wind bekamen, gab es bei uns zu Hause ein heftiges Gewitter. Meine Eltern
waren, wie viele andere in einer solchen Situation wahrscheinlich auch,
bitter enttäuscht von mir. Sie machten mir deutlich, dass das doch
gar nicht geht und ich es nie schaffen würde, allein zu leben."
"Nach einem furchtbaren Streit haben wir uns schließlich darauf
geeinigt, dass sich meine Eltern eine neue Wohnung suchen und ich die
bisherige Wohnung in der Pfennigparade übernehme, weil diese bereits
behindertengerecht war, ohnehin auf meinen Namen lief und sich meine
Eltern leichter um eine Wohnung der Bundesbahn bewerben konnten," erinnert
sich Ferdinand Schießl.
Ein damaliger Freund zog darauf hin zu ihm in die Wohnung in der Pfennigparade
ein. Die Pflege wurde über den Hausdienst der Pfennigparade geregelt.
Trotz dieses "sanften" Ãœbergangs in eine selbstbestimmtere Lebensform
musste er schnell feststellen, dass die Pflege durch den Hausdienst
nicht das richtige für ihn war. "Ich befand mich immer in der Warteschleife.
Selbst wenn man auf´s Klo musste, musste man warten. Dann kamen
Leute zu einem, die mir persönlich unsympathisch waren und von
denen musste ich mich dann versorgen lassen. Ich musste mich eine Woche
vorher anmelden, wenn ich mal ins Kino wollte. Und das Schlimmste war,
dass man sich in ein Buch eintragen musste, wenn man baden wollte. Das
fand ich ganz ganz furchtbar, denn auf diese Weise ging mir jede Privatsphäre
verloren."
Die Assistenz selbst organisieren
So hat er es auch nur genau vier Wochen unter diesen neuen Bedingungen
ausgehalten. "Durch Zufall hatte ich ein Schreiben vom Sozialamt in
die Hände bekommen, in dem aufgelistet war, wie viel Geld die Pfennigparade
für meine Pflege bekommt - und das waren immerhin 70.000 DM pro
Jahr für die maximal 3 Stunden Hilfe, die ich damals pro Tag bekam.
Da dachte ich mir, wenn ich das Geld in die Finger kriege, kann ich
meinen Pflegedienst auch selbst organisieren."
So fragte Ferdinand Schießl in einem Brief an das Sozialamt freundlich
an, ob er seine Pflege nicht selbst organisieren könne, wenn es
nicht mehr kostete. Die schnelle Antwort vom Sozialamt, dass eine derartige
Lösung aus Sicht des Sozialamtes durchaus möglich wäre,
wenn die Pfennigparade nichts dagegen hätte, ermunterte ihn, den
angedachten Weg weiter zu gehen und sich diese einmalige Chance nicht
entgehen zu lassen. "Ich bin dann gleich mit einer schriftlichen Anfrage
zur Pfennigparade, die ich mit Hilfe einer Sozialarbeiterin geschrieben
hatte. In der begründete ich, warum ich meine Pflege selbst organisieren
will und mich in der Pfennigparade nicht gut versorgt fühle," fasst
er diesen nicht unkomplizierten Prozess zusammen.
Das Argument, dass es keine Nachtwache gab und es für ihn ein
Sicherheitsrisiko darstellt, wenn er in der Eisernen Lunge liegt und
nicht telefonieren kann, um Hilfe holen zu können, gab schließlich
den Ausschlag für die Zustimmung der Pfennigparade zur Selbstorganisation
der Pflege. "Diese hatte sich zwar lange gewunden und sogar überlegt,
eine Nachtwache einzurichten, was ihnen letztendlich aber nicht recht
war. So stimmten sie schließlich meinem Ansinnen zu. Mit dieser
schriftlichen Zustimmung in der Hand bin ich gleich persönlich
zum Sozialamt spaziert und habe mit Nachdruck deutlich gemacht, dass
jeder Tag für mich unsicher ist und zählt. So bekam ich gleich
eine Zusage."
Dieses konsequente Vorgehen wurde Ferdinand Schießt auch dadurch
erleichtert, weil er in den vier Wochen seines Alleinlebens einen Zivildienstleistenden
der Pfennigparade kennen gelernt hatte, der ihn ermunterte, diesen Weg
zu mehr Selbstbestimmung zu gehen. "Er hat mir versprochen, mich in
der Übergangszeit zu unterstützen und hat sein Versprechen
auch gehalten. In der dreieinhalbmonatigen Ãœbergangszeit bis mein
Antrag letztendlich beschieden war, machte er eine Vielzahl von Doppelschichten
bei der Pfennigparade und mir und war Tag und Nacht für mich da."
In dieser Zeit hat Ferdinand Schießl dann auch andere Leute kennen
gelernt, die einsprangen, wenn er Unterstützung brauchte. Auf der
Beatmungsstation, auf der er hin und wieder untergebracht war, hatte
er zum Beispiel einen ehemaligen Zivildienstleistenden kennen gelernt,
der Mathematik studierte. Diesen stellte er als ersten richtigen Assistenten
für 7,50 DM Stundenlohn ein. Für den Assistenten ließ
sich diese Tätigkeit ideal mit seinem Studium verbinden. So begann
für Ferdinand Schießl sein neues Leben als behinderter Arbeitgeber.
Auszug aus der Pfennigparade
Nachdem er nun als Arbeitgeber seine Assistenz selbst organisierte, vollzog
Ferdinand Schießl mit seinem Auszug aus der Pfennigparade 1983 einen
weiteren Schritt zur Ablösung aus der Sondereinrichtung. "Ich konnte
damals die Leute in der Sondereinrichtung einfach nicht mehr ertragen.
Man geht nicht raus, hat alles, lernt keine neuen Leute kennen. Immer
nur Rollies, Hausmeister, es war einfach immer der gleiche Trott, der
mich abstumpfte. Hinzu kam, dass Leute, die früher, als meine Eltern
noch in der Wohnung wohnten, nett zu mir waren, sich plötzlich furchtbar
aufgeführt haben und es immer wieder Streit gab," schildert er die
damalige Situation, die ihn dazu bewog, eine eigene Wohnung außerhalb
der Pfennigparade zu suchen. Obwohl es damals nicht so einfach war, eine
behindertengerechte Wohnung zu finden, hat er viel Glück gehabt.
Zusammen mit einem Freund, der auch aus der Pfennigparade ausziehen wollte,
suchte er zwei behindertengerechte Wohnungen, die nah beieinander lagen.
Planstabsmäßig organisierten die beiden damals die Wohnungssuche.
Sein Freund saß immer am Telefon, so dass sie auf jeden Fall erreichbar
waren. Er fuhr hin und schaute sich die Wohnungen an. Eines Tages erhielten
sie schließlich einen Anruf von einer Frau, deren Wohnung frei wurde.
Sie erzählte, im Nachbarhaus würde eine weitere behindertengerechte
Wohnung frei. Wie Ferdinand Schießl es ja mittlerweile schon kannt,
war auch nun wieder einmal schnelles Handeln angesagt.
"Nachdem uns die Vermieterin zugesichert hatte, dass wir die Wohnungen
bekommen, wenn die Kosten für die Miete übernommen würden,
ließen wir uns von ihr zusichern, dass der Mietvertrag gilt, wenn
wir die Kostenübernahme nachweisen. Ich bin daraufhin gleich zur
übergeordneten Behörde des Sozialamtes des Bezirkes Oberbayern
gefahren. Da deren Gebäude nicht rollstuhlzugänglich war,
habe ich mich hoch tragen und auf den Schreibtisch des zuständigen
Sachbearbeiters legen lassen. Ich habe damals voll auf Angriff gesetzt
und er fand das super und unterstützte uns, indem er seiner Sekretärin
gleich einen Brief an den Makler diktierte, so dass wir zwei Wochen
später in unsere eigenen Wohnungen einziehen konnten. Meine Erfahrung,
dass es immer gut ist, die Verantwortlichen persönlich anzusprechen,
hatte sich also auch dieses Mal ausgezahlt," beschreibt Ferdinand Schießl
diese Blitzaktion.
Assistenz als Arbeitsplatz
Mit der eigenen Wohnung außerhalb der Sondereinrichtung und der
Selbstorganisation der Assistenz im Rücken, machte sich Ferdinand
Schießl nun daran, die Assistenzorganisation auf zuverlässigere
Beine zu stellen. Während er einerseits damit beschäftigt
war, weitere Anträge auf Erhöhung der ursprünglich viel
zu niedrig bemessenen Assistenzstunden und auf Anpassung der Entlohnung
der AssistentInnen zu stellen, wurde ihm schnell klar, dass er ohne
die Einrichtung von sozialversicherungstechnisch abgesicherten Arbeitsplätzen
seinen Assistentenstamm nicht auf Dauer halten kann. Während er
bereits Anfang der 80er Jahre mit diesem Ansinnen nicht weiter kam,
gelang es letztendlich Ende der 80er Jahre die Assistenzverhältnisse
offiziell als Arbeitsplatz anzuerkennen und die damit verbundenen Lohnnebenkosten
bezahlen und abrechnen zu können.
"Obwohl ich über die Neuregelung froh war, musste ich nun plötzlich
ein Experte in Buchhaltung und im Abrechnungswesen sein. Zuerst hat
mir dabei ein Assistent geholfen, der Betriebswirtschaft studiert hatte.
Heute mache ich das nicht mehr selbst, da es mir einfach zu viel ist.
Zuerst hatte ich dies an einen Steuerberater abgegeben, heute macht
dies die Abrechnungsstelle des Verbund behinderter ArbeitgeberInnen
- VbA e.V. - in München für mich. Die Kosten hierfür
werden vom Sozialhilfeträger übernommen."
Kann mir kein anderes Leben mehr vorstellen
Danach befragt, wie er die heutige Situation einschätzt, zögert
Ferdinand Schießl keine Sekunde: "Ich kann mir ein anderes Leben
nicht mehr vorstellen, weil ich die Unterschiede zu damals noch sehr
gut in Erinnerung habe. Das ist wie von einer schweren Krankheit doch
noch gesund zu werden. Mich hat damals am meisten die Abhängigkeit
vom Pflegepersonal fertig gemacht. Für alles, was du tun wolltest,
musstest du dich eintragen, wenn´s dich am Kopf juckt - die vielen
kleinen Dinge sind oft das Schlimmste - musst du warten bis jemand Zeit
hat, dich zu kratzen. Es war einfach unterhalb der Menschenwürde,
wenn man sich eintragen und lange vorher anmelden musste, wenn man Baden,
ins Theater oder einfach mal nur die Eltern besuchen wollte. Irgend
wann lässt man´s dann lieber. Deshalb musste ich das schnell
verändern, sonst wäre ich eingegangen. Erst dann ging für
mich das richtige Leben los, so dass ich jetzt endlich wie jeder Andere
machen kann, was ich will."
So ist Ferdinand Schießl heute ein sehr aktiver Mensch, der gerne
auf Reisen geht, zu einem leckeren Essen und einem guten Glas Wein nicht
Nein sagt, gerne am Computer arbeitet und in einer Hockeymannschaft
von ElektrorollstuhlnutzerInnen mitspielt und viel für diesen Verein
macht. In München geboren, möchte er aus dieser Stadt auf
keinen Fall mehr weg, denn diese sei für Rollstuhlfahrer ideal
und es würde ihn wieder viel Energie kosten, seine Pflege wo anders
neu zu organisieren. "Und das will ich mir auf keinen Fall noch einmal
antun," sagt er überzeugt.
So sind die Wünsche von Ferdinand Schießl für sich
selbst auch eher bescheiden, als ich ihn Frage, was er sich von einer
guten Fee wünschen würde. "Mit Sicherheit würde ich ihr
nicht sagen, dass ich laufen will. Das ist bei mir nicht der Fall. Ich
würde mir wünschen, dass es gesetzlich geregelt ist, dass
die Leute, die so leben wie ich, die Hilfen, die sie brauchen, selbstverständlich
bekommen. Sie sollen nicht ständig Rechenschaft ablegen müssen
und auf diese Weise ständig entwürdigt werden. Die dauernde
Kostendiskussion geht mir gewaltig auf den Nerv, denn es geht hier um
ein würdiges Leben und nicht um irgend welche Luxusartikel. Ich
wünsche mir einfach, dass behinderte Menschen als gleichberechtigt
und nicht als Exoten gesehen werden."
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