von Elke Bartz
"Das arme Kind wird wach. Klingeln Sie dem Arzt oder soll ich? Wir
sollen uns doch sofort melden, wenn sie sich rührt."
Das waren die ersten Worte in meinem anderen Leben, die ich hörte.
Sie betrafen mich, denn ich hatte wohl gestöhnt und die Aufmerksamkeit
meiner Zimmernachbarinnen auf mich gezogen. Es kann nur ein Laut und
keine Bewegung gewesen sein, denn Bewegung war etwas, dass mir noch
lange Wochen fast komplett unmöglich sein sollte. Zu diesem Zeitpunkt
erschien es mir allerdings rätselhaft, warum ich "ein armes Kind"
sein sollte.
Wir hatten Dienstag, den 3. Februar 1976, 7 Uhr morgens, der Jahreszeit
gemäß also noch dunkel draußen. Auch in dem Raum, in
dem ich mich befand, brannte nur ein spärliches Licht.
Wenige Momente nach dem kurzen Wortwechsel meiner Zimmerkolleginnen
betraten zwei Männer - sehen konnte ich sie nicht, nur hören
- das Zimmer. Ich fragte noch ziemlich benommen, wo ich sei und was
geschehen ist. "Im Soester Krankenhaus", lautete die Antwort. "Sie hatten
letzte Nacht einen schweren Autounfall und haben sich zwei Halswirbel
gebrochen". Auf meine spontane Frage, ob ich jetzt gelähmt sei,
reagierten die Ärzte entsetzt. Vermutlich hatten sie nicht damit
gerechnet, dass ich wusste, was es heißt, sich die Wirbelsäule
zu brechen.
Mir wurde erklärt, ich läge nur im normalen Zimmer und noch
nicht auf der Intensivstation, da diese erst am Vortag eingeweiht worden
war und nun noch gereinigt und desinfiziert würde. Doch dann hatte
ich die Ehre, zusammen mit einem alten Mann, der kurz darauf verstarb,
die neue Intensivstation in der Praxis einzuweihen.
Eine gebrochene Wirbelsäule bedeutet, nicht mehr laufen zu können.
Damit wusste ich vermutlich schon einiges mehr als andere Zwanzigjährige.
Was aber mit einer Halswirbellähmung sonst noch für Feinheiten
verbunden sind wie Blasen- und Mastdarmlähmung, gestörte Atmung
und Temperaturregulierung des Körpers, Sensibilitätsstörungen
usw. usw., ahnte ich damals noch nicht.
Nächste Station: Die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik "Bergmannsheil"
in Bochum
Vier Tage nach dem Unfall wurde ich mit einem Hubschrauber in die Berufsgenossenschaftliche
Klinik "Bergmannsheil" in Bochum geflogen. Selbst dort auf der Station
für Rückenmarksverletzte, sagten die Ärzte mir lange
Zeit nicht, was noch alles auf mich zukommen würde.
Die Soester Ärzte hatten in ihrer freundlich direkten Art noch
angekündigt, ich müsse mit etwa einem Jahr Krankenhausaufenthalt
rechnen. Am Ende könnte ich vielleicht und mit viel Glück
ein paar Stunden täglich im Rollstuhl sitzen. Vielleicht aber auch
nicht.
So dauerte es etliche Wochen, in denen ich zwar einige Verbesserungen
spürte, doch wurde es mir erst nach und nach bewusst, dass meine
Fingerfunktionen wohl nie mehr wiederkommen würden. Typisch Tetra
halt! (Tetraplegie - Halswirbellähmung mit Funktionsbeeinträchtigung
bzw. -verlust aller vier Extremitäten)
Mir war damals klar, "gesund" würde ich nie mehr werden können.
Doch hegte ich die große Hoffnung, eines Tages wieder unabhängig
von Hilfe zu werden. Nicht mehr angewiesen sein auf Hilfe beim Essen,
bei der Körperpflege, beim Anziehen, Übersetzen in den Rollstuhl
und tausend anderer alltäglicher - für nicht Behinderte ach
so selbstverständlicher - Handgriffe. Und vieles kam tatsächlich
wieder. Essen kann ich allein - wenn es mir jemand zuvor mundgerecht
zubereitet (MDK-Jargon). Mich alleine komplett zu waschen, anzuziehen
und vieles andere mehr, habe ich trotz vielen Ãœbens und vieler
Quälerei nicht geschafft. Dafür kann ich Auto fahren, mit
Tipphilfen am Computer schreiben und etliches andere. Doch einige Stunden
lang alleine sein ist unmöglich. Dafür gibt es zu viele Situationen,
in denen ich plötzlich auf Hilfe angewiesen bin. Und die brauche
ich dann sofort, nicht erst in einer halben Stunde oder gar noch später.
Zurück zum Krankenhaus: Es war klar, dass es auch "eine Zeit nach
dem Krankenhaus" geben würde. Nur ganz und gar nicht klar war,
wie diese aussehen könnte. Mein damaliger Ehemann, der den Unfall
verursacht hatte, würde die Pflege nicht übernehmen können.
Daran gab es keinen Zweifel. Zum einen musste er ja seiner Berufstätigkeit
nachgehen. Zum anderen ekelte er sich schon, wenn er beim Stuhlgang
helfen musste.
Außerdem hatte ich einige Monate vor dem Unfall eine Sendung
über Behinderte sowie über Frauen mit Brustamputation gesehen
und nach einer Krebserkrankung gefragt, ob er wohl bleiben würde,
wenn es mich eines Tages träfe. Ich könnte ja auch krank werden
oder schwer verunglücken. Niemand könnte sicher sein, immer
gesund zu bleiben. Seine Antwort: "Ich glaube nicht, dass ich mit einem
Krüppel zusammenleben könnte".
Zurück zu den Eltern in die Abhängigkeit, nachdem ich schon
gut drei Jahre meinen eigenen Haushalt hatte, wollte ich auf keinen
Fall. Mein Vater unterstützte mich während der Krankenhauszeit
sehr. Täglich kam er mit meiner Stiefmutter ins Krankenhaus. Doch
war er selbst gerade frisch verheiratet. In diese noch recht junge Beziehung
wollte ich nicht "einbrechen". Meine Mutter hatte ihrerseits genug mit
meinen vier jüngeren Geschwistern zu tun. Sie wäre hoffnungslos
überfordert gewesen.
Daher sah ich lange Zeit keine düstere Zukunft, sondern überhaupt
keine, obwohl mir die Ärzte noch eine Lebenserwartung von zwölf
Jahren prophezeiten. - Die habe ich mittlerweile, sehr zum Ärger
meiner Autohaftpflichtversicherung, um mehr als das Doppelte überschritten.
So verhasst den meisten frisch Verletzten in den ersten Wochen und
Monaten das Krankenhaus mit seinen Geräuschen, den Gerüchen
und dem vollkommenen Verlust von Intimsphäre zunächst ist,
so wächst es langsam zum Schutzraum heran. Hier kennt einen niemand
als nicht Behinderter. Hier wissen alle Ärzte, Schwestern, Therapeuten
und vor allem die anderen Patienten, was eine Querschnittslähmung
bedeutet. Hier schämt sich niemand im Rollstuhl zu sitzen. Niemand
wird blöd angeglotzt. Hier wird über Stuhlgangprobleme und
Inkontinenz offen geredet, werden Erfahrungen ausgetauscht, über
Zukunftsängste gesprochen.
Anders ist es draußen, wenn man die anstarrenden Blicke beim
Ausflug aus dem Krankenhaus erstmals spürt. Nicht für alle,
aber für sehr viele ist auch der erste Wochenendurlaub zu Hause
mit traumatischen Erinnerungen verbunden. Sogenannte Freunde blicken
weg, drehen sich verlegen um, damit sie ja nicht "Guten Tag" sagen müssen.
Andere meinen mitleidig über den Kopf der Betroffenen hinweg zu
ihren Begleitern: "Wie gut, dass sie/er im Kopf noch normal ist". Warum
sie das zu den Angehörigen sagen, ist mir bis heute ein Rätsel
geblieben. Anscheinend sind wir wohl doch nicht so ganz normal. Ganz
schlimm wirken Sätze wie: "So wie du jetzt möchte ich nicht
leben". Das baut auf, das macht Mut, zuversichtlich in eine Zukunft
zu sehen, die einen behindert macht. Perspektiven zu entwickeln fällt
so unendlich schwer.
Doch irgendwann naht der Tag der Entlassung und alles muss stimmen:
Die Pflege muss gesichert sein. Eine Wohnung muss gefunden oder barrierefrei
umgebaut werden. Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation müssen
in Erwägung gezogen oder eingeleitet werden. Alles soll passen
in einer Situation, die noch so schrecklich fremd und bedrohlich erscheint.
So gut meine medizinische Rehabilitation war, so schlecht stellte sich
die soziale Beratung dar.
Kein Wunder, dass viele Angehörige in diesem Stadium mit ihrer
Überforderung weglaufen, sofern sie es nicht schon früher
getan haben. Die Betroffenen haben diese Chance des Weglaufens nicht.
Sie haben (sitzen) zu bleiben.
Weggelaufen ist meine Familie nicht. Sie wusste nur keine Lösung.
Wie auch? Mein Mann hatte nach Lösungsmöglichkeiten gesucht
und mir eine stolz präsentiert: In Soest war gerade ein neues Altersheim
eingeweiht worden. Sieht ganz toll aus. Schön ruhig gelegen am
Stadtrand. Da könnten mich seine Verwandten doch schön besuchen.
Schließlich wohnen sie nur 15 km entfernt. Meine hätten halt
einen etwas längeren Weg.
Da ich keine Alternative vorweisen konnte, habe ich zwangsläufig
der Besichtigung zugestimmt. Da stand tatsächlich ein nagelneues
Gebäude. Sogar mit einigen Einzelzimmern. Eines sollte ich bekommen.
Meine Pflege wäre gesichert. Aber leider käme der Nachtdienst
schon abends um 18 Uhr. Bis dahin müsste ich wie alle anderen pflegebedürftigen
alten Menschen im Bett liegen. Fernsehen im Zimmer geht leider nicht.
Man könnte ja keine Ausnahme machen. Das würde ich sicher
verstehen. Sonst kämen alle mit solchen Extrawünschen. Schließlich
gäbe es einen Gemeinschaftsraum. Aber wir wollen ja nicht so sein,
hieß es, ein eigenes Bildchen oder einen Kalender können
wir ausnahmsweise gestatten. Ja, es gäbe eine jüngere Bewohnerin.
Sie sei 35 Jahre alt und blind. Alle anderen sind leider schon über
70. - Dieses Szenario sollte meine Zukunft darstellen. Ich war gerade
zwanzig.
An diesem Tag bekam ich einen Schreikrampf.
Weil sich anscheinend niemand erklären konnte, warum ich so aufgebracht
war und mich kaum noch beruhigen konnte, gab es die nächsten Wochen
Beruhigungsmittel. Folglich war ich friedlich, aber müde und Antriebs
los. Also bekam ich als Ausgleich dazu noch ein paar Aufputschmittel.
Die Fächergröße für die Tabletten reichten kaum
aus.
Der Entlasstag rückte bedrohlich immer näher. Wir mussten
endlich eine Lösung finden. Irgendwann brachte ein Pfleger ein
Behindertenwohnheim im baden-württembergischen Krautheim ins Spiel.
Mein damaliger Mann fuhr die 400 Kilometer hin, schaute sich die Einrichtung
an und kam begeistert wieder zurück. Eine ganze Stadt für
Behinderte, erzählte er. Jede Menge Leute, die so wie du im Rollstuhl
sitzen. Da fühlst du dich bestimmt wohl, lautete seine Meinung.
Schließlich könne er mich ja am Wochenende besuchen kommen.
- Vierhundert Kilometer weg zu ziehen von der Heimat, war unvorstellbar
für mich. Doch gab es keine Alternative.
Ab ins Heim
Am 25. Oktober 1976 war es dann soweit. An diesem kalten, sonnigen
Herbstmorgen wurde ich in einen Krankenwagen verfrachtet, mein Elektrorollstuhl
auf einem Anhänger hinten angehängt und ab ging es in Richtung
Süden. Die Fahrtstrecke, unterbrochen durch eine Reifenpanne, erschien
mir endlos. Die Straßen wurden immer schmaler und die Gegend immer
dünner besiedelt.
Endlich, nach fast acht Stunden Fahrt, kamen wir am Ziel an. Das Pflegepersonal
erwartete mich schon. Die Pflegerinnen begrüßten mich freundlich.
Allerdings verstand ich den Dialekt kaum. Schnell packten sie mich von
der Krankenwagentrage ins Bett und stellten den Koffer daneben. Ein
kurzes "Tschüss" vom Krankenwagenfahrer und der Krankenschwester,
die den "Transport" begleitet hatte. Weg waren sie. Zurück blieb
ich mit meinen Ängsten, Befürchtungen aber auch schwachen
Hoffnungen auf das, was mir die Zukunft wohl bringen würde.
Der erste Schock kam gleich am Ankunftstag. Im Krankenhaus wurden wir
frischen Querschnittsgelähmten regelrecht darauf gedrillt, regelmäßig
die Blase zu entleeren, bzw. entleeren zu lassen, da die Nieren- und
Blasenfunktionen nicht beeinträchtigt werden dürfen. (Damals
starb noch ein Großteil der Querschnitte nach ein paar Jahren
an Infektionen und Nierenversagen.) Ein weiterer Schwachpunkt für
Querschnittsgelähmte ist die durch die Lähmung und die Bewegungslosigkeit
viel schwächer durchblutete Haut. Regelmäßiges Umlagern
im Bett, etwa alle drei Stunden, ist daher unbedingt notwendig. So kann
den gefürchteten Dekubiti (Druckgeschwüren) vorgebeugt werden.
Das wurde uns immer und immer wieder gepredigt.
Als ich nach dem Abendbrot die Dienst habende Schwester fragte, wann
sie in der Nacht käme um mich zu drehen, meinte sie: "Ich kann
Sie noch um zehn Uhr drehen. Aber nachts ist hier niemand. Erst um sieben
morgen früh kommt wieder jemand."
Für mich bedeutete das, mindestens neun Stunden auf einem Fleck
zu liegen, nichts trinken zu können, die Blase nicht zu leeren,
überhaupt keine Hilfe herbeiholen zu können, weder wenn es
mich frieren würde, noch wenn es mir zu warm würde. Ich wollte
nur noch nach Hause. Aber das gab es schon lange nicht mehr.
In den nächsten Wochen lebte ich mich so langsam ein. Kurz nach
meinem 21. Lebensjahr nach Krautheim gekommen, war ich die jüngste.
Dementsprechend freuten sich gerade auch die jüngeren Praktikantinnen,
eine etwa Gleichaltrige pflegen zu können. So gab es immer jemanden,
der sich zwischendrin in mein Zimmer schlich, ein paar Handgriffe nebenher
erledigte, oder einfach mal quatschte. Ich selbst hatte mir vorgenommen,
aus meiner Situation, aus meinem Leben überhaupt, das Beste zu
machen. Ich redete mir ein, wie schön es sei, mich nicht ums Einkaufen,
Wäsche waschen, Putzen und sonstige lästige Dinge kümmern
zu müssen.
Meine Ehe, die ohnehin nicht besonders gut war, zerbrach unterdessen.
"Du musst froh sein, als Krüppel überhaupt einen Mann zu haben
und dann auch noch einen gesunden", bekam ich etliche Male von meinem
Mann zu hören. Er meinte, mit diesem Argument könnte er nach
Belieben und in jeder Hinsicht über mich verfügen. Anfang
Dezember teilte ich ihm mit, dass ich die Scheidung einreichen würde.
Das war dann auch der erste gute Vorsatz für das neue Jahr, den
ich im Januar gleich umsetzte. Im April 1977 nach knapp vier Jahren
Dauer wurde meine erste Ehe geschieden.
Zwischenzeitlich bekam ich Schmerzensgeld von der zuständigen
Haftpflichtversicherung. Ein Teil davon nahm ich und kaufte mir ein
Auto, das ich auf meine speziellen Bedürfnisse hin umbauen lies.
Endlich konnte ich meinen Traum, den Führerschein zu machen, erfüllen.
Mein Fahrlehrer, der noch nie einen behinderten Fahrschüler hatte,
sah das als besondere Herausforderung an. Er wurde bezüglich der
besonderen Herausforderung enttäuscht, denn nach 21 Fahrstunden
und damit schneller als andere, die gleichzeitig mit mir anfingen, besaß
ich die Fahrerlaubnis. Keine Ahnung, wer stolzer war, der Fahrlehrer
oder ich!
Ich will hier raus!
Es dauerte nicht lange bis ich merkte, dass ich mich zwar nicht mehr
ums Kochen usw. kümmern musste. Aber entscheiden, was und wann
ich essen wollte, konnte ich auch nicht mehr. Ebenso konnte ich nicht
mehr selbst bestimmen, wann ich fortgehen konnte, wann aufstehen, wann
zu Bett gehen. Immer musste ich warten, bis jemand Zeit dafür aufbrachte.
Viele Dinge waren überhaupt nicht möglich, weil ein Heim nun
mal kein Personal für "Extrawürste" zur Verfügung stellen
kann. Manchmal erlaubte ich mir etwas Besonderes, wie Begleitung zum
Kinogang oder in die Disco. Solcher Luxus musste dann aber von den 156
DM monatlichem Taschengeld bezahlt werden.
Nach wenigen Monaten war mir klar: In dieser Situation, geprägt
von Fremdbestimmung und Aufgabe der Eigenverantwortung, wollte ich nicht
den Rest des Lebens verbringen. Allerdings sah ich mal wieder keinen
Ausweg aus der Misere.
Bei einem vom Heim organisierten Sommerfest lernte ich einen Mann kennen,
der wie ich ab dem Halswirbel gelähmt war. Er kam aus einer achtzig
Kilometer entfernten Stadt zu diesem Fest. Das ging natürlich nicht
allein. Mit offenem Mund hörte ich zu, als er berichtete, er habe
als einer der ersten Behinderten in Deutschland rund um die Uhr Zivildienstleistende,
die ihm bei allem was er brauchte und wollte halfen.
Zu diesem Zeitpunkt sah ich das erste Mal, dass es möglich war,
außerhalb eines Heimes und unabhängig von der Familie zu
leben. Bis dahin kannte ich Zivis nur vom Krankenhaus und vom Heim.
Allerdings konnte ich mir noch nicht vorstellen, als Frau ausschließlich
von Zivis in einer eigenen Wohnung versorgt zu werden. Und woher die
Mittel nehmen? Der Sommerfestgast arbeitete in einem hochqualifizierten
Beruf und verdiente nicht schlecht. Ich hingegen bekam nur eine kleine
Rente.
So vergingen einige Monate. Zwischenzeitlich hatte ich über CB-Funk
einen Mann kennen gelernt und mich verliebt. Er war durch eine Polio-Erkrankung
im Kleinkindalter behindert, berufstätig und lebte ein paar Orte
weiter bei seinen Eltern. Nun überlegten wir gemeinsam, wie mein
Auszug aus dem Heim und das Leben in einer eigenen Wohnung organisiert
werden könnte. Da mein Mann schon damals in einem Lohnbüro
arbeitete, konnte er leicht ausrechnen, dass Lohnkosten für Helferinnen
privat nicht finanzierbar waren. Da ich bei meinem Autounfall nicht
angeschnallt war, hatte ich ein Drittel Mitschuld am Unfall. Die Anschnallpflicht
gab es gerade einen Monat und einen Tag, als mein Unfall passierte.
Also bekam ich nur zwei Drittel der durch den Unfall bedingten Kosten
von der Haftpflichtversicherung erstattet.
Immer auf der Suche nach Finanzierungs- aber auch rein praktischen
Möglichkeiten fuhr ich nach Lippstadt, wo der damals für mich
zuständige überörtliche Träger der Sozialhilfe ansässig
war. Dieser finanzierte die Heimkosten, die die Haftpflichtversicherung
und meine Rente nicht deckten. Recht naiv fragte ich den Sachbearbeiter,
welche Möglichkeiten ich hätte, aus dem Heim auszuziehen.
Nie werde ich vergessen, was ich empfunden habe, als er mich nur anbrüllte.
Ich solle gefälligst froh sein, dass für mich gesorgt würde.
Ich hätte doch ein Zimmer, ein Bett und einen Fernseher. Außerdem
würde ich zu essen bekommen, würde angezogen und frieren müsste
ich auch nicht.
Mehr als zaghaft und vollkommen eingeschüchtert, versuchte ich
ihm klar zu machen, was es bedeutet, keine Kontrolle mehr über
sein Leben zu haben und mit ständiger Fremdbestimmung zu leben.
Auch über die finanziellen Mittel kann man im Heim, bis auf ein
kleines Taschengeld (damals 156 DM monatlich), nicht mehr selbst verfügen.
Von diesem Taschengeld müssen sämtliche persönlichen
Bedürfnisse, vom Frisörbesuch, über Körperpflegemittel,
den Telefonkosten, Bücher bis zum Getränk außerhalb
der festen Essenszeiten und vieles andere mehr finanziert werden. Jede
neue Unterhose, jeder Schlafanzug, jedes Kleidungsstück überhaupt,
muss man als Heimbewohner beim Sozialamt beantragen und den Bedarf nachweisen.
Von den bewilligten Summen kann dann wieder nur die billigste "Qualität"
gekauft werden, die nach kurzer Zeit gerade mal für den Kleidersack
taugt.
Doch mein zur Auskunft verpflichteter Sachbearbeiter schrie mich nur
weiter an, er habe es nicht so gut wie ich, er müsse arbeiten,
um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Außerdem habe er keine
156 DM Taschengeld zur Verfügung. Ich solle also gefälligst
zurück nach Krautheim fahren, zufrieden sein mit dem was ich habe
und ja nicht mehr wiederkommen.
Erste Hoffnungsschimmer
Ein paar Wochen lang sanken meine Hoffnungen und meine Stimmung auf
"Null". Dann begann ein sehr sympathischer Zivi seinen Dienst im Heim.
Mein Freund und ich erzählten ihm von dem Problem, nicht zu wissen,
wie wir meinen Auszug aus dem Heim organisieren könnten. Er gab
uns daraufhin die Telefonnummer eines Studienrates, der Kriegsdienstverweigerern
in den damals noch sehr schwierigen Anerkennungsverfahren zur Seite
stand. Dieser erklärte sich sofort bereit, uns zu unterstützen.
Zum ersten Mal gab es konkrete Ansatzpunkte und einen Hoffungsschimmer,
doch noch aus dem Heim ausziehen zu können. Wir fanden eine Dienststelle,
die bereit war, ISB-Plätze (ISB = Individuelle Schwerstbehindertenbetreuung)
für mich einzurichten und Zivis für mich einberufen zu lassen.
Ich sollte nur selbst schauen, wo ich diese finden würde. Doch
dabei wollte uns ja unser neuer Bekannter helfen.
Noch schwieriger als erwartet gestaltete sich die Suche nach einer
geeigneten Wohnung, obwohl wir, was den Ort anbelangte, relativ flexibel
waren. Die Wohnung sollte nur nicht mehr als 30 km von der Arbeitsstätte
meines (noch) Freundes entfernt sein und eben für uns beide geeignet.
Ein ganzes Jahr lang suchten wir erfolglos.
In der Zwischenzeit wurde ich wegen der nicht vorhandenen Nachtpflege
im Heim sehr krank. Meine Nieren waren stark geschädigt. Die Folge
war ab Februar 1980 ein zweimonatiger Krankenhausaufenthalt und eine
schwere Operation. Als es mir dann richtig schlecht ging, machte mir
mein damaliger Freund einen Heiratsantrag - den ich annahm - und meinte
ergänzend: "Und jetzt ist Schluss mit der Sucherei. Du musst raus
aus dem Heim. Jetzt wird gebaut." Das erste Gespräch mit dem Architekten
fand noch im Krankenhaus statt.
Umzug in die Freiheit
Am 26. September 1981 war es dann endlich so weit: Wir zogen an einem
strahlenden Samstagmorgen in unser neues, selbstverständlich barrierefreies
Haus in Hollenbach ein. Zwei Zivis waren gefunden und pünktlich
einberufen worden. Der erste fing sogar ein paar Tage früher mit
seinem Dienst an und half beim Umzug. Kaum zu glauben, was sich in den
vier Jahren, elf Monaten und 29 Tagen meines Heimaufenthaltes in einem
einzigen Zimmer so alles angesammelt hatte.
Nach ein paar Wochen des Einlebens heirateten wir am 18. Dezember 1981.
Der Standesbeamte, gleichzeitig damals und noch heute nach zwanzig Jahren
auch der Bürgermeister, kam in einem enormen Schneesturm von Mulfingen
nach Hollenbach gefahren. Es war seine erste Trauung in einem Privathaus.
Doch ins Standesamt hätten wir nicht kommen können. Unzählige
Stufen hinderten daran.
Die Finanzierung der Kosten für die Zivis stellte sich letztendlich
als das geringste Problem dar. Aus rein praktischen Gründen, das
heißt wegen der jeweiligen Entfernung zur Dienststelle, wechselte
ich diese zweimal. Doch immer hatten wir Glück. Die Zivis wurden
uns zu sehr geringen Kosten zur Verfügung gestellt. Zwei Drittel
musste ohnehin die Haftpflichtversicherung übernehmen. Das verbliebene
Drittel bezahlten wir problemlos aus eigenem Einkommen.
So vergingen neun Jahre, in denen ich mich im Dorf einlebte, meinen
Mann bei seiner ehrenamtlichen Tätigkeit im Vorstand eines Fußballvereines
unterstütze und ein "ganz normales" Leben führte. Die Zivis
wechselten natürlich bei Beendigung ihrer Dienstzeit. Mit einigen
verbindet uns noch heute eine Freundschaft, andere wollen wir niemals
(vermutlich auch sie uns nicht) wiedersehen, weil es einfach nicht gepasst
hat. Das waren diejenigen, die den Zivildienst als Zwang ansahen und
uns das auch täglich zu spüren gaben. Mit Höhen und Tiefen
war die Pflege gesichert und es gab keinen Anlass und vermeintlich auch
keine Möglichkeit, diese Art der Versorgung zu ändern.
Die Katastrophe ist da
Dann kam das Jahr 1990. Es blieb meinem Mann und mir als das schlimmste
unseres Lebens in Erinnerung. Schon im Frühjahr begann sich die
Katastrophe abzuzeichnen. Zwei unserer damals drei Zivis sahen ihrem
Dienstende entgegen. Schon in der Vergangenheit war es mal mehr, mal
weniger schwierig, geeignete Nachfolger zu finden. Doch nun kündigte
der Gesetzgeber eine Wehrdienstzeit- und damit eine zwangsläufig
verbundene Zivildienstzeitverkürzung an. Kein Zivi ließ sich
mehr einberufen, denn jeder hoffte, durch eine spätere Einberufung
in den Genuss der kürzeren Dienstzeit zu kommen. Im späten
Frühjahr und im Frühsommer verließen uns dann zwei Zivis.
Trotz verstärkter Suche fanden wir keine Nachfolger. Unser letzter
verbliebener Zivi versprach, uns nicht im Stich zu lassen und zu bleiben,
bis wir wieder jemanden gefunden hätten.
Aber es kam noch schlimmer. Die Dienstzeitverkürzung trat in Kraft.
Sie galt jedoch nicht nur für die künftigen Zivis, sondern
auch für diejenigen, die schon Dienst taten. Unser letzter Zivi
hätte normalerweise bis zum Januar Dienst gehabt. Seine Dienststelle
teilte uns am 1. August mit, dass er wegen der Verkürzung, der
Ãœberstunden und des angesparten Urlaubs am 7. August nach Hause
gehen könnte. Unser Entsetzen war unbeschreiblich.
uerst sagte unser letzter Zivi zu - diese Möglichkeit gab der
Gesetzgeber - gegen ein etwas höheres Entgelt länger zu bleiben.
Dann aber setzten ihn seine Eltern unter Druck, doch am 7. aufzuhören,
denn so konnte er schon im September mit seiner Ausbildung zum Koch
anfangen. Für ihn bedeutete das ein gewonnenes Jahr.
In unserer Verzweiflung wandten wir uns an die Presse und an die Bundestagsabgeordneten
unseres Wahlkreises. Es wurden Radiointerviews gemacht, und ein großer
Artikel erschien in der Zeitung. Außer neugierigen Fragen der
Nachbarschaft gab es jedoch keine Resonanz.
Am 7. August, dem letzten Diensttag unseres Zivis trafen sich der Dienststellenleiter,
die Leiter zweier weiterer ambulanter Dienste, ein Zivi eines Dienstes
und ein Bundestagsabgeordneter zu einer Krisensitzung in unserem Wohnzimmer.
"Wir können schließlich keine Zivis backen. Wir können
versuchen, einen aufzutreiben und damit 37 Stunden in der Woche abdecken.
Ansonsten muss halt die Nachbarschaft ran", war eine der "konstruktiven"
Lösungsvorschläge. Dem Zivi hatten sie die Rolle zugedacht,
uns einzuschüchtern und vorzuhalten, ein überzogenes Anspruchsdenken
an den Tag zu legen.
"Wissen Sie Herr Bartz, ich kenne Sie jetzt schon zwei Stunden. Sie
haben doch kräftige Oberarme. Warum heben Sie Ihre Frau nicht ins
Bett und ziehen sie an und aus?" meinte der eine Dienststellenleiter.
Mein Mann kann mit Hilfe von Stützapparaten, Unterarmgehstützen
und viel Anstrengung ein paar wenige Meter laufen. Ansonsten benutzt
er einen Rollstuhl.
Voller Verzweiflung, aber gleichzeitig perplex über soviel "Sachkenntnis"
rutschte mir der Satz heraus: "Natürlich geht das: Rechte Hand
´ne Krücke, linke Hand ´ne Krücke, und mit den
anderen beiden Armen hebt er mich ins Bett." Von dem Moment an hatten
wir nur noch Gegner. Ich wurde als polemisch, nicht kompromissfähig
und destruktiv beschimpft. So könne man mir nicht helfen. Ich sei
ja gar nicht zugänglich. Nun hatte ich in meiner absoluten Verzweiflung
auch noch ein Alibi des Eigenverschuldens für die Misere und der
Unmöglichkeit einer Lösung geliefert. Mit uns könne man
ja nicht vernünftig reden. "Dann sehen Sie mal zu, wie es weitergeht.
Wir wissen keine Lösung." Und weg waren sie.
Keiner der sogenannten Profis hatte verstanden, dass wir in den vergangenen
Jahren kein überversorgtes Luxusleben geführt hatten, sondern
nicht mehr und nicht weniger als den vorhandenen Bedarf deckten.
Der Kampf beginnt
An diesem späten Nachmittag blieben mein Mann, unser letzter Zivi
und ich fassungslos zurück. Die Katastrophe war da und der Zivi
nach zwei Stunden, nachdem er mich noch als letzte Tat ins Bett gepackt
hatte, ebenfalls verschwunden. Wir sahen ihm sein schlechtes Gewissen
an, denn er wusste, in welcher Situation er uns zurück lies. Der
Einfluss seiner Eltern war halt verständlicherweise stärker
und so ging er, ohne sich je wieder zu melden.
Wenn meine Schwägerinnen nicht sofort eingesprungen wären,
hätte es das Ende bedeutet. Dass ich nie mehr ins Heim gehen würde
war (und ist noch immer) sicher. Die Schwägerinnen konnten allerdings
nur sehr sporadisch und unter größten Schwierigkeiten helfen,
da die eine wegen ihrer Landwirtschaft ausgelastet, die andere als Exportmanagerin
wenig zu Hause war. Ich musste oft im Bett bleiben, oder wusste nicht,
wie und wann ich abends wieder ins Bett käme. Ich konnte nicht
mehr genügend trinken, denn was im Körper ist, muss auch mal
wieder raus. Doch wann und wie, wenn niemand zum Helfen da ist?
Eine Woche sprang mein Vater ein. Die Körperpflege konnte er nicht
leisten, aber etwas im Haushalt helfen. Eine weitere Woche kam meine
Schwägerin. Sie half wo es ging, hatte aber keine Erfahrung in
der Körperpflege, dafür ihren kleinen Sohn, der sie brauchte,
dabei.
Durch einen weiteren Zeitungsbericht fanden wir nach einigen Wochen
wieder einen Zivi. Das Wahlkreisbüro des ehemaligen Bundestagspräsidenten,
Dr. Philipp Jenninger, unterstützte uns, sodass der Zivi zum 15.
Oktober einberufen werden konnte. Jede zweite Woche war wieder abgesichert!
Die Johanniter-Unfall-Hilfe hatte ebenfalls von unserer Situation gehört.
Sie stellte uns für die Freiwoche unseres Zivis einen weiteren
für drei Stunden täglich zur Verfügung. Da dieser sehr
flink war, konnten wir sogar den Haushalt notdürftig organisieren.
Doch ich musste nach wie vor oft im Bett bleiben. Unser Dorf konnte
ich gut fünf Monate lang nicht verlassen. Lebensqualität war
Luxus. Es ging nur noch um das nackte Ãœberleben. Mein Mann erlitt
an dem für uns so schicksalhaften 7. August einen Zusammenbruch,
unter dessen körperlichen Folgen er bis heute leidet.
Der dornige Weg zum Arbeitgebermodell
Im Januar 1991 hörten wir zum ersten Mal von der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung.
Ich bekam die Telefonnummer des Verbundes behinderter ArbeitgeberInnen,
VbA, in München. Hannes Messerschmitt, selbst schwerstbehindert,
lebte schon damals mit persönlicher Assistenz nach dem Arbeitgebermodell.
Erstmals erlebte ich, mich nicht mehr dafür rechtfertigen zu müssen,
bei meinem Mann in unserem Haus bleiben zu wollen. Erstmals verstand
jemand, was ich wollte. Erstmals war es normal, was ich wollte und wurde
nicht als überzogenes Anspruchsdenken abgetan. Erstmals bot jemand
Lösungsmöglichkeiten. Es war wie ein Wunder!
Zuvor bekamen wir monatelang nur zu hören, es wäre mit einer
so schweren Behinderung unmöglich, mit seinem ebenfalls behinderten
Mann im eigenen Haus zu leben. Kein ambulanter Dienst könnte und
wollte so viel Hilfe zur Verfügung stellen. Und ich wollte nicht
mehr ins Heim!
In den kommenden Wochen hätte sich eine Telefonstandleitung nach
München sicher rentiert, denn ich stand in ständiger Verbindung
mit Hannes Messerschmitt. Dabei hat er mich nie bevormundet oder sich
aufgedrängt, sondern nur die mögliche Vorgehensweise auf dem
Weg zum Arbeitgebermodell aufgezeigt. Denn eines wussten wir sofort:
Das Arbeitgebermodell ist genau das, was wir schon seit Jahren suchen.
Nur das "Wie", sprich das Umsetzen war uns rätselhaft.
Die Finanzierung sollte sich als größtes Problem darstellen.
Konnten wir das Drittel Eigenanteil an den Zivikosten leicht selbst
finanzieren (siehe oben), überstieg das Drittel der Kosten für
künftige, festeingestellte Kräfte unsere finanziellen Möglichkeiten.
Folglich stellten wir am 29. April 1991 den Antrag auf Kostenübernahme
nach § 69a und b BSHG. Die errechnete Summe der voraussichtlichen
Kosten lag bei ca. 10.000 DM monatlich.
Da auch zu diesem Zeitpunkt die Hilfeleistungen nur notdürftig
gesichert waren und durch Krankheit der Zivis immer wieder zusätzliche
Versorgungslücken entstanden, machten wir unseren Antrag dringlich.
So schnell wie möglich wollten wir mit dem Arbeitgebermodell beginnen
und damit endlich weg von der Betreuung hin zur Assistenz.
Die Antragsformulare erhielten wir relativ schnell. Dem Begleitschreiben
der Behörde war deren Verwunderung zu entnehmen, noch keine Akte
von uns zu haben, bzw. lediglich über Zeitungsartikel über
uns zu verfügen. Heute wissen wir, dass die Behörde bei Bekanntwerden
einer Notsituation von sich aus tätig werden muss. Damals waren
wir nur verblüfft. Schließlich hätte die Behörde
froh sein können, dass wir trotz unserer Behinderungen nie Hilfe
in Anspruch nehmen mussten oder besser wollten. - Zu einem späteren
Zeitpunkt, nachdem wir uns rechtskundig gemacht hatten, rechneten wir
aus, dass uns in den vorhergegangenen Jahren an die 200.000 DM pauschales
Pflegegeld zugestanden hätte!
Der sehnsüchtig erwartete Bescheid kam nach etwa drei Monaten.
Er war teilweise ablehnend, denn die Behörde bewilligte nur einen
Teil der beantragten Kostenübernahme. Bis zum Ende Juni betrug
die bewilligte Summe 5600 DM, ab dem 1. Juli 5900 DM. Das bedeutete
eine Deckungslücke der zu erwartenden Kosten von rund 4000 DM monatlich!
Diese teilweise Verweigerung war folglich gleichbedeutend mit einer
Ablehnung für uns.
Zur Formulierung des Widerspruchs nahmen wir uns einen Rechtsanwalt.
Wir hatten Angst, aus lauter Unkenntnis Formfehler zu begehen.
Glücklicherweise fanden wir wieder einen Zivi, der im Sommer 1991
seinen Dienst antrat. Nun verfügten wir bis Ende September wieder
über zwei Zivis. Zwischenzeitlich waren wir nicht untätig,
sondern gründeten einen Betrieb im eigenen Haushalt. Die verwaltungstechnischen
Voraussetzungen für das Arbeitgebermodell waren also gegeben.
Als der erste der beiden Zivis seinen Dienst beendete, stellten wir
unseren ersten festen Assistenten ein. Kurz darauf folgte der zweite,
ein rumänischer Asylbewerber, von Beruf Arzt. Den Zivi bekamen
wir nach wie vor sehr kostengünstig von unserer Dienststelle zur
Verfügung, sodass wir mit diesem Team unter dem Kostenlimit des
Sozialhilfeträgers blieben. Die größte existenzielle
Bedrohung war vorübergehend gemildert.
Trennung von Amts wegen ?
Nach umfangreichem Schriftverkehr erhielten wir am 3.2.1992 endlich
den Widerspruchsbescheid. Zuvor beurteilte wie üblich ein "sozialerfahrener
Kreis", der vom Widerspruchsausschuss damit beauftragt wird, unsere
Situation bzw. unseren Antrag. Diese "sozialerfahrenen Kreise" befanden,
dass es vollkommen ausgeschlossen sei, mit einer solch schweren Behinderung,
zusammen mit einem ebenfalls behinderten Ehemann, in einem eigenen Haus
zu wohnen. Hier käme auf jeden Fall nur ein Heimaufenthalt infrage.
Die vorausgegangenen neun Jahre, die wir schon so lebten und die Tatsache,
dass die Versorgung nicht durch unser Verschulden zusammenbrach, ignorierten
diese "Profis" vollkommen.
Zu einem späteren Zeitpunkt erkundigte ich mich, wer in einem
solchen "sozialerfahrenen Kreis" sitzt. Die Antwort machte vieles klar.
Es sind Betreiber von ambulanten Diensten, von Heimen und Vertreter
von Kostenträgern. Es geht eben nichts über neutrale Sachverständige!
Im Widerspruchsbescheid wurden die Leistungen weiterhin limitiert.
Ein Team, bestehend aus lauter festeingestellten AssistentInnen, hätten
wir damit nicht finanzieren können.
Wörtliche Auszüge zur Begründung des Widerspruchsbescheides:
"... Der Sozialhilfeträger muß daher berechtigt
sein, die Kostenfolgen einzubeziehen, wollten alle oder zumindest eine
Vielzahl von Pflegebedürftigen trotz notwendiger "Rund-um-die-Uhr-Betreuung"
auf häusliche Wartung und Pflege bestehen. Der daraus folgende
personelle Bedarf und die dafür notwendigen Kosten wären von
der Allgemeinheit wohl kaum aufzubringen. Andere Ehepaare, oft langjährig
verheiratet, treffen in der Regel von sich aus die Entscheidung, daß
ein Ehepartner sich stationär versorgen läßt, wenn die
Betreuung im häuslichen Bereich durch Angehörige oder durch
stundenweisen Einsatz von Pflegekräften der Sozialstationen oder
im Wege der Nachbarschaftshilfe nicht mehr gewährleistet werden
kann, d.h. die Pflege einen solchen Umfang angenommen hat, daß
der personelle Einsatz und die hierfür entstehenden Kosten nicht
mehr tragbar sind.
Für Frau Bartz könnte diese ständig notwendige Betreuung
bei Tag und Nacht stationär im ...gewährleistet werden, da
es sich hierbei um eine Spezialeinrichtung für Schwerstbehinderte
handelt. Dort sind auch ihr vergleichbar körperbehinderte Rollstuhlfahrer
untergebracht, so daß die Einrichtung für sie nach unserer
Auffassung auch geeignet ist. (...) Wir anerkennen unter Abwägung
aller Umstände dieses Einzelfalles einen Zuschlag zu den Heimkosten
in Höhe von 30 % und sind insoweit bereit, bis zu dieser Grenze
die Kosten für die häusliche Wartung und Pflege noch als angemessen
anzusehen.
Bei dieser Entscheidung, einen Zuschlag von 30 % zu gewähren, haben
wir insbesondere berücksichtigt, daß nach Artikel 6 Grundgesetz
der Schutz der Ehe und Familie zu beachten ist. Zwar ergibt sich hieraus
kein eigener Leistungsanspruch, jedoch sahen wir es als berechtigt an,
den Zuschlag von in der Regel 15 bis 20 % auf 30 % zu erhöhen....."
Nun hatten wir schriftlich, was nach Ansicht eines Sozialhilfeträgers
unsere Ehe in Mark und Pfennig wert ist: nämlich zehn bis fünfzehn
Prozent der Kosten für ein Behindertenwohnheim. - Viel schlimmer
jedoch war die faktische Aufforderung der Behörde, mich von meinem
Mann zu trennen und wieder zurück ins Heim zu ziehen. Alleine die
Tatsache, dass dort andere Menschen mit gleichen Behinderungen lebten,
reichte nach deren Meinung aus, um das Heim als geeignet anzusehen.
Nie bin ich gefragt worden, warum ich ausgezogen bin, oder was das Leben
in Freiheit, mit meinem Mann in unserem eigenen Haus für mich bedeutet.
Der Tag an dem dieser Bescheid kam wird uns, wie einige andere in den
vergangenen Monaten für immer unvergessen bleiben. Wir konnten
nicht fassen, "zur Trennung von Amts wegen" aufgefordert worden zu sein.
- Diese Passage des Widerspruchs leugnete beim späteren Gerichtsprozess
die Sachbearbeiterin übrigens vehement.
Das Klageverfahren
Die Hoffnung, ohne Klageverfahren die Kostenübernahme bewilligt
zu bekommen, wurde also zerstört. Was wir befürchteten, war
nun Realität: Wir mussten Klage vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart
einlegen. Einen anderen Weg gab es nicht. Zur damaligen Zeit waren die
Verwaltungsgerichte durch unzählige Asylverfahren hoffnungslos
überfordert. Wir mussten also damit rechnen, Jahre lang auf einen
Verhandlungstermin zu warten. Damit war die ständige Gefahr verbunden,
keinen Zivi mehr zu finden, was die Kosten sofort gesteigert und uns
zahlungsunfähig gemacht hätte.
Diese permanenten Ängste waren der reinste Psychoterror. Kam mal
wieder ein Brief mit dem Stempel des Landratsamtes, setzten bei mir
sofort extreme Bauchkrämpfe ein. Besonders in den ersten Monaten
und Jahren lies der Stil der Schreiben auch nichts anderes zu, als sich
als Bittsteller und Almosenempfänger zu fühlen, die den Staat
ungebührlich ausnehmen wollen. Diese Umgangsweise hat sich mittlerweile
geändert. Doch damals war sie so belastend, dass sie unsere Gesundheit
nachhaltig beeinflusste.
Nach mehr als zwei Jahren stand endlich der Verhandlungstermin fest:
am 24. Juni 1994 war die mündliche Verhandlung angesetzt. So sehr
wir den Termin herbeisehnten, so sehr fürchteten wir ihn. An diesem
Tag würden andere Menschen, die uns nie zuvor gesehen hatten, die
uns nicht kannten über unser ganzes weiteres Leben entscheiden.
Der Sieg
Wir hatten unendliches Glück. Das Gericht war "mit voller Besetzung",
also mit einem Vorsitzenden Richter, zwei weiteren hauptamtlichen RichterInnen
sowie zwei ehrenamtlichen beisitzenden Richtern anwesend. Seitens der
Behörde kamen die Sachbearbeiterin, der Leiter des Sozialamtes
und ein Justiziar. Mein Mann und ein Assistent begleiteten mich. Auf
der Bank der Klägerin saß ich allein mit meinem Anwalt. Das
Glück bestand unter anderem aus einer Richterin, die sich sehr
sorgfältig in unsere inzwischen tausend Seiten starke Akte eingelesen
hatte und dem Vorsitzenden Richter jede Frage sofort und präzise
beantwortete, wenn entsprechender Bedarf bestand. Der Vorsitzende Richter
seinerseits konnte sich anscheinend sehr gut in die Situation versetzten,
wie unmenschlich es ist, ein Ehepaar zu trennen und eine Person aus
dem sozialen Umfeld herauszureißen; das Ganze ausschließlich
aus Kostengründen. Er betonte mehrfach, selbst ein noch so gut
geführtes Heim, könne kein Leben in der eigenen Familie und
in den eigenen vier Wänden ersetzen. Es müsse alles getan
werden, damit der Schutz der Familie gewahrt bliebe. Da er uns (er hatte
meinen Mann zwischendurch auch befragt) in der Verhandlung als verantwortungsbewusst
kennen gelernt habe, wollte er auch kein Limit für die Kostenübernahme
setzen. Er sei sich sicher, dass wir keine künstlich überhöhten
Kosten geltend machen würden. Auf die geradezu entsetzte Nachfrage
seitens der Behörde bestätigte er nochmals, es seien alle
real anfallenden Kosten zu übernehmen.
Leider weigerte er sich, ein Urteil zu sprechen und damit einen Präzendensfall
zu schaffen. Beim Vergleich mussten wir jedoch lediglich anerkennen,
dass die Haftpflichtversicherung meines Autos nicht bei der Einkommensbereinigung
berücksichtigt wird.
So richtig freuen konnten wir uns an diesem Tag noch nicht. Unter dem
Einfluss der ungeheuren Belastung der vergangenen vier Jahre stehend,
dauerte es einige Tage, bis uns klar war: Wir haben es geschafft. Die
Kostenübernahme ist gesichert!
Pflegeversicherung als Bedrohung
Eigentlich könnte der dornige Weg zum langersehnten und lang angestrebten
Arbeitgebermodell hier enden. Doch unsere Erleichterung sollte nur wenige
Monate andauern, denn dann kam die Pflegeversicherung. An ihr drohte
wieder einmal die ganze Versorgung - oder jetzt besser und korrekter
mit Assistenz bezeichnet - zu scheitern.
Am 17. Februar 1995 fand die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst
der Krankenkassen (MDK) statt. Dessen Mitarbeiter - eine Fachpflegekraft,
die sich unwidersprochen mit Herr Dr. anreden ließ - kam mit zweistündiger
Verspätung. Seiner Mitarbeiterin hatte ich vormittags, als sie
den "Besuch" ankündigte gesagt, dass ich noch einen Termin hätte
und zu einem bestimmten Zeitpunkt fortfahren müsste.
Der MDK-Mitarbeiter ging den üblichen Fragebogen mit mir durch.
Als ich glaubte, wir wären fertig mit der Ermittlung des Pflegebedarfs
und ich endlich meinen Termin wahrnehmen könnte, meinte er: "Lassen
Sie sich mal aufs Bett legen und ausziehen. Ich will Sie untersuchen."
Mein Protest nutze nichts. Also rief ich meine Assistentin. Diese musste
vor seinen Augen das Bett richten und mich auskleiden. Die "Fachpflegekraft"
prüfte mit einem Hämmerchen meine Reflexe. Vielleicht meinte
er, ich hätte die Querschnittslähmung neunzehn Jahre lang
nur simuliert.
Was anschließend geschah, ist mir bis heute - mehr als sechs
Jahre danach - noch immer als unendlich entwürdigend in Erinnerung
geblieben: Meine Assistentin musste mich auf die Seite drehen. Die "Fachpflegekraft"
zog eine Taschenlampe hervor, mir die Pobacken auseinander und leuchtete
dort herum. So wollte er wohl den Pflegebedarf ermitteln, denn nichts
anderes war sein Auftrag. Ich kam mir an diesem Tag so gedemütigt
und wehrlos ausgeliefert vor.
Ich bin häufig gefragt worden, warum ich mich gegen diese Behandlung
nicht gewehrt habe. Der Grund lag in der Angst, dass er mir mangelnde
Mitwirkungspflicht unterstellen und mich nur in Pflegestufe II einstufen
würde. Das hätte unter Umständen wieder ein Klageverfahren
zur Folge gehabt. Ich wusste ja, dass ich Anspruch auf Pflegestufe III
hatte. Außerdem fürchtete ich, das Sozialamt würde bei
einer falschen Einstufung plötzlich anfangen, den Umfang meines
Hilfebedarfs anzuzweifeln und es liefe wieder auf ein Verfahren hinaus.
Zusätzliche Gefahr durch die Pflegeversicherung bestand darin,
dass viele Sozialhilfeträger auf die vorrangige Inanspruchnahme
der Sachleistungen der Pflegeversicherung verwiesen. Behinderte ArbeitgeberInnen
können jedoch nur die niedrigeren Geldleistungen beziehen. Erst
1996 schützte der Gesetzgeber die Arbeitgebermodelle (§ 69c)
im Bundessozialhilfegesetz. Meinem eigenen Sozialhilfeträger gegenüber
konnte ich glücklicherweise verdeutlichen, dass meine Versorgung
wieder zusammenbrechen würde, da ich keinen ambulanten Dienst in
das System einbinden konnte. Würde es mir wider Erwarten gelingen,
die gesamte Hilfe über einen Dienst zu sichern, stiegen die Kosten
auf über dreißigtausend DM. Ein Argument, dass die Behörde
überzeugte, denn der Verweis auf eine Einrichtung kam laut Verwaltungsgericht
ja nicht in Betracht.
Leben in Selbstbestimmung - Das Ziel ist erreicht
Seither sind über sechs Jahre vergangen. Ab und zu wechseln Assistentinnen,
wenn sie heiraten, eine Ausbildung beginnen oder ähnliches. Insgesamt
ist jedoch eine große Kontinuität vorhanden. Eine meiner
Assistentinnen arbeitet seit über vier Jahren bei mir, die andere
seit über zwei Jahren, obwohl sie einen Anfahrtsweg von mehr als
70 Kilometern hat.
Nachdem ich außer den Servicehäusern oder einer Assistenzgenossenschaft
alle Möglichkeiten der Versorgung kenne, bleibt als Bilanz nur
festzustellen, dass das Arbeitgebermodell die für mich geeignetste
Alternative darstellt. Der jahrelange, damals sehr belastende und teilweise
sehr entwürdigende Kampf hat sich auf jeden Fall gelohnt. Ich führe
zusammen mit meinem Mann ein selbstbestimmtes Leben, das anders nicht
möglich wäre.
Der Kontakt zur Selbstbestimmt-Leben-Bewegung hat sich in dieser Zeit
immer mehr verstärkt. Durch die eigene Betroffenheit musste ich
mich zwangsläufig kundig machen. Das dabei erworbene Wissen konnte
ich in den vergangenen Jahren an viele Hundert andere Betroffene weitergeben.
Als Plattform dazu dient das Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter
Menschen, ForseA e.V., als dessen Vorsitzende ich seit seiner Gründung
fungiere.
Der von mir verfasste "Ratgeber für behinderte ArbeitgeberInnen
und solche, die es werden wollen", dient nicht nur behinderten Menschen
und ihren Angehörigen, sondern auch anderen Beratungsstellen, sogar
Rechtsanwälten, Richtern und Sozialhilfeträgern zur Information.
Außerdem liegt er in vielen Universitätsbibliotheken aus
und wurde in etlichen Diplomarbeiten zitiert.
Letztendlich ist es uns gelungen, an den Jahren ungeheurer Probleme,
durchlebter und durchlittener Katastrophen nicht zu zerbrechen und nicht
aufzugeben. Im Gegenteil sind wir nicht zuletzt durch die Solidarität
anderer Menschen mit Behinderungen, sowie der Unterstützung durch
einen ausgezeichneten Rechtsanwalt stärker und sehr sachkundig
geworden, sodass wir nun unsererseits viele andere behinderte Menschen
bei ihrem Kampf um ein selbstbestimmtes Leben unterstützen können.
Elke Bartz
Hollenbach im November 2001
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