Bundesverband
Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.


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Abschied von den Anstalten

von Uwe Frevert

Zu meiner Person:

Zunächst möchte ich von mir persönlich einen Eindruck verschaffen: Ich bin 44 Jahre alt und hatte mit knapp zwei Jahren Kinderlähmung (Poliomyelitis). Fast hätte ich damals während der akuten Polio-Erkrankung mit einer Eisernen Lunge" (Unterdruckkammer) beatmet werden müssen und auch heute habe ich geringe Einschränkungen mit meiner Atemmuskulatur. In Folge von Polio benutze ich einen Elektrorollstuhl und bin auch auf personelle Hilfen (Assistenz) angewiesen. Ich bin glücklich verheiratet, habe zwei Kinder im Alter von 5 und 8 Jahren und arbeite in Kassel in einem großen Zentrum für selbstbestimmtes Leben als Peer Counselor (Berater), um anderen behinderten Menschen bei der Bewältigung von Problemen behilflich zu sein.

Ich verbrachte 10 Jahre im Krankenhaus, München Schwabing, auf der Station 8/1, dem damaligen Polio-Kinderkrankenhaus von München, weil es in den 60er Jahren für Menschen mit meiner Behinderung scheinbar keine Unterstützung gab. Das medizinische Krankenhauspersonal bestimmte die Zeiten, zu denen ich aufstehen durfte und an denen ich im Bett sein musste. Schlechte Erfahrungen machte ich damals, und diese bestätigten sich später aufgrund der vielen Kontakte mit anderen behinderten Personen, als allgemein gültige Gegebenheit in der BRD und auch im Ausland. Unser Anderssein wurde mit krank gleich gesetzt und Ärzte in gehobener Position, die vielleicht während des dritten Reiches ausgebildet wurden, oder deren Schüler, haben uns Schmerzen und Narben zugefügt (vgl. "Die Wohltäter-Maffia", Udo Sierk und Nati Radtke, Juni 1984, S.7)

Ein Mitpatient namens Adolf Ratzka tat damals das einzig Richtige. Er machte im Krankenhaus sein Abitur per Fernlehrgang und wanderte anschließend in die U.S.A. aus, um an der renomierten Universität in Berkeley studieren zu können.

Die fortschrittliche Behindertenhilfe:

1969 zog ich mit meinen drei Geschwistern und meiner geschiedenen Mutter in ein großes Rehabilitationszentrum der Pfennigparade·e.V. in München: "dieses Ghetto" mit über 500 Behinderten gilt als fortschrittlich. Es liegt ganz in der Nähe des Krankenhauses München Schwabing.

Damals, im elften Lebensjahr, konnte ich kaum schreiben, geschweige denn ein ganzes Buch lesen, weil ich keinen Sinn beim Lernen im Krankenhaus erkennen konnte. Dank des liebevollen Verständnisses meiner Mutter konnte ich mich doch noch von ihr dazu bewegen lassen, die Mittlere Reife und die Fachoberschule für Technik mit Erfolg abzuschließen.

Als heranwachsender Mann verspürte ich den Wunsch ein eigenständiges Leben führen zu können. Meine Geschwister waren bereits ausgezogen, nur ich konnte die 4-Zimmerwohnung nicht verlassen, da sie an eine behinderte Person gebunden war. Auch gab es 1977 keine ambulanten Hilfsdienste (AHD) für behinderte Personen wie mich. Für die Bewohner der Pfennigparade gab es einen "Hauspflegedienst", welcher mir Assistenz für die täglichen Verrichtungen und der Studienbegleitung durch Zivildienstleistende (ZDL) zusicherte. Schließlich fand meine Mutter für sich eine geeignete Wohnung und ich hatte beschlossen die 4-Zimmerwohnung zusammen mit nichtbehinderten Freunden zu teilen. Es dauerte nicht lange und mir wurde nahegelegt die Pfennigparade zu verlassen, da "die Wohnungen nur für Behinderte bestimmt" seien. Eine Klassenkameradin, Ingeborg Plangger, hatte ein ganz ähnliches Problem: Sie lebte mit einem ehemaligen Zivildienstleistenden zusammen in ihrem Zimmer im Internat der Pfennigparade und sollte ebenfalls "baldmöglichst die Einrichtung verlassen".

Dann gab es noch einen blinden Heimleiter, Dr. August Rüggeberg, der sich zwischen den Interessen der behinderten Internatsbewohner und den angestellten Pädagogen wieder fand. August Rüggeberg setzte sich damals für die Anliegen der behinderten Bewohner ein und kämpfte z.B. gegen eine Geschäftsführung, die unangemeldete Zimmerbegehungen durchführte.

Ein ambulanter Hilfsdienst:

Die Idee des ambulanten Hilfsdienstes (AHD) wurde in den Jahren 1977 und 1978 in der Pfennigparade mit dem damaligen blinden Heimleiter, den Internatsbewohnern und anderen behinderten Personen, die aus der Sondereinrichtung ausziehen wollten, sowie Freunden und Mitarbeitern der Pfennigparade entwickelt. Die Vereinigung Integrationsförderung - VIF·e.V., begann im September 1978 mit Zivildienstleistenden (ZDL) und Helfern des freiwilligen sozialen Jahres (FSJ) ihre Arbeit.

Dieser erste größere und effektive AHD der BRD ermöglichte es uns, Assistenz in der Schule, beim Studium und am Arbeitsplatz einzusetzen. ZDL und Helfer des FSJ wurden ebenfalls für die Teilnahme am Leben der Gesellschaft bereitgestellt. Allgemein kommen personelle Hilfen für behinderte und alte Personen in Frage, die eine personelle Hilfestellung bei der täglichen Körperpflege, beim An- und Ausziehen und bei der Haushaltsführung benötigen. Die individuelle Hilfestellung ermöglichte es z.B. einem schwerstbehinderten Rechtsanwalt, seine selbständig geführte Kanzlei aufrecht zu erhalten. Behinderten Studenten wurde eine Studienbegleitung gestellt, wenn sie Schwierigkeiten mit der Mobilität, den hochschulinternen Treppen oder beim Mitschreiben hatten. Ein lernbehinderter Junge konnte unabhängig von den Eltern mit seinem Assistenten außer Haus gehen, um auf dem Spielplatz zu spielen oder den Zoo zu besuchen.

Die Leitideen des ersten ambulanten Hilfdienstes prägten die spätere Arbeit aller weiteren Dienste der Behindertenhilfe (vgl. BMJFG, 1985)

  1. Hilfen, unabhängig von Ursache, Art und Ausmaß der Behinderung.
  2. Vermeidung von Ausgliederung in stationäre Einrichtungen oder private Abhängigkeitsverhältnisse.
  3. Personelle Hilfen für die individuelle Lebenssituation, je nach Behinderungsausmaß in Familie, Freizeit, Ausbildung und Beruf.
  4. Hilfen zur selbständigen, selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Lebensführung.
  5. Größtmögliche Entscheidungsbeteiligung der Hilfeempfänger in dem ambulanten Hilfsdienst, aber auch in anderen Einrichtungen für Behinderte .
  6. Keine professionell ausgebildeten Fachpflegekräfte in der ambulanten Hilfestellung.
  7. Verbreitung von Erfahrungen im sozialpolitischen Sinne.
  8. Laufende Fortentwicklung der Hilfen, Projekte und Methoden.

Durch die 1980 persönlich eingesetzen Helfer der VIF erhielten ca. 6% der Hilfeempfänger Assistenz in der Ausbildung und ca.12% Assistenz am Arbeitsplatz. Ungefähr 19% aller Hilfeempfänger nutzten Assistenten, um Freizeitaktivitäten entfalten und am kulturellen Leben teilnehmen zu können. Überwiegend wurde die personelle Hilfe aber im familiären und im häuslichen Bereich benötigt (VIF, 1981)

Defizite ambulanter Dienste:

Die in der Folge gegründeten ambulanten Dienste haben sich als "Alternative zum Heim" verstanden, vor allem für jüngere, aktive körperbehinderte Menschen mit einem relativ großen täglichen Hilfebedarf. Diese Dienste wiesen jedoch, wie der stationäre Bereich an und für sich, Grundmuster entmündigender Hilfe auf. (vgl. Der Grüne Klub im Parlament, 1990) Über die Hilfeleistung der ambulanten Dienste wurde ein Abhängigkeitsverhältnis begründet, das alle Macht bei den Leistungsanbietern konzentriert und die "Betreuten" strukturbedingt ohnmächtig und hilflos macht. Schließlich erlebten wir uns in der "Freiheit" abhängig von der "Betreuung" Anderer und der eigenen Verantwortung enthoben. Ein Prozess wachsender Abhängigkeit und Unselbständigkeit wurde in Gang gesetzt und als "Problem der Behinderten" klassifiziert.

Menschen, die auf die Mithilfe Anderer angewiesen sind, werden sehr leicht die elementaren Entscheidungen für die eigene Person verweigert. Indem nichtbehinderte Leistungsanbieter ihre Überlegenheit erkennen, fühlen sie sich dazu berechtigt, auch die Kontrolle über andere Bereiche der "Pflegebedürftigen" zu übernehmen. Das Ergebnis ist Bevormundung in den wichtigsten Bereichen des täglichen Lebens, wie uns die Pflegeversicherung in abschreckender Weise vor Augen führt. In dieser sind wir als pflegebedürftige Objekte der Fürsorge Dritter ausgeliefert. Skrupellos werden uns Vorgaben gemacht, wann wir zu essen haben, wann wir die Toilette benutzen dürfen, wann wir zu Bett gehen müssen und wann wir wieder aufstehen dürfen. Solch eine Bevormundung hat nichts mit einem selbstbestimmten Leben gemeinsam.

Im Alltag konfrontieren uns z.B. die Qualitätssicherungsmaßstäbe des Pflegeversicherungsgesetzes. Demnach hat die medizinisch orientierte Fachpflegedienstleitung die Dienstpläne "nach den Bedürfnissen der Leistungsempfänger" festzulegen, also kann nicht die behinderte Person selbst entscheiden, wann personelle Hilfe erbracht werden muss.

Und weiter ist in den Bundesempfehlungen für die Rahmenverträge über die Leistungen der ambulanten Pflegeeinrichtungen nachzulesen: "Im Rahmen der Planung von Mahlzeiten und der Hilfe bei der Nahrungsaufnahme ist eine ausgewogene Ernährung anzustreben. ... der Pflegebedürftige ist bei der Essens- und Getränkeauswahl ... zu beraten." Wer folglich personelle Hilfe beim Essen und Trinken benötigt, muss sich also grundsätzlich rechtfertigen können, wenn er/sie etwas Bestimmtes essen möchte.

Oder: "... das An- und Auskleiden umfasst auch die Auswahl der Kleidung gemeinsam mit dem Pflegebedürftigen". Auch hier ist eine Alleinentscheidung der behinderten Person nicht vorgesehen. Und weiter: "Beim Aufstehen und Zubettgehen sind Schlafgewohnheiten, Ruhebedürfnisse und evtl. Störungen angemessen zu berücksichtigen". Auch dies bedeutet, dass der Zeitpunkt des Aufstehens und Zubettgehens vom Pflegedienst bestimmt wird, nach den jeweiligen organisatorischen Zwängen zur Einhaltung von Dienstplänen. Die Bedürfnisse der Leistungsempfänger sind nur zu "berücksichtigen". Fast alle ambulanten Dienste haben mit den Prinzipien der persönlichen Assistenz wenig gemeinsam und arbeiten nicht kundenorientiert. Sie gewähren den behinderten Kunden kein Mitspracherecht. Die behinderten Kunden haben die zur Verfügung gestellten "Pflegekräfte" zu akzeptieren und müssen sich den jeweiligen Dienstplänen anpassen. Dies gilt sowohl für ambulante Dienste als auch für traditionelle Anstalten. Kennzeichen für diese Hilfsdienste ist, dass sie eine hierachische Struktur haben, bei welcher die behinderten Kunden an letzter Stelle stehen.

Probleme ambulanter Dienste:

Es zeichneten sich darüber hinaus aber auch organisationsbedingte Grenzen ab, wie das Beispiel der VIF zeigt. Der 1978 gegründete VIF-Hilfsdienst musste aufgrund der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von Helfern innerhalb von zwei Jahren auf 50 ZDL und Helfer des FSJ erweitert werden. Dieser auffällige Bedarf der VIF-Hilfeempfänger ist in einer empirischen Untersuchung nachgewiesen worden. Hiernach stellt sich der Hilfebedarf der VIF-Kunden rund dreimal so hoch dar, wie der der Nutzer der anderen 909 untersuchten Mobilen Sozialen Hilfsdienste (MSHD) in der BRD. Der durchschnittlich ermittelte Hilfebedarf belief sich auf 20 Stunden pro Woche. Mit den 50 "festangestellten Helfern" des freiwilligen sozialen Jahres und den Zivildienstleistenden kam der VIF-Innendienst, bestehend aus im Büro tätigen Sozialarbeitern, sehr schnell an die Grenze des organisatorisch Machbaren. (BMFJG, 1985) 1986 waren es dann 80 ZDL und FSJ?Helfer sowie 9 Hauptamtliche im Innendienst. Der bis 1985 amtierende VIF-Vorstand sah es nicht im Einklang mit den grundsätzlichen Zielsetzungen der VIF, diesen Hilfsdienst "bis ins Unendliche" mit ZDL und FSJ-Helfer auszuweiten.

Assistenzvermittlung als Alternative:

Die VIF organisierte daher im Jahr 1982 einen internationalen Kongress, um sich mit erfahrenen Experten der Rehabilitation von Menschen mit Atembehinderungen austauschen zu können. Zu ihnen gehörten unter anderem Judy Heumann, Gini Laurie, Dr.phil. Adolf Ratzka und Dr. Geoffte Spencer. All diese Experten überzeugten die Mitarbeiter und den Vorstand davon, dass die starken Expansionsprobleme des ambulanten Dienstes, durch eine Vermittlung der Assistenten nach dem Vorbild des "Center for Independent Living" (Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen) in Berkeley, U.S.A., gelöst werden könne. Während der ambulante Hilfsdienst seit 1982 bei 58.000 Einsatzstunden im Jahr stagnierte, konnten ?·zu diesem Zeitpunkt in der Erprobungsphase·? die Assistenzvermittlungen mit etwa 80.000 Einsatzstunden pro Jahr mit nur einer Arbeitskraft im Innendienst abgedeckt werden. (BMFJG, 1985) Das Prinzip der Vermittlung hatte sich somit als effizienter Erfolg bewiesen.

Die Assistenzvermittlung ist ein spezifisches Prinzip der Hilfe zum selbstbestimmten Leben. Der Assistent, in der Regel ein Laienhelfer, hat keine vertragliche Vereinbarung über seine Assistenztätigkeit mit der Organisation, die ihn vermittelt. Die behinderte Person selbst ist Vertragspartner des Assistenten. So wird die Hilfesuchende zur ArbeitgeberIn und der Helfer zum Arbeitnehmer bzw. zum persönlichen Assistenten. Eine Abhängigkeit zwischen HilfeempfängerIn und der Organisation besteht nicht.

Entscheidend ist die faktische Entscheidungsmacht des Assistenznehmers gegenüber dem Assistenzgebenden. Für ein selbstbestimmtes Leben muss die behinderte Person festlegen, wer über Form, Ausmaß und Dauer der Hilfe bestimmen kann. Die behinderten Menschen dürfen nicht gezwungen werden, sich an Angebote von Hilfsdiensten und ihre Dienstpläne anzupassen, sondern haben das Recht ihre Assistenz ortsunabhängig und nach ihren Bedürfnissen auszurichten. Hierfür müssen für die Assistenten eine marktgerechte Entlohnung, Sozialleistungen sowie alle gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen bereitgestellt werden. Die von behinderten Menschen selbst organisierte Assistenz ist sehr kostengünstig, da hier kein ambulanter Hilfsdienst die Regie leistet und somit keine Einsatzleitung, Büromiete, o.ä. zu finanzieren sind.

Dieses Hilfeprinzip ist eine Gewähr für die Hilfe im Sinne der behinderten Person. Da sie selbst die Instrumente der Qualitätssicherung erhalten, handelt es sich um ein außerordentlich leistungsfähiges und wirtschaftliches "Pflegemodell" wie es kein ambulanter Hilfsdienst bieten kann. (vgl. Par. 72 Abs.3 SGB·XI: Zulassung zur Pflege durch Versorgungsvertrag)


LITERATUR

  • BAGH Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe Behinderter; 1991: Zivildienstleistende als ambulante Pflegehelfer. In: Selbsthilfe 6/7, S. 40-44. Düsseldorf
  • BMJFG (Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit) (Hrsg.); 1985: Integration und Autonomie behinderter Menschen. (Band 172 der Schriftenreihe des BMJFG). Stuttgart
  • Der Grüne Klub im Parlament; 1990: Selbstbestimmt Leben durch persönliche Assistenz (Bericht vom Kongreß 6. bis 7. Oktober 1989, Grüne Bücher). Wien
  • ENIL European Network on Independent Living; 1987: Resolution (Stellungnahme vor dem Europäischen Parlament)
  • Interessenvertretung selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) 30.8.-1.9. 1991: Presseerklärung/Resolution der Tagung "Gleichstellungs- und Anti-Diskriminierungs-Gesetzgebung für Behinderte", in Verden / Aller vom 30.8-1.9.1991 mit 60 Teilnehmern aus etwa 25 verschiedenen Behindertengruppen und -organisationen
  • Ratzka, Adolf; 1991: Das STIL-Projekt. In: Faire Face 7,8
  • Rüggeberg, August; 1985: Autonom-Leben - Gemeindenahe Formen von Beratung, Hilfe und Pflege zum selbständigen Leben von und für Menschen mit Behinderungen. (Schriftenreihe des BMJFG Band 173). Stuttgart
  • VIF Vereinigung Integrationsförderung; 1981: Behindert ist, wer Hilfe braucht - 3 Jahre ambulanter VIF-Hilfsdienst. München
  • ZSL Zentrum für Selbstbestimmtes Leben e.V.; 1989: Assistenzgenossenschaft Bremen

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