von Isolde Hauschild
20 Jahre Assistenz in Deutschland bedeutet auch einen Blick über
die Mauer, in die DDR der 80er Jahre zu werfen. Wie lebten behinderte
Menschen dort? Welche Hilfen gab es und wie konnten sie diese nutzen?
Und welche Möglichkeiten gab es überhaupt, ein selbstbestimmtes
Leben zu führen?
Um es gleich vorweg zu nehmen, ich persönlich musste nie die Erfahrung
einer stationären Unterbringung machen.
Familie oder Feierabendheim als einzige Alternative
Den Begriff Assistenz in Verbindung mit Behinderung gab es in der DDR
nicht. Behinderte hatten keinen Assistenzbedarf, sondern waren eben
mehr oder weniger hilfsbedürftig. Eingestuft wurden sie als leichtbeschädigt,
schwerbeschädigt oder schwerstbeschädigt, je nach Schweregrad
der Behinderung. Sie galten als betreuungs- und versorgungsbedürftig,
nicht fähig selbst zu entscheiden, was gut und richtig für
sie ist. Aber das war in der Bundesrepublik nicht viel anders.
Behinderte Menschen mit hohem Assistenzbedarf wurden, sobald sie nicht
mehr innerhalb der Familie versorgt werden konnten oder keine Familie
hatten, in Altenpflegeheimen, den sogenannten Feierabendheimen, untergebracht.
Das Alter war dabei nicht von Bedeutung, es gab keine separaten Wohn-
oder Pflegeheime für jüngere behinderte Menschen.
Ambulante Hilfen, wie Pflegedienste oder Hilfe durch Zivildienstleistende
existierten auch nicht. Einziges Angebot war hauswirtschaftliche Versorgung
und Mittagessen-Lieferung durch das DRK. Eine Versorgung im pflegerischen
Bereich oder gar Hilfe in der Freizeit waren nicht vorgesehen.
Da es keine Alternative zur gefürchteten Unterbringung im Pflegeheim
gab, blieb man, solange es irgend ging, bei den Eltern wohnen. Von den
beiden Möglichkeiten war das natürlich die Beste. Eine andere
Wahl hatte man sowieso nicht. So war es großes Glück für
denjenigen, der beide Elternteile hatte und auch im Erwachsenenalter
zu Hause wohnen bleiben konnte.
Angst vor dem Pflegeheim
Die Unterbringung in einem Pflegeheim galt für mich von je her
als schlimmste Bedrohung. Als Kind war ich einmal in einer großen
Klinikanlage mit Schule und Internat, im Ferienlager. Da erfuhr ich
zum ersten Mal, dass in solchen Einrichtungen auch Menschen für
immer lebten und nicht nur vorübergehend mal zwei Wochen dort waren.
Ich konnte einfach nicht begreifen, dass sie kein eigenes Zuhause hatten
und stellte es mir furchtbar vor, so zu leben. Das war ein prägendes
Erlebnis und ich erinnere mich, dass ich erleichtert war, weil es mich
nicht betraf. Allerdings wusste ich damals noch nicht, dass mich meine
Erkrankung unaufhaltsam in genau diese Richtung bringen würde.
Ich lebe, wie meine Schwester Elke, mit einer fortschreitenden Muskelerkrankung,
die für uns beide einen Hilfebedarf rund um die Uhr zur Folge hat.
Als ich erwachsen wurde, stand nicht zur Debatte, mir eine eigene Wohnung
zu suchen und auszuziehen. Einerseits wusste ich, mein Hilfebedarf war
schon so groß, dass ich allein nicht zurecht kommen würde.
Andererseits konnte ich es nicht darauf ankommen lassen, weil ich auch
keine geeignete Wohnung gefunden hätte. Es war schon ohne Handicap
Glückssache eine Wohnung zu bekommen und wenn das endlich klappte,
musste diese mit viel Kraft, Initiative und, vor allem, Beziehungen
ausgebaut und vorgerichtet werden. Und ich besaß leider keine
dieser Vorzüge.
Behindertengerechter Wohnraum wurde erst ab Ende der 70er Jahre in
den Neubaugebieten meist am Rand der Städte gebaut, war dadurch
rar und begehrenswert und es gab eine Wartezeit von mehreren Jahren.
Somit war klar, mir blieb nur eine Wahl: entweder bei meinen Eltern
wohnen zu bleiben oder ins Pflegeheim zu wechseln. Die Aussicht aufs
Pflegeheim stand mir mit Schrecken vor Augen. Das machte mich richtig
hoffnungslos und würde, so ganz ohne Perspektiven, das Ende meines
Lebens bedeuten. Also blieb ich zu Hause.
Anfangs dachte ich seltener an das "danach". Da waren meine Eltern
noch fit. Ich hoffte, dass sie so lange wie möglich kräftig
und gesund blieben, um meine Schwester und mich versorgen zu können.
Wir machten alle das Beste aus unserer Situation und arrangierten uns,
aber ewig würde das nicht funktionieren und irgendwann das Ende
der Fahnenstange erreicht sein.
"Freiheit" mit engen Grenzen
Wir waren mehr oder weniger unternehmungslustig, fuhren in den Urlaub,
gingen zu Familienfesten und ab und zu auch Freunde besuchen. Wir waren
meistens zusammen. Eigenen Interessen gingen meine Schwester und ich
selten nach. Es gelang uns kaum, ohne die Hilfe von unseren Eltern etwas
zu unternehmen. Ohne sie konnten wir nicht mal die Wohnung verlassen.
Wir wohnten im 1. Obergeschoss, natürlich ohne Aufzug, und unsere
Eltern mussten uns die Treppen hinunter und hinauf tragen.
So war es für mich schon schwierig, meine Freundin zu besuchen.
Obwohl sie eine ebenerdig erreichbare Wohnung hatte, gleich um die Ecke
wohnte und mich abgeholt hätte, besuchte ich sie eigentlich nie.
Spät nachmittags, nach ihrer Arbeitszeit, war es meinem Vater einfach
zu schwer, mich noch einmal die Treppen hinunter und am Abend wieder
hinauf zu schleppen. Es war einfacher, wenn sie mich besuchte.
Mir war neben der möglichen Überforderung meiner Eltern auch
die Abhängigkeit bewusst. Ich konnte nicht einfach weggehen. Dadurch
versuchte ich, oft auch unbewusst, Auseinandersetzungen zu vermeiden.
Ich achtete darauf, meine Wünsche nicht in jedem Fall durchsetzen
zu wollen, sondern wog ab, ob es vielleicht zu schwer oder zu schwierig
für meine Eltern sein könnte. Denn von ihrem Wohl hing direkt
auch meines ab.
Die Zeit verging und je mehr Hilfe wir brauchten, desto weniger belastbar
wurden unsere Eltern. Sie wurden natürlich älter, bekamen
gesundheitliche Probleme und es fiel beiden immer schwerer, uns zu versorgen.
Keiner von uns hatte eine Vorstellung davon, wie es weitergehen sollte,
wenn sie selbst nicht mehr in der Lage sein würden. Darüber
redeten wir nicht und anscheinend machte sich auch keiner darüber
Gedanken. Sie versicherten uns zwar, dass sie uns auf keinen Fall in
ein Pflegeheim geben würden. Aber es gab doch keine Alternative
und das beunruhigte mich!
Die Maueröffnung
Im November ´89 war ich auch aufgeregt, als die Grenze geöffnet
wurde, aber euphorisch war ich nicht. Ich dachte, sie machen ihr "Versehen"
nach kurzer Zeit wieder rückgängig und alles geht weiter,
wie bisher. Als sicher war, dass es ein wiedervereinigtes Deutschlang
geben würde, dachte ich nicht zuerst an die neuen Möglichkeiten
von Hilfe und Assistenz, die mir nun auch offen stehen könnten,
sondern ... an Westgeld. Jahrelang wurde uns vorgeschwärmt, dass
alles besser ist, was von drüben kommt. Sieht besser aus, schmeckt
besser, riecht besser und diese Auswahl!!!
Ich bemerkte, dass plötzlich ambulante Dienste wie Pilze aus dem
Boden schossen. Es gab eine Unmenge Angebote, aber auch einen sehr großen
Nachholbedarf. Wir mussten uns zuerst informieren, was jetzt alles möglich
ist und für uns in Frage kommen würde. Aber ich dachte immer
noch nicht daran, von zu Hause weg zu ziehen, so war ich an mein Leben
gewöhnt. Trotz der Einschränkungen und Abhängigkeit,
glaubte ich, dass es anders auch nicht besser sein würde.
Einschneidende Änderungen
Als es Ende 1993 meinem Vater zusehends schlechter ging, fiel ihm unsere
Versorgung immer schwerer. Bald stand fest, dass er operiert werden
muss, die ersten Monate nach seiner Entlassung nicht belastbar sein
würde und nicht heben dürfte. Uns wurde bewusst, dass nun
die Situation bevorstand, vor der wir so große Angst hatten.
Unsere Hausärztin schickte uns die Leiterin eines ambulanten Dienstes,
um zu klären, wie Hilfe organisiert werden könnte. Eine teilweise
Hilfe zur Entlastung war damit zwar möglich, aber zu dieser Zeit
nicht durchsetzbar, weil mein Vater keine Hilfe von außen wollte.
Das sich fremde Menschen zeitweise in unserer Wohnung aufhalten sollten,
war unvorstellbar. Dazu kam noch, dass diese Leiterin eine ziemlich
herrschsüchtige Person war, die sofort sagte, dass es nicht nach
eigenen Wünschen, sondern nach den Plänen des Dienstes zu
gehen hätte. Das war Abschreckung genug!
Wir versuchten einen Plan zu machen, wie wir die Dauer des Krankenhausaufenthaltes
und die Zeit danach überstehen könnten, bis es meinem Vater
wieder besser ging. Wenn unsere Mutter unsere Versorgung allein übernehmen
müsste, hieß das Einschränken auf das absolute Minimum.
Sie konnte uns allein nicht mal die Treppe hinunter schaffen.
Die Notsituation ist da!
Mein Vater verstarb kurz nach der Operation und zu dem Schmerz kam
die Erkenntnis, dass nun die Katastrophe da war, vor der wir solche
Angst hatten. Auch für meine Mutter kam der Einsatz eines Pflegedienstes
nicht in Betracht, sie hatte noch genug von der damaligen Vorstellung.
Obwohl ich ihr sagte, dass sie es doch auf Dauer nicht allein schaffen
kann, wollte sie es versuchen.
Die Ãœberlastung war vorprogrammiert und nach einigen Monaten ging
sie zu einer Selbsthilfegruppe. Sie wollte einfach ihre Sorgen loswerden.
Nach zwei Tagen meldete sich eine Sozialstation an und wir besprachen
den Einsatz des Pflegedienstes zur Entlastung unserer Mutter. Inzwischen
wurde eine Wohnung umgebaut, die wir dann ohne größere Schwierigkeiten
verlassen konnten. Soweit war es aber noch lange nicht. Der gesamte
Umbau, von der Beantragung der Finanzierung bis zum Einzug dauerte ein
ganzes Jahr. In dieser Zeit verließen meine Schwester und ich
nur einmal wöchentlich mit Hilfe von Zivis für ca. eine Stunde
die Wohnung.
Im Laufe der Zeit brauchten wir immer mehr Einsätze des Pflegedienstes.
Trotzdem trug unsere Mutter die Hauptlast unserer Versorgung. Weiterhin
schränkten wir uns sehr ein, um unsere Mutter nicht vollends zu
überlasten. Ich ging nie abends aus. Alle Unternehmungen wurden
sorgfältig geplant oder einfach nicht gemacht. Wir waren froh,
wenn wir gut über den Tag kamen. Ich verbrachte die meiste Zeit
mit Lesen oder Fernsehen.
Den Einsatz des Pflegedienstes empfand ich nicht als Ideallösung,
weil die Hilfe nicht ausreichend war und wir an ausgemachte Zeiten gebunden
waren. Ich bemerkte bald, dass es auch mit einem ambulanten Dienst keine
Rund-um-die-Uhr-Versorgung geben würde.
Ausweg in Sicht
Trotz aller Einschränkungen war das Leben so aber immer noch besser
als eine Unterbringung im Pflegeheim. Inzwischen machte ich mir ernsthaft
Gedanken über meine Zukunft. Ich hatte im Fernsehen eine Reportage
über einen behinderten Mann aus Berlin gesehen, der seinen 24-Stunden-Hilfebedarf
mit eigenen Assistenten organisiert. Dieses System heißt Arbeitgebermodell.
Der behinderte Mann ist der Arbeitgeber. Er sucht sich seine Assistenten
auf dem freien Arbeitsmarkt und stellt sie ein. Je länger ich darüber
nachdachte, desto sicherer wurde ich, dass es genau das war, was ich
suchte. Dieses Modell bot die Möglichkeit auch mit Rund-um-die-Uhr-Hilfebedarf
in einer eigenen Wohnung zu leben und meinen Alltag selbstbestimmt zu
organisieren. Es verging noch einige Zeit, bis ich, ausgerüstet
mit Computer und Internetanschluss, nähere Informationen zum Arbeitgebermodell
erhielt.
Es war nicht einfach, meine Mutter und Schwester davon zu überzeugen,
dass es unsere einzige Chance ist. Unsere Mutter wäre endgültig
aus der Belastung heraus und meine Schwester und ich könnten in
unserer behindertengerecht umgebauten, großen Wohnung zusammen
wohnen bleiben. Aber sie waren sehr skeptisch, ob das überhaupt
funktionieren würde.
Die ersten Schritte zum selbstbestimmten Leben
Von den ersten Ãœberlegungen bis zur Beantragung vergingen nur
wenige Monate. Ich hatte in den alten Bundesländern eine Beraterin
gefunden, die mir auf alle meine Fragen genaue Antworten geben konnte.
Und ich hatte viele Fragen. Ich wusste weder, wie ich die Kostenübernahme
beantragen musste, noch wie ein "Betrieb im Privathaushalt" zu führen
ist, oder was eine Arbeitgeberin grundsätzlich beachten muss. Ich
traute mir zu, die damit verbundenen Verwaltungsaufgaben zu bewältigen
und sah auch kein großes Problem darin, die Lohnabrechnungen selbst
zu machen. Immerhin gab es ein darauf abgestimmtes Lohnprogramm!
Hier, im Ostteil Deutschlands, ist das Arbeitgebermodell noch nicht
sehr bekannt und deshalb bereitete mich meine Beraterin auch darauf
vor, dass die Durchsetzung des Arbeitgebermodells dadurch schwieriger
sein würde. Ich hatte keine Angst vor den behördlichen und
gerichtlichen Auseinandersetzungen, denn ich wusste, dass das Arbeitgebermodell
meine letzte Chance ist, dem Pflegeheim zu entgehen. Der Gesundheitszustand
meiner Mutter verschlechterte sich fast täglich und es war nur
noch eine Frage der Zeit, wann sie zusammenbrechen würde.
Endlich Assistenz!
Seit Dezember 1999 organisieren meine Schwester und ich unseren Hilfebedarf
mit eigenen Assistentinnen. Zu diesem Zeitpunkt war sie 39 Jahre alt
und ich 35. Unsere Mutter hat seit dieser Zeit wieder ihr eigenes Leben
und wir auch. Das heißt genau genommen, endlich können wir
alle unser eigenes Leben führen, denn vorher waren wir ja regelrecht
aneinandergeschweißt und mussten ununterbrochen aufeinander Rücksicht
nehmen.
Problematisch war nur die Finanzierung. Um unsere Rechtsansprüche
auf Assistenz umzusetzen, waren wir gezwungen, bis vor das Verwaltungsgericht
zu ziehen. Fast zwei Jahre lang haben wir uns mit einstweiligen Anordnungen
über Wasser gehalten. Wir hatten immer wieder sehr schwierige Phasen,
in denen wir nicht wussten, wie wir die Löhne für den nächsten
Monat auftreiben sollten.
Obwohl wir uns im Oktober 2001 mit dem Sozialhilfeträger unserer
Stadt geeinigt haben und somit dieses Verfahren beendet ist, haben wir
immer noch nicht alles unter Dach und Fach. Ein weiteres Verfahren,
das meine Schwester mit der Krankenkasse führt, ist noch nicht
abgeschlossen. Einen Teil ihrer Kosten für die Assistenz fällt
als Behandlungspflege der AOK zu und diese weigert sich, die volle Höhe
zu erstatten.
Fazit: Lebensqualität
Seit fast zwei Jahren führe ich ein Leben wie nie zuvor. Alles
ist anders geworden. Ich fühle mich unabhängig, entscheide
selbst, was ich wann unternehmen will. Ich gehe ins Konzert oder in
eine Ausstellung. Ein Kinobesuch ist genauso spontan möglich, wie
Essen oder Spazieren Gehen, weil es gerade noch regnete, aber plötzlich
die Sonne scheint. Ich bleibe länger, wenn es mir gefällt
und besuche Freunde, wann ich will (Wenn nur mehr von ihnen barrierefrei
erreichbar wären!). Der Höhepunkt war dieses Jahr ein Urlaub
in Trebel, ganz allein (natürlich mit Assistentin). Viele Jahre
habe ich Leipzig überhaupt nicht verlassen können und ich
hätte nie gedacht, dass es noch einmal möglich sein würde!
Ich habe mich daran gewöhnt, ein "normales" Leben zu führen
und eigentlich ist es nichts Besonderes, aber ich musste härter
dafür kämpfen und ich werde alles tun, damit es so bleibt!
Anmerkung ForseA: Die
ausführliche Fassung dieser Geschichte befindet sich ebenfalls
auf unserer Homepage.
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