von Dr. rer. nat. Corina Zolle
Bereits als Kind wollte ich Medizin - oder so etwas ähnliches
- lernen. Sobald ich einigermaßen vernünftig lesen konnte,
verschlang ich medizinische Beiträge in sämtlichen erreichbaren
Zeitungen. In der Schule war ich, ohne große Mühe, eine der
Klassenbesten in Biologie und Chemie. Offenbar hatte ich in diesem Bereich
ein wirkliches Talent, und das wollte ich weiter ausbauen. Meinen Wunsch,
Medizin zu studieren, hatte ich jedoch bald abgehakt. Eine Ärztin
im Rollstuhl, die zudem noch kaum ihre Arme bewegen konnte, erschien
mir reichlich illusorisch. Heute würde ich das vielleicht anders
sehen. So blieb mir also die Biologie.
Eine Beratung beim Arbeitsamt kurz vor dem Abitur wollte mir auch diesen
Traum nehmen. Behinderte in meiner Situation sollten Betriebswirtschaft
oder Jura studieren (oh Hilfe, nur das nicht) oder, wenn es denn etwas
Naturwissenschaftliches sein sollte, dann Informatik. Ein Computer war
mir zum damaligen Zeitpunkt ein Buch mit sieben Siegeln und Mathe war
in der Schule auch nicht gerade mein Glanzfach. Nein, diese Beratung
war überhaupt nicht nach meinem Geschmack. Selbst die Drohung,
dass ich niemals eine Förderung durch das Arbeitsamt erhalten würde,
wenn ich Biologie studieren würde, konnte mich nicht von meinem
Entschluss abhalten. Ich ging damals davon aus, dass ich ohnehin keinen
Arbeitsplatz bekommen würde, warum also nicht etwas studieren,
das mich wirklich interessierte.
Bei einem ersten Gespräch mit dem Fachbereichsleiter der Biologie
in Mainz stieß ich zwar auf großes Erstaunen, aber doch
zumindest nicht auf Ablehnung. Es konnte sich zwar keiner vorstellen,
wie ich das Studium bewerkstelligen wollte, aber ich sollte ruhig mal
anfangen, ich würde dann ja schon sehen, dass es nicht geht. Nun
gut, die Uni hatte ich weich geklopft, jetzt konnte ich meinen nächsten
Kampfplatz eröffnen.
Während meiner Schulzeit hatte ich vom "Heidelberger Modell" der
persönlichen Assistenz gehört. Als ich 1986 in Mainz mit meinem
Studium beginnen wollte, war ich wahrscheinlich die erste, die einen
Antrag auf persönliche Assistenz stellte. Doch zunächst einmal
musste ich eine Stelle finden, die bereit war, mir Zivildienstleistende
als persönliche Assistenten zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich
gab es zu diesem Zeitpunkt in Mainz nur eine einzige Dienststelle, die
Zivildienstleistende für die "Individuelle Schwerstbehinderten-Betreuung"
zur Verfügung stellte. Der Club, der CeBeeF in Mainz, bot mir darüber
hinaus auch an, mich bei der Durchsetzung der Finanzierung zu unterstützen.
Dass ich den Antrag trotzdem bei der falschen Behörde stellte und
meine Eltern über eine lange Zeit meinen Zivi für mich bezahlen
mussten, ist eine andere Geschichte und soll hier nicht weiter ausgeführt
werden.
Ich hatte es geschafft, ich hatte einen Zivi und einen Studienplatz
und war voller Tatendrang. Dass die Räumlichkeiten für die
meisten Veranstaltungen nicht mit dem Rollstuhl zugänglich waren,
wollte ich zunächst mal nicht anmeckern. Schließlich musste
ich ja erst mal unter Beweis stellen, dass ich studieren konnte. Also
musste mich ein Zivi mit dem Rollstuhl immer die Treppen hoch und runter
tragen.
Biologie ist ein sehr praxisbezogenes Studium, eigentlich hatte ich
gedacht, dass die praktischen Arbeiten auch vom Zivi übernommen
werden könnten. Allerdings musste ich feststellen, dass es ihm
weitaus mehr Spaß machte, in einem toten Fisch herum zu matschen,
als ihn vernünftig - nach meinen Anweisungen - zu präparieren.
Ich verlegte mich also schnell darauf, im Praktikum eine Arbeitsgruppe
mit anderen Kommilitonen zu bilden. Ich war dann diejenige, die mit
Buch oder Skript in der Hand den Versuchsablauf plante und protokollierte.
Meine Professoren waren zum Glück auch mit meinem System einverstanden,
und so lange meine Abschlussklausuren in Ordnung waren, bekam ich auch
alle meine Scheine.
Ein geplantes Auslandssemester musste allerdings leider ausfallen.
Zivildienstleistende dürfen Deutschland nicht für längere
Zeit verlassen, und eine Alternative zum Zivildienstleistenden konnte
mir nicht angeboten werden. Ich hatte mir dieses Auslandsstudium in
den Kopf gesetzt und mich schließlich bis zum Bundesministerium
durchtelefoniert. Ich hatte sogar das Fernsehen eingeschaltet, um meine
Pläne durchzusetzen. Trotzdem wurden mir alle Türen vor der
Nase zugeschlagen. Studieren im Ausland mit Assistenz war nicht möglich.
Schade!
Kurz nach dem Vordiplom bekam ich eine Anfrage der Uni Bonn, ob ich
daran interessiert sei, eine Diplomarbeit zum Thema meiner eigenen Behinderung,
der spinalen Muskelatrophie, zu schreiben. Natürlich war ich begeistert,
darüber eine Arbeit angeboten zu bekommen. Aber andererseits würde
diese Stelle für mich auch mit vielen Schwierigkeiten verbunden
sein. Bislang war meine Pflege und Begleitung außerhalb der Uni
von Angehörigen oder Freunden übernommen worden. Beim Umzug
in eine andere Stadt würde diese Unterstützung wegfallen und
ich wäre rund um die Uhr auf die Hilfe eines Zivildienstleistenden
angewiesen. Obwohl mir diese Vorstellung nicht besonders gut gefiel,
zog ich nach meinen Diplomprüfungen ins Studentenwohnheim in Bonn.
Es fiel mir immer schwer, pflegerische Aufgaben von jungen Männern
ausführen zu lassen, aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine andere
Wahl. Meine Zivis begleiteten mich nun eben auch an der Uni in Bonn
und kopierten für mich wissenschaftliche Zeitschriften, schleppten
Bücher durch die Bibliothek oder bedienten auch mal den Computer.
Sie erledigten für mich all die Dinge, die ich aufgrund meiner
Behinderung nicht selbst erledigen konnte. Das Denken und Organisieren
war meine Sache. Und organisieren musste ich eine ganze Menge.
Während ich also in Bonn an meiner Diplomarbeit schrieb, machte
ich mich auf die Suche nach einer Beschäftigung danach. Fast alle
meine Kommilitonen aus Mainz wollten im Anschluss an ihr Studium eine
Doktorarbeit schreiben. In diesem Studiengang ist dies durchaus üblich,
ohne Doktorarbeit sind die Chancen auf eine Arbeitsstelle annähernd
gleich Null. Jetzt war ich doch schon soweit gekommen, warum also sollte
ich es nicht auch probieren?
Ich bewarb mich beim Max-Planck-Institut in Frankfurt, wurde allerdings
mit dem Argument abgewiesen, der Aufzug sei so oft kaputt. Besser verlief
ein Bewerbungsgespräch bei Boehringer Ingelheim. Ich schilderte
klar und deutlich meine Vorstellungen wie ich meine Arbeit mit Unterstützung
von Assistenz durchführen würde. Anscheinend hatte ich durch
meine Offenheit den richtigen Nerv getroffen. Eine behinderte Frau,
die Studium und Diplomarbeit mit Assistenz meistert, hat offenbar viel
Durchsetzungsvermögen, und genau das wird in der Wirtschaft gesucht.
Ich bekam die Stelle und musste mich beeilen, meine Diplomarbeit zu
Ende zu bringen.
Meine Hoffnung eine theoretische Arbeit schreiben zu können wurde
von der Studienordnung für Biologie zerstört. Eine biologische
Doktorarbeit erfordert Laborpraxis und die muss dann in einer schriftlichen
Arbeit dokumentiert werden. Nun erfuhr ich aber erfreulicherweise große
Unterstützung durch meinen Arbeitgeber. Speziell für mich
wurde eine Laborassistenz angestellt, die die praktischen Arbeiten auf
meine Anweisung hin durchführte. Zusätzlich hatte ich aber
auch meine persönliche Assistenz, die ich mittlerweile im Rahmen
des Arbeitgebermodells selbst organisierte. Beide Assistenzen wurden
von der Hauptfürsorgestelle mitfinanziert. Meine persönlichen
Assistentinnen unterstützten mich durch die täglichen Handreichungen
bei der Arbeit, auf Dienstreisen und auch zu Hause, meine Laborassistentin,
eine ausgebildete medizinisch-technische Assistentin, erledigte die
praktischen Aufgaben im Labor, die für meine Arbeit erforderlich
waren und die wir jeweils absprachen. Für meinen Arbeitgeber war
diese Lösung fast nichts ungewöhnliches, da viele Wissenschaftler
nach Abschluss der Promotion Laborarbeit ohnehin durch Assistenten durchführen
lassen. Ich fing damit eben nur ein bisschen früher an und lernte
das Delegieren einfach schon vor dem Abschluss.
Nach dem Ende meiner Doktorarbeit nahm ich eine Stelle beim Zentrum
für selbstbestimmtes Leben - ZsL - in Mainz an und berate nun behinderte
Menschen in allen Fragen, die mit Assistenz zu tun haben. Natürlich
habe ich auch weiterhin Assistentinnen, zu Hause und bei der Arbeit.
Ich bin mittlerweile annähernd zehn Jahre berufstätig und
dadurch - abgesehen von meiner Assistenz - finanziell unabhängig.
Wenn ich zurück denke an dieses unerfreuliche Gespräch mit
dem Arbeitsamt finde ich, dass ich es entgegen aller Prognosen in meinem
erlernten Beruf recht weit gebracht habe, und das war eben nur dadurch
möglich, dass mir die Möglichkeit gegeben wurde, meine Fähigkeiten
mit Hilfe von Assistenz zu nutzen und auszubauen.
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