von Regina Spangle & Dinah Radtke
vom Zentrum für Selbstbestimmtes Leben - ZSL Erlangen
Vielen schwerbehinderten Menschen ist es heute möglich, in ihren
eigenen Wohnungen zu leben und mit persönlicher Assistenz ihren
Alltag weitgehend selbstbestimmt zu gestalten. Eine Gruppe schwerbehinderter
Menschen ist aber nach wie vor teilweise davon ausgeschlossen: schwerbehinderte
Menschen mit Beatmung.
Behinderungen, wie z.B. Muskeldystrophie oder Poliomyelitis, können
zur Beeinträchtigung der Eigenatmung führen. Durch Schwächung
der Muskulatur oder eine generelle körperliche Schwächung
kann es passieren, dass die Kraft, mit dem selbständigen Atmen
einen guten Blutgaswert zu halten, nicht mehr reicht. Diese Menschen
sind auf Unterstützung beim Atmen angewiesen, entweder durch nichtinvasive
(Masken-) oder invasive (Tracheostoma-) Beatmung, entweder nur stundenweise,
nur nachts oder auch vierundzwanzig Stunden lang.
Die technische und medizinische Entwicklung ist in der Beatmung soweit
fortgeschritten, dass häusliche Beatmung möglich ist. Und
wünschenswert: Bei neuromuskulären Erkrankungen erhöht
künstliche Beatmung die Lebensqualität und steigert die Lebenserwartung.
Häusliche Beatmung macht zudem dringend benötigte Betten auf
Intensivstationen frei, die von beatmeten Menschen nur belegt sind,
weil die Geräteausstattung auf Intensivstationen besser ist. Medizinisch
gesehen hätten diese Menschen auf der Intensivstation eigentlich
nichts verloren. Häusliche Beatmung ist machbar - aus technischer
und medizinischer Sicht.
Eine große Zahl beatmeter Menschen muss in Altenheimen leben,
weil es angeblich kaum andere Möglichkeiten gibt. Dort sind sie
meistens unterversorgt, der Pflegeschlüssel ist zu gering. Oder
aber sie leben unter immenser Belastung der pflegenden Familienangehörigen
zu Hause, mit schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen behaftet und
nehmen sich total in ihren Bedürfnissen zurück.
Persönliche Assistenz bei beatmeten Menschen mit starker Mobilitätseinschränkung
muss nicht teurer sein als die übliche persönliche Assistenz.
Diese wird über die Pflegekasse als normale Grundpflege abgerechnet.
Meistens kann hier Pflegestufe III plus Härtefall abgerechnet werden.
Falls dies nicht ausreicht und die rechtlichen Voraussetzungen gegeben
sind, kann zusätzlich Hilfe zur Pflege beim zuständigen örtlichen
Sozialhilfeträger beantragt werden. Beatmete Menschen haben das
Recht, ihre persönliche Assistenz über Behandlungspflege abzurechnen.
Dazu ist es notwendig, dass der behandelnde Facharzt die zeitliche Dauer
der Behandlungspflege verordnet. Diese Verordnung kann von 1 Std. bis
zu max. 16 -17 Std. pro Tag reichen. 16 - 17 Std. Behandlungspflege
pro Tag bedeuten eine rund-um-die-Uhr-Assistenz. Es ist wichtig zu wissen,
dass die Kasse zahlen muss. In den letzten Jahren sind einige positive
Urteile für die Behandlungspflege gefällt worden. Doch keine
Krankenkasse wird 24 Std. Behandlungspflege zahlen, sondern bei Beatmung
für einen gewissen Prozentsatz der Stunden auf Grundpflege bestehen,
die von anderen Kostenträgern gezahlt wird. Neben der Grund- und
Behandlungspflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung ist eine konstante
Bereitschaft des angestellten Personals nötig. Es muss ständig
jemand in Hör- und/oder Sichtweite sein, um schnell reagieren zu
können, etwa zum Absaugen oder bei Gerätealarm. Ein wichtiges
Argument gegenüber dem Kostenträger ist hier auch, dass ständig
Lebensgefahr besteht.
Den sicheren und kompetenten Umgang mit Geräten und Kanülen
kann im Prinzip fast jeder lernen. Die als Altenpflegekräfte eingesetzten
Familienangehörigen beweisen das.
Die Arbeitsgemeinschaft Heimbeatmung und Respiratorentwöhnung
und die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke haben z.B. Richtlinien
und Qualitätsmerkmale entwickelt, die einer Qualitätssicherung
dienen. Auch Fachärzte sind der Meinung, dass das Personal in der
Beatmung qualifiziert sein muss. Qualifiziert heißt hier aber
nicht unbedingt eine abgeschlossene Ausbildung als Krankenschwester,
sondern die gründliche Einweisung ausgerichtet auf die Bedürfnisse
jedweder Art des/der Betroffenen, eine umfassende Beatmungsschulung,
aber auch Punkte wie Zuverlässigkeit, Einfühlungsvermögen
oder Verhaltenssicherheit in Krisensituationen.
Die Kostenträger, z.B. die Sozialämter, begrüßen
es natürlich, wenn durch zusätzliche Stunden der Behandlungspflege
die Anzahl der Grundpflegestunden gesenkt werden und damit die Kosten
für sie geringer werden.
Manche Dinge, die bei Menschen mit Beatmung abgerechnet werden müssen,
lassen sich nicht eindeutig zuordnen, z.B. bei Kindern, die während
der Schulzeit Behandlungspflege brauchen, oder bei Erwachsenen während
der Arbeitszeit. So kann es vorkommen, dass die Pflegekasse auf die
Krankenkasse und die auf das Sozialamt und das wieder an die Pflegekasse
verweist. Aufgrund der rechtlichen Lage ist eine Finanzierung der Behandlungspflege
bzw. der persönlichen Assistenz nur über Einzelfallregelungen
möglich. Und das meist erst nach langwierigen und für die
Betroffenen kräftezehrenden Kämpfen. Ratsam ist es in solchen
Fällen entweder eine Beratungsstelle von selbst Betroffenen wie
z.B. ein Zentrum für selbstbestimmtes Leben (ZSL) einzubeziehen,
welches bei Verhandlungen mit den Kostenträgern Unterstützungs-
und Koordinationsarbeit leistet oder einen Anwalt einzuschalten. Manchmal
ist es auch nützlich und notwendig, beide hinzuzuziehen. Das spart
Kräfte und macht den Betroffenen Mut, ihre eigenen Vorstellungen
von einem Leben mit Beatmung durchzusetzen.
Atmung ist lebensnotwendig. Und Atmen ist bei vielen Behinderungen
oder Krankheiten doch etwas, was der/die Betroffene noch selbst ohne
Hilfe kann. So ist das Angewiesensein auf künstliche Beatmung für
viele Betroffene eine weitere Einschränkung ihrer Fähigkeiten.
Sie werden noch abhängiger von Technik und persönlicher Assistenz.
Selbst das Wissen darum, dass künstliche Beatmung das Leben verlängern
kann, die Lebensqualität steigert, verhindert die Angst davor nicht.
Betroffene, die für sich zugeben, dass sie früher oder später
auf Beatmung angewiesen sein werden, sagen, dass sie sich erst dann
mit dem Thema beschäftigen werden, wenn es soweit ist. Wir müssen
versuchen, uns gegenseitig die Angst vor der Beatmung, vor dem Atemgerät
zu nehmen. Der Entschluss, ein Atemgerät zu benutzen, ist sehr
schwer, aber wenn die Entscheidung gefallen ist, so ist die Erleichterung
doch groß. Die körperliche Verfassung verbessert und stabilisiert
sich schnell. Neue Möglichkeiten für das eigene Leben, die
verloren geglaubt waren, wie z.B. Schulbesuch, Berufstätigkeit,
eine erhöhte Mobilität oder Reisen auch in andere Länder,
sind wieder möglich. Das heißt auch, dass ein Atemgerät
die Mobilität nicht einschränken muss, sondern im Gegenteil
wieder vergrößern kann. Wir sind nicht nur auf die eigene
Wohnung beschränkt. Das Atemgerät kann auf dem Rollstuhl oder
einem Schiebewagen befestigt werden, es kann getragen werden. Restaurant-,
Kino- oder Theaterbesuche oder andere Veranstaltungen sind möglich.
Am Leben in der Gemeinschaft mit Atemgerät teilzunehmen ist wichtig,
und je mehr wir das tun, desto selbstverständlicher wird es für
uns und für die nichtbehinderte Öffentlichkeit.
Betroffene brauchen viel Unterstützung und Begleitung. Der Verlust
von Fähigkeiten muss verarbeitet werden, neue Lebensperspektiven
können aufgebaut werden. Wir brauchen Beratungsangebote von Betroffenen
für Betroffene im Sinne des Peer Counseling. Wir brauchen Gruppen
von beatmeten Männern und Frauen, die sich untereinander austauschen
und sich gegenseitig unterstützen können. Wir brauchen Assistenzdienste,
die flexibel auf die Bedürfnisse ihrer beatmeten KundInnen eingehen
können. Wir müssen Gesetzgeber und Behörden mit unseren
speziellen Bedürfnissen und Forderungen konfrontieren und diese
durchsetzen.
Ende der 80er Jahre fand der erste große Kongress für beatmete
Menschen in München statt. In der Zwischenzeit ist zumindest in
Fachkreisen das Wissen um die speziellen Bedürfnisse beatmeter
chronisch kranker und/oder behinderter Menschen etwas größer
geworden. Doch leider wird Beatmung von Krankenkassen und vielen Ärzten
immer noch als intensivmedizinisches Problem angesehen. Es gibt aber
immer mehr EinzelkämpferInnen , die genügend Kraft und Unterstützung
finden, für sich eine persönliche Assistenz über Behandlungspflege
und Grundpflege durchzusetzen. Auch die Pflegekräfte der Behandlungspflege
können wie persönliche AssistentInnen eingesetzt werden. Wir
müssen uns, um dies zu erreichen, mit den traditionellen Pflegediensten
auseinander setzen und ihnen unsere Vorstellungen schildern. Wir haben
festgestellt, dass es möglich ist, traditionelle Dienste zu finden,
die bereit sind, auf unsere Vorstellungen einzugehen. Es ist möglich,
mit Atemgerät und persönlicher Assistenz in der eigenen Wohnung
zu leben. Wir wollen nicht nur auf die Bereitschaft unserer Angehörigen
angewiesen sein oder den Rest unseres Lebens in einem Altenheim oder
auf einer Intensivstation verbringen. Lasst uns alle Möglichkeiten
ausschöpfen, um ein erfülltes Leben führen zu können.
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