von Bianka Becker, November 2001
... ein Begriff, der zur Zeit. und in der sozialen Entwicklung immer
stärker an Bedeutung gewinnt, insbesondere wenn wir über Strukturen
in den bestehenden ambulanten, teilstationären und stationären
Einrichtungen reden, reflektieren und über neue Perspektiven für
betroffene Menschen nachdenken.
Komplementäre Hilfen, Familienunterstützende Dienste, Netzwerke
verschiedener Unterstützungsdienste... etc. Begriffe, mit denen
Menschen mit Behinderung, Pflegebedürftige und deren Angehörige
in Beratungsstellen in Entscheidungsmomenten konfrontiert werden.
Die bestehenden Qualitätsstandards, die Träger von Einrichtungen
laut Gesetz erfüllen müssen, gehen häufig an den ganzheitlichen
Bedürfnissen von Menschen, die auf Unterstützungsdienste und
andere Hilfestellungen angewiesen sind, vorbei.
Menschen mit Behinderung - dazu zähle ich auch die Pflegebedürftigen
mit ihren eigenen speziellen und sehr unterschiedlichen Hilfebedarfen
- sind in Ihrem Alltag in hohem Maße damit konfrontiert, ihre
umfassenden Beeinträchtigungen zu bewältigen. Unterstützungsangebote
bzw. Dienstleistungsangebote in unserer Gesellschaft sind jedoch nicht
ganzheitlich bedarfsorientiert. Das heißt, sie sind nicht an den
individuellen Bedürfnissen, Wünschen, Zielen und Fähigkeiten
orientiert, sondern werden häufig in unterschiedliche Teilbereiche
gesplittet, für die unterschiedliches Personal mit unterschiedlichen
Qualifikationen eingesetzt wird. Hierbei kommen die sozialen Bedürfnisse
und Bezüge der betroffenen Menschen jedoch häufig viel zu
kurz.
Prof. Dr. Iris Beck hat in einer Veröffentlichung (Tagungsbericht:
Von der Betreuung zur Assistenz) ausgedrückt: "Aufgabe der Sozialpolitik
ist es, auf besondere benachteiligte Lebenslagen mit Hilfen zu reagieren,
die dem individuellen Bedarf entsprechen und an den Folgen der Behinderung
für die Lebensführung orientiert sind. Über die Rahmenbedingungen
muss entsprechend mehr als eine reine Existenzsicherung erfolgen, nämlich
Interessensberücksichtigung, die Chance der gleichberechtigten
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Eröffnung von Bewältigungs-
und Gestaltungsmöglichkeiten, Selbsthilfeförderung."
Im Grunde ist dies in unserem Grundgesetz und anderen Sozialgesetzen
durchaus erkennbar, jedoch scheitert es an der Umsetzung, da sich die
Strukturen z.B. von Einrichtungen und ambulanten Diensten meist an einer
Bestimmung von Qualität der Angebote und Leistungen orientieren.
Dies kann aber nur dann sinnvoll und effektiv sein, wenn es im Sinne
des betroffenen behinderten oder pflegebedürftigen Menschen geschieht.
Angebote und Leistungen müssen daher ganzheitlich bedarfsorientiert
sein und zur Konsequenz haben, dass sich der betroffene Mensch in seinem
Leben wohl fühlt und in seiner Selbstbestimmung nicht strukturell
und systematisch eingeengt wird.
Seit Einführung der Pflegeversicherung sind die Pflegekonferenzen
als Mittler beauftragt, die Interessenvertretung im Sinne der Betroffenen
zu erzielen bzw. anzustreben. Dies scheint auf Bundesebene nur selten
zu gelingen, da in diesem Gremium verschiedene Interessenvertreter an
einem Tisch sitzen und der Kostenaspekt der Leistungen immer noch im
Vordergrund der Diskussionsorientierung zu stehen scheint.
In § 2 Absatz 2 des Landespflegegesetzes NRW heißt es zum
Beispiel: Aufgabe der Pflegekonferenzen ist die Mitwirkung bei der Sicherung
der qualitativen Weiterentwicklung der pflegerischen Angebotsstruktur
einschließlich der komplementären Hilfen. Dies setzt die
frühzeitige Information über Förderabsichten des örtlichen
oder überörtlichen Trägers der Sozialhilfe voraus. Allgemeine
Erfahrungsberichte der Heimaufsicht sind regelmäßig in die
Beratungen einzubeziehen.
Dies scheint zu bedeuten, dass die Sozialhilfeträger mit ihren
Interessen im Vordergrund der Entwicklung stehen und nicht die Betroffenen!
Stellt man das Bundessozialhilferecht gegenüber, welches die Einzelfallentscheidung
und die Bedarfsdeckung vorschreibt, bleibt am Ende: Jeder Betroffene,
ob behinderter oder pflegebedürftiger Mensch muss seinen individuellen
Anspruch auf Lebensqualität bei unterschiedlichen Kostenträgern
beantragen, notfalls durch eine gerichtliche Entscheidung erzwingen!
Die Paragrafen § 3 und § 3 a BSHG sind hier die ausschlaggebenden
Handlungs- und Entscheidungsgrundlagen der zuständigen Träger.
Die anstehende Diskussion sowie die Entscheidung über die beanspruchte
Lebensqualität und deren zugebilligter Lebensstandard bleibt wiederum
in der Entscheidungsgewalt der Kostenträger.
Punkt 1.6 in "Die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation",
herausgegeben durch das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung
1998, wird unter anderem Bezug genommen auf das SGB I , nachdem laut
§ 10 jeder, der körperlich, geistig oder seelisch behindert
ist oder dem eine solche Behinderung droht, unabhängig von der
Ursache der Behinderung ein "soziales Recht" auf die Hilfen zusteht,
die notwendig sind, um verschiedene Zustände zu mildern, zu verhüten,
zu beseitigen oder zu verbessern.
Dieses "soziale Recht" ist in der Behindertenpolitik der Bundesrepublik
anerkannt, heißt es weiter in der oben erwähnten Herausgabe......
Es ist weiterhin zu diskutieren und einzufordern, dass dieses soziale
Recht auch im Alltag betroffener Menschen umgesetzt wird, vor allem
als Zielperspektive in den entsprechenden Gremien, Ausschüssen
und anderen an der Gestaltung und Umsetzung Beteiligter, die sich die
Bedürfnisse und selbstgewählten Lebensformen der Betroffenen
als Maßstab ihrer Entscheidungsgrundlagen und Entscheidungsrichtlinien
zu eigen machen.
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