Elke Bartz
Immer wieder wird gefragt, ob "...wir uns die Pflegekosten noch leisten
können...". Eine Fragestellung, die in einer humanitären Wohlstandsgesellschaft
schlichtweg unanständig und unwürdig ist. Klaglos wird die
Reparatur eines Autos mit über 80 DM für die Arbeitsstunde
bezahlt. Die Befriedigung elementarster Grundbedürfnisse von Menschen,
die im Arbeitgebermodell ca. 28 DM und durch einen professionellen Anbieter
ca. 50 DM kostet, soll zu teuer sein?
Die Frage zu stellen, ob wir uns die Pflegekosten leisten wollen, ist
ehrlicher. Eine verneinende Antwort hieße moralische und ethische
Grenzen zu überschreiten, alte, behinderte und chronisch kranke
Menschen in ihrer Würde zu verletzen, sie zu Kostenfaktoren und
Schädlingen für die Gesellschaft zu degradieren. Es sind keine
unbegrenzten Geldmengen vorhanden. Doch es gilt zu überprüfen,
wo und wie vorhandenen Ressourcen eingesetzt und wo Prioritäten
gesetzt werden.
Eine Gesellschaft, die Menschenrechtsverletzungen im Ausland anprangert,
im eigenen Land aus Kostenaspekten jedoch akzeptiert, darf sich nicht
länger als humanitär bezeichnen.
Lange Jahre totgeschwiegen, nicht ernst genommen oder schlichtweg ignoriert
dringt das Thema Pflegenotstand endlich in die Öffentlichkeit.
Die weitaus überwiegende Anzahl alter, chronisch kranker und behinderter
Menschen, die auf Pflege angewiesen ist, wird ambulant versorgt. Viele
von ihnen erhalten Hilfen durch Familienangehörige, teilweise unterstützt
durch ambulante Dienste. Rund 1500 bis 2000 dieser auf Hilfe (Assistenz)
Angewiesenen - überwiegend jüngere behinderte und chronisch
kranke Menschen - organisieren die notwendigen Hilfen im Rahmen des
sogenannten ArbeitgeberInnen- oder Assistenzmodells. Dabei treten sie
selbst als ArbeitgeberInnen für die HelferInnen (AssistentInnen)
auf.
Das Verbleiben in der gewohnten häuslichen Umgebung und damit
verbunden dem sozialen Umfeld, ist wesentlich "normaler" und der Menschenwürde
entsprechender als die Unterbringung in einer Anstalt gegen den Willen
der Betroffenen. Dies gilt nicht nur angesichts von zunehmenden Horrormeldungen
aus Einrichtungen, die (teils aus Personalmangel) nicht einmal mehr
die Satt-und-Sauber-Pflege gewähren können. Magensonde statt
Essengeben, Dauerkatheter statt Hilfe beim Toilettengang und Sedierung
statt Zuwendung sind längst geduldeter Alltag in vielen Einrichtungen,
insbesondere der Altenpflege, zunehmend aber auch in Behinderteneinrichtungen.
Gerade bei zeitintensiven Pflegesituationen stoßen pflegende
Angehörige, in der Mehrzahl Frauen, schnell an ihre physischen
und psychischen Grenzen. Die Pflegeversicherung als "Teilkaskoversicherung"
ermöglicht nur eine geringfügige Entlastung. Besonders betroffen
sind demenzkranke Menschen und ihre Angehörigen, deren Bedürfnisse
wie Anleitung und/oder Beaufsichtigung rund um die Uhr vollkommen unzureichend
berücksichtigt werden.
Doch Hilfe, bei professionellen Anbietern eingekauft, kostet Geld.
Geld, über das viele nicht verfügen. Geld, das aber auch manchmal
nur nicht für die Pflege eingesetzt werden soll, um ein Erbe nicht
zu schmälern. Die Hilfen im häuslichen Umfeld durch Professionelle
sind nicht nur kostenintensiv. Oft sind ambulante Dienste schon aus
strukturellen Zwängen wie zum Beispiel effizienten Einsatzplanungen
nicht sehr flexibel und kundenorientiert.
Kein Wunder, dass Betroffene und ihre Angehörigen nach Nischenlösungen
suchen, die den Verbleib in der häuslichen Umgebung ermöglichen.
Dabei wurden in den vergangenen Monaten immer häufiger Hilfskräfte
- hauptsächlich zur Versorgung altersdementer Menschen - aus dem
Ausland geholt. Bevorzugt sind es Polinnen, Tschechinnen und Ungarinnen,
die mittels Touristenvisum nach Deutschland kommen und von den Angehörigen
beschäftigt werden. Diese Helferinnen konnten mit dem Touristenvisum
drei Monate bleiben und mussten dann wieder in ihr Heimatland zurück.
Neben Unterkunft und Verpflegung gab es in der Regel ein "besseres Taschengeld"
in Höhe von ca. 1500 bis 2000 DM monatlich. Diese Summen konnten
sich die Betroffenen und ihre Angehörigen in der Regel leisten,
ohne den Gang zum Sozialamt antreten zu müssen. Billiger und für
die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen menschenwürdiger
als Heimaufenthalte war diese Versorgungsstruktur allemal.
Da die Helferinnen nicht über gültige Arbeitserlaubnisse
verfügen, keine Sozialversicherungsbeiträge und Steuern abgeführt
werden, handelt es sich nach deutschem Recht um illegale Beschäftigungsverhältnisse.
Häufig begründet oder "entschuldigt" wird diese Schwarzarbeit
damit, dass man keine deutschen Arbeitskräfte finden würde,
die diese Hilfen leisten wollten. Das mag, besonders im ländlichen
Bereich, teilweise korrekt sein. Doch selbst wenn es ausreichend deutsche
Hilfskräfte gäbe, würde wohl kaum jemand zum Dumpinglohn
von rund 2000 DM den ganzen Monat rund um die Uhr arbeiten können
und wollen.
Nun soll durch eine "Greencard" die Beschäftigung von ausländischen
Hilfskräften, zumindest auf zwei Jahre zeitlich befristet, legalisiert
und damit die Pflegebedürftigen, deren Angehörige und die
Hilfskräfte selbst entkriminalisiert werden. Diese Regelung mag
auf den ersten Blick eine teilweise Lösung des Pflegenotstandes
suggerieren, denn so können zunächst Heimeinweisungen vermieden
werden.
Dennoch ist diese Handhabe aus vielerlei Hinsicht äußerst
bedenklich. Zum einen können Sprachprobleme eine qualitative und
die Bedürfnisse deckende Hilfe erschweren oder gar unmöglich
machen. Die Hilfskräfte befinden sich in totaler Abhängigkeit
zu ihren Arbeitgebern, da sie im selben Haushalt leben (müssen).
Verstöße gegen Arbeitszeitverordnungen sind geradezu vorprogrammiert,
wenn bei der Beaufsichtigung dementer Menschen mit gestörtem Tag-Nachtrhythmus
regelmäßige nächtliche Beaufsichtigung notwendig ist
und diese nur von einer Person geleistet wird. Ausländische Hilfskräfte
müssen zu Dumpinglöhnen arbeiten, die deutschen Mitarbeitern
niemals zugemutet würden.
Der Pflegenotstand beruht nicht ausschließlich auf einer fehlender
Anzahl von Pflegekräften. Bekanntermaßen wechseln 80 % der
ausgebildeten Pflegekräfte innerhalb von fünf Jahren ihren
Beruf, weil sie unter dem Burn-Out-Syndrom leiden. Ursachen sind die
schlechten Arbeitsbedingungen, geringe Löhne, das ständige
Arbeiten im Minutentakt und damit der Verstoß gegen alles, was
in der Ausbildung über menschenwürdige Pflege gelernt wurde,
sowie die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung. Pflege in Deutschland
ist nicht kostenintensiv, weil Pflegekräfte überbezahlt sind.
Vielmehr muss über die Pflegesätze ein geradezu gigantischer
Verwaltungsapparat mitfinanziert werden. Es fließt wesentlich
mehr Geld in den Bürokratismus als in die originären Pflegetätigkeiten.
Die Beschäftigung ausländischer Hilfskräfte birgt die
Gefahr, dass Betroffene und Angehörige künftig lieber auf
diese billigen Hilfen zurückgreifen und deutsche - sowohl ausgebildete
als auch nicht ausgebildete - Kräfte zu Tariflöhnen nicht
mehr beschäftigt werden. Auch Kostenträger könnten künftig
auf die billigen ausländischen Kräfte verweisen, um Kosten
zu sparen. Gerade behinderte ArbeitgeberInnen haben in der Vergangenheit
(und sie tun es nach wie vor) für adäquate Bezahlungen ihrer
AssistentInnen gekämpft, unter anderem, damit eine Kontinuität
gewährleistet ist. Gerade in Arbeitsverhältnissen, die weit
in die Intim- und Privatsphäre der Betroffenen reichen, wo daher
Vertrauensverhältnisse notwendig sind, wird viel Wert auf diese
Kontinuität gelegt.
Es gilt keinesfalls, den Einsatz ausländischer Hilfskräfte
generell zu "verteufeln". Dies würde eine Diskriminierung ausländischer
Menschen bedeuten. Doch sollten diese ausländischen Hilfskräfte
die gleichen arbeitsrechtlichen Bedingungen vorfinden wie ihre deutschen
KollegInnen. Schließlich kann es nur Gleichheit im Recht und nicht
Gleichheit im Unrecht geben.
Ein wichtiger Aspekt ist die Qualitätssicherung. Von vielen Angehörigen
wird vehement dargestellt, dass die ausländischen Hilfskräfte
angeblich "...natürlich nur in Ergänzung zu ambulanten professionellen
Hilfsdiensten..." beschäftigt würden. Dies soll eine Legitimationsbegründung
darstellen, die aus Sicht des ForseA unnötig ist und möglicherweise
lediglich einen empörten Aufschrei der professionellen Anbieter
ob der "billigen" Konkurrenz vermeiden soll.
Ambulante Dienste, deren MitarbeiterInnen eine Vielzahl verschiedener,
wechselnder KundInnen versorgen und Behandlungspflege erbringen, müssen
qualifizierte Kräfte beschäftigen. Alles andere hieße,
gefährliche Pflege zu leisten.
Hilfskräfte, die ausschließlich bei einer auf Hilfe angewiesenen
Person beschäftigt sind, können durchaus auch grundpflegerische
Hilfen leisten. Entweder können die Betroffenen, sofern sie nicht
dement sind, oder die Angehörigen die notwendige Einarbeitung sichern.
Eine bessere Qualitätskontrolle kann es nicht geben als durch die
Betroffenen selbst, die für ihr "gutes Geld" auch gute Leistungen
fordern. Schließlich sind die wenigsten pflegenden Angehörigen
selbst ausgebildete Fachpflegekräfte. Dennoch wird auch ihnen gute
(vielleicht nur weil billige?) Pflege zugetraut. Und tatsächlich
leisten sie in der Regel gute Pflege, insbesondere, wenn sie nicht permanent
überfordert sind.
Eine - wenn auch immer noch nicht ausreichende - Möglichkeit der
finanziellen Entlastung pflegebedürftiger Menschen und ihrer Angehöriger
wäre eine Änderung des SGB XI. So müssten alle, die nichtehrenamtliche
Hilfskräfte in legalen Arbeitsverhältnissen beschäftigen,
die Möglichkeit bekommen, Versorgungsverträge mit den Pflegekassen
abzuschließen. Damit wären sie berechtigt, die höheren
Sachleistungen der Pflegeversicherung zu beziehen und somit, selbst
bei Bezahlung von Tariflöhnen in der Lage, eine wesentlich größere
Anzahl von Pflegestunden finanzieren zu können, als dies durch
die Inanspruchnahme eines professionellen Dienstes möglich ist.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass es keine Patentlösung
für alle gibt. So verschieden wir die Menschen, und damit verbunden
die individuellen Wünsche und Bedürfnisse sind, so unterschiedliche
Möglichkeiten der Deckung dieser Bedürfnisse müssen geschaffen
und gefördert werden. Wahlmöglichkeiten bedeuten Selbstbestimmung,
Lebensqualität und nicht zuletzt Menschenwürde, die nicht
nur reichen Menschen vorbehalten sein dürfen.
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