Beitrag von Elke Bartz
Persönliche
Situation
Im Februar 1976 änderte sich mein Leben innerhalb weniger Sekunden.
An diesem Tag verunglückte ich als Beifahrerin in dem Auto meines
damaligen Mannes. Seither bin ich ab dem sechsten und siebten Halswirbel
querschnittgelähmt und rund um die Uhr auf personelle Hilfen angewiesen.
Damals war es üblich, mit einer solch schweren Behinderung entweder
von Familienangehörigen versorgt oder in einem Heim untergebracht
zu werden. Dabei musste man noch froh sein, wenn das eine sogenannte
Einrichtung der Eingliederungshilfe und nicht ein Altenheim war. Auch
ich sollte, gerade einundzwanzig Jahre alt, unmittelbar nach der medizinischen
Rehabilitation in ein solches Altenheim. Die Versorgung durch meinen
damaligen Mann oder meine Herkunftsfamilie kam nicht in Frage.
Als Alternative wurde mir eine Einrichtung für behinderte Menschen
angeboten, vierhundert Kilometer von meiner Heimat – dem Ruhrgebiet
– entfernt. Froh, dem Altenheim entronnen zu sein, stimmte ich
zu, direkt von der Rehaklinik in dieses Heim gebracht zu werden. Mangels
positiverer Zukunftsperspektiven versuchte ich mich mit der Situation
zu arrangieren, zu genießen, nicht selbst kochen, putzen, bügeln
zu müssen. Doch nach einem halben Jahr wurde die Situation immer
unerträglicher für mich. Zwar musste ich nicht mehr kochen
usw., konnte aber auch nicht mehr selbst entscheiden, wann und geschweige
denn, was ich essen wollte. Mein ganzes Leben war von den engen Strukturen
des Heimlebens geprägt. Selbstbestimmung war ein Fremdwort geworden.
So war ich sehr fasziniert, als ich nach etwa einem Jahr einen ebenfalls
halswirbelgelähmten Mann kennen lernte, der mit Unterstützung
durch Zivildienstleistende in seiner eigenen Wohnung lebte. Mein Entschluss,
nicht den Rest meines Lebens in einer Einrichtung verbringen zu wollen,
verfestigte sich als ich 1978 meinen jetzigen, durch eine Poliomyelitis
(Kinderlähmung) behinderten Mann kennen lernte. 1981 war es endlich
so weit: Wir hatten ein Haus gebaut, nachdem wir über ein Jahr
vergebens nach einer barrierefreien Wohnung gesucht hatten, und zogen
dort ein. Kurz darauf haben wir geheiratet.
Neun Jahre lang, bis 1990, funktionierte die Versorgung durch Zivildienstleistende
im Rahmen der sogenannten Individuellen Schwerstbehindertenbetreuung
(ISB) mehr oder weniger gut. Der ständige Wechsel und die Tatsache,
auch bei der Körperpflege auf die Hilfe junger Männer angewiesen
zu sein, waren oft problematisch. Sie waren aber zu diesem Zeitpunkt
die vermeintlich einzige Alternative zum Heim und somit das kleinere
Ãœbel.
Zusammenbruch der Versorgungsstruktur
Im August 1990 brach die ganze Versorgungsstruktur zusammen. Durch
die damalige Kürzung der Wehr- und damit verbundene Zivildienstzeit
hatte ich innerhalb einer Woche keinen Zivi mehr. Die Monate, die darauf
folgten, waren die schlimmsten meines Lebens. Ich kaufte mir stundenweise
Hilfen von ambulanten Diensten, die bis zu siebzig Kilometern entfernt
waren. Meine selbst stark beruflich eingespannten Schwägerinnen
halfen zusätzlich, die schlimmste Zeit einigermaßen zu überbrücken.
Anfang 1991 erfuhr ich durch Zufall vom Arbeitgebermodell und hörte
erstmals Begriffe wie Persönliche Assistenz statt Betreuung. Ich
wusste sofort: Das ist, was ich will und was ich brauche, um weiter
in Freiheit und Menschenwürde leben zu können.
Die Kosten für die Zivis konnten wir unproblematisch selbst finanzieren,
denn zwei Drittel meiner unfallbedingten Kosten muss eine Autohaftpflichtversicherung
bezahlen. Ein Drittel muss ich selbst finanzieren, da ich bei meinem
Unfall nicht angeschnallt war. Die Kosten für selbsteingestellte
Assistenzkräfte überstiegen die der Kosten für die Zivis,
die wir sehr günstig, nämlich für 1407 DM im Monat bekommen
hatten, um ein Mehrfaches. Nun konnten wir das Drittel Eigenanteil nicht
mehr selbst tragen. Deshalb beantragten wir die Kostenübernahme
bei unserem zuständigen Träger der Sozialhilfe. Diesem waren
die Kosten zu hoch. Der Vorschlag der Behörde lautete, ich solle
mich von meinem Mann trennen und zurück ins Heim ziehen. Er könne
mich ja nach Feierabend und am Wochenende besuchen.
Es dauerte letztendlich bis Juni 1994, bis wir die Kostenübernahme
vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart durchgekämpft hatten. Wir
konnten die Zwischenzeit nur überstehen, weil wir neben zwei festeingestellten
Assistenzkräften stets einen Zivi hatten, der die Kosten niedrig
und unter dem Limit des Sozialhilfeträgers hielt.
„Geiselhaft"
Da mein Mann voll berufstätig ist und ich eine Erwerbsunfähigkeitsrente
beziehe, müssen wir derzeit jeden Monat ca. 1300 € selbst
für meine Assistenzkosten aufbringen. Diese rund 1300 € bedeuten
für uns eine erhebliche Benachteiligung gegenüber anderen
Menschen, die das gleiche Einkommen haben, aber nicht auf Assistenz
angewiesen sind.
Die Benachteiligungen enden damit noch lange nicht: Von dem uns verbleibenden
Einkommen, das nicht für die Assistenz eingesetzt werden muss,
dürfen wir keine Ansparungen für größere Anschaffungen
machen, denn alles was einen geringen Freibetrag übersteigt, muss
wieder für die Assistenzkosten eingesetzt werden. Folglich müssen
größere Anschaffungen über Kredite finanziert werden,
was natürlich Zinszahlungen zur Folge hat. Obwohl uns diese 1300
€ unseres monatlichen Einkommens nicht zur Verfügung stehen,
werden wir in anderen Bereichen wie zum Beispiel bei den Befreiungen
für Medikamentenzuzahlungen behandelt, als wenn wir dieses Geld
hätten. Mein Mann, der nicht auf Persönliche Assistenz angewiesen
ist und ohne mich über sein Einkommen frei verfügen könnte,
wird Zeit seines Lebens in „Geiselhaft" genommen. Dabei
hat er noch „Glück", selbst behindert zu sein. So muss
er nicht neben dem Einsatz seines Einkommens auch noch einen Teil der
Hilfen für mich erbringen. Das wird in der Regel von nichtbehinderten
PartnerInnen, selbst wenn diese voll berufstätig sind, erwartet.
Als Folge dieser Belastung sind schon viele Ehen und Partnerschaften
zerbrochen.
Es war ein langer, oft zermürbender Kampf gegen den Sozialhilfeträger,
der auch bis heute noch gesundheitliche Folgen hat. Ich würde ihn
jedoch jederzeit wieder austragen, denn das Ergebnis ist es wert. Mit
der Persönlichen Assistenz ist es mit möglich, ein selbstbestimmtes
Leben mit meinem Mann in unserem Haus zu führen wie es unzählige
andere Frauen auch tun. Ohne Assistenz könnte ich nicht an dieser
Tagung teilnehmen oder gar für ihre Mitorganisation verantwortlich
sein. Ohne Assistenz hätte mein Leben nicht annähernd die
Qualität wie heute.
Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Persönlichen Assistenz
Mein persönliches Beispiel zeigt, wie schwierig die Umsetzung
der Persönlichen Assistenz ist. Dabei geht es nicht ausschließlich
um die Persönliche Assistenz im Arbeitgebermodell. Die Finanzierung
der Assistenz mittels einer Assistenzgenossenschaft oder eines ambulanten
Dienstes ist genauso problematisch.
Diese Schwierigkeiten beruhen in den seltensten Fällen an den
(noch) nicht vorhandenen Fähigkeiten der behinderten Menschen.
Ursache sind vielmehr die Leistungsverweigerungen der bis zu sieben
möglichen Kostenträger. Entweder sind ihnen die Gesamtkosten
zu hoch, oder sie erkennen den Bedarf nicht im zeitlich notwendigen
Umfang an.
Das gegliederte Sozialversicherungssystem, mit den Kostenträgern
wie Kranken- und Pflegeversicherung, Unfallversicherungen, Arbeitslosenversicherung
sowie dem Integrationsamt und den örtlichen und überörtlichen
Trägern der Sozialhilfe erschwert den Zugang zu den notwendigen
Leistungen. Jeder einzelne von ihnen fürchtet, Kosten zu übernehmen,
die nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen. Ein „Verschiebebahnhof
der Kosten" ist die Folge. Die Einrichtung der Gemeinsamen Servicestellen
haben auch knapp zwei Jahre nach Einführung des SGB IX (noch) keine
nachhaltige Verbesserung der Situation gebracht.
„Wertigkeitsliste" für verschiedene Assistenzleistungen
Nicht jeder notwendigen Assistenzleistung wird die gleiche Bedeutung
zugemessen. Vielmehr gibt es eine Art „Wertigkeitsliste".
Die „Rangfolge" lautet in etwa: Behandlungspflege, Grundpflege,
Arbeitsassistenz, Assistenz in Schule und Ausbildung, hauswirtschaftliche
Versorgung, Kommunikation / Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft /
Unterstützung bei Freizeitaktivitäten. Das erschwert die Anerkennung
der individuellen Bedarfe zusätzlich.
Der zuvor ganzheitliche Ansatz von Assistenz/Pflege wurde durch die
Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 und die medizinisch-defizitäre
Definition zunichte gemacht. Dies gilt insbesondere, da sich die Träger
der Sozialhilfe zunehmend auf die Definition von Pflege nach dem Pflegeversicherungsgesetz
(SGB XI) berufen und das dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) eigene Prinzip
der individuellen Bedarfsdeckung auszuhöhlen versuchen.
Die ganzheitliche Betrachtung von Assistenz/Pflege wird zusätzlich
durch die Unterscheidung von Hilfe zur Pflege und der Eingliederungshilfe
untergraben. Zur Eingliederungshilfe zählen Assistenzleistungen
zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, die nicht zur Hilfe zur Pflege
zählen.
Probleme in verschiedenen Lebenssituationen
Etliche weitere Probleme erschweren assistenznehmenden Menschen die
chancengleiche Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft:
Studierende weisen auf ihre Schwierigkeiten bei der Finanzierung von
Studiumsbegleitung im Allgemeinen, sowie bei Auslandssemestern im Besonderen
hin. Da sie noch keine abgeschlossene Ausbildung haben, können
sie die Leistungen im Rahmen der Arbeitsassistenz nicht beanspruchen.
Da Sozialhilfeleistungen nur sehr begrenzt ins Ausland transferiert
werden können, ist ein Auslandstudium kaum möglich.
Behinderte Eltern, die bei der Pflege und/oder Erziehung ihrer Kinder
auf personelle Hilfen angewiesen sind, bekommen diese nur sehr selten
finanziert.
Eltern, die ihre behinderten Kinder nicht in eine Einrichtung geben
wollen, sind gegenüber Eltern von stationär untergebrachten
Kindern benachteiligt. Letztere müssen nur noch maximal 26 Euro
monatlich für die stationäre Versorgung aufbringen. Eltern
ambulant versorgter Kinder hingegen müssen, je nach Einkommen,
wesentlich höhere Eigenbeteiligungen leisten.
Die rechtlichen Grundlagen für die Finanzierung von Assistenzleistungen
bei längeren Urlaubsaufenthalten im europäischen Ausland,
sowie Urlauben im nicht europäischen Ausland durch die Träger
der Sozialhilfe sind völlig unzureichend. Die Kostenübernahme
für einen höheren Assistenzbedarf im Urlaub wird in der Regel
von den Trägern der Sozialhilfe verweigert.
Besondere Schwierigkeiten ergeben sich für assistenznehmende Menschen
bei Krankenhausaufenthalten und medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen
(Kuren). Viele Krankenhäuser und Kurkliniken sind den besonderen
Bedürfnissen behinderter Menschen in der Regel nicht gewachsen.
Dieser besondere Hilfebedarf beruht nicht auf der akuten Erkrankung,
sondern ist stets vorhanden. Wenn die betroffenen behinderten Menschen
die auf ihre speziellen Bedürfnisse eingearbeiteten Assistenzpersonen
nicht mit in die Klinik nehmen dürfen, drohen Unterversorgungen
bis zu konkreten gesundheitlichen Gefährdungen.
Im Gegensatz zu nichtbehinderten Bürgerinnen und Bürgern
müssen viele behinderte, auf Assistenz Angewiesene ihr Leben in
Module und Leistungskomplexe pressen lassen. Schon für alte Menschen
sind diese Leistungskomplexe selten „passend". Bei behinderten
Menschen gehen sie an der Alltagsrealität gänzlich vorbei.
Oft werden Hilfeleistungen gleichzeitig oder in direkter Nachfolge zueinander
erbracht, die in den Zuständigkeitsbereich mehrerer verschiedener
Kostenträger fallen. Eine Auseinanderdefinierung hat mit einer
normalen gleichberechtigten Lebensführung nicht das geringste zu
tun.
Die Deckung der Bedarfe, oder besser, die Befriedigung der individuellen
Bedürfnisse, sind die Basis für ein selbstbestimmtes, gleichberechtigtes
Leben. Die Hilfe zur Pflege ist dabei ebenso Bestandteil der Persönlichen
Assistenz (wer nicht angezogen wird oder nichts zu essen bekommt, kann
auch nicht zur Arbeit oder zum Einkaufen gehen, etc.) wie alle anderen
möglichen Assistenzleistungen.
Problematische Gesetzgebung
Obwohl wir es mit einer bundesweit einheitlichen Gesetzgebung zu tun
haben, werden diese Gesetze nicht nur in den einzelnen Bundesländern,
sondern von Kommune zu Kommune unterschiedlich definiert und angewandt.
Ist es in der einen Stadt einigermaßen leicht, die Kostenübernahme
für die individuell notwendigen Assistenzleistungen bewilligt zu
bekommen, ist sie in der Nachbargemeinde nur über den Klageweg
durchzusetzen. Damit wird das im Grundgesetz verankerte Recht auf Freizügigkeit
ausgehebelt. Ein assistenznehmender Mensch muss genau überlegen,
wo er leben will, wo er die größten Chancen hat, seine notwendigen
Assistenzleistungen finanziert zu bekommen. Ein Umzug wird gravierend
erschwert, denn der einmal anerkannte Assistenzbedarf muss am neuen
Wohnort neu geltend gemacht werden. Diese Situation hatte schon mehrfach
zur Folge, dass behinderte Menschen auf eine Arbeitsstelle verzichten
mussten, weil sie befürchteten, am künftigen Wohnort keine
ausreichenden Assistenzleistungen mehr zur Verfügung zu haben.
Assistentinnen und Assistenten, die nach einem Umzug an einen anderen
Wohnort wieder in diesem Bereich tätig sein wollen, sehen sich
ebenfalls einer sehr unsicheren Situation gegenüber. Bekamen sie
seither unproblematisch Tariflohn, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, kann
ihnen ihr zukünftiger Chef unter Umständen lediglich 7 €
„cash" bezahlen. Damit sind legale Arbeitsverhältnisse
unmöglich.
Novellierungen notwendig
Rund zweitausend behinderte Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, sowie
andere, die ihre Persönliche Assistenz über eine Assistenzgenossenschaft
oder einen ambulanten Dienst erhalten, leben nicht in einem rechtsfreien
Raum. Die aktuelle Gesetzgebung bzw. deren Umsetzung ist jedoch unzulänglich.
Assistenznehmende Menschen müssen ihre Rechte häufig in langwierigen
und kostenintensiven Rechtsverfahren erstreiten. Der Verwaltungsaufwand,
bedingt durch die Zuständigkeiten von mehreren verschiedenen Kostenträgern,
verursacht ebenfalls erhebliche Kosten. Das gleiche gilt für Mehrfachbegutachtungen
bei der Bedarfsermittlung, da jeder einzelne Kostenträger eigene
Gutachten (z.B. durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen und
den Allgemeinen Sozialen Dienst) erstellen lässt. Weiterhin sind
die Hilfe zur Pflege (§§ 68, 69 BSHG) sowie die Eingliederungshilfe
(§§ 39, 40 BSHG) im Bundessozialhilfegesetz deplaziert. Durch
das BSHG sollen vorüber gehende Notlagen gemildert bzw. beseitigt
werden. Auf Persönliche Assistenz sind behinderte Menschen in der
Regel zeit ihres Lebens angewiesen. - Verbesserte gesetzliche Grundlagen
helfen Rechtsansprüche leichter umzusetzen und Kosten im Verwaltungsbereich
zu senken, ohne Leistungskürzungen und damit Unterversorgung zur
Folge zu haben.
Chancengleichheit in sämtlichen Bereichen des Alltagslebens für
alle Menschen mit Bedarf an Persönlicher Assistenz kann nur erfolgen,
wenn die Finanzierung aus einer Hand und als Komplexleistung auf Zeitbasis
erfolgt. Es gilt hierzu sinnvolle und der Lebensrealität behinderter
Menschen entsprechende Konzepte – eventuell im Regelungsbereich
des SGB IX - zu entwickeln.