Dr.
Hartmut Haines. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung
Möglichkeiten der Finanzierung eines Anspruchs auf persönliche
Assistenz
Beitrag zur Tagung „Über Assistenz selbst bestimmen –
Assistenz, Schlüssel zur Selbstbestimmung behinderter Menschen"
am 29. und 30. April 2003 in Mainz
Zu Ihnen heute hier zu diesem Thema zu sprechen - darum habe ich mich
nicht beworben. Auch für die Idee und die Entscheidung, diese Tagung
jetzt hier zu veranstalten, bin ich nicht verantwortlich, nicht einmal
für die Wahl des mir gestellten Themas.
Gleichwohl habe ich nicht gezögert, der freundlichen Einladung
von Frau Vieweg zu folgen, auf Ihrer Tagung Positionen des zuständigen
Bundesministeriums zu vertreten. Denn wie mein gutes altes lateinisch-deutsches
Wörterbuch mir noch einmal bestätigt hat: „ministerium"
bedeutet auf Deutsch „Dienst", „Dienstleistung"
und erst in der dritten Bedeutung „Amt", und wenn ein Ministerium
von Betroffenen um Mitwirkung bei einer solchen Tagung und speziell
um Auskunft zu Möglichkeiten der Finanzierung gebeten wird, dann
hat es dieser Bitte zu entsprechen und die erbetenen Dienste zu leisten
- auch wenn gerade kein Sack Gold zusätzlich bereitsteht, den man
als Gastgeschenk mitbringen könnte.
Warum im zuständigen Bundesministerium kein Sack Gold zusätzlich
bereitsteht - weder am Bonner Amtssitz noch in Berlin -, ist, so glaube
ich, heute noch einfacher zu erklären als zu der Zeit, als der
Plan zu dieser Tagung entstand. Ich will Ihnen jetzt hier nicht im Einzelnen
vortragen, was mindestens seit den Bundestagswahlen im September vorigen
Jahres die innenpolitische Debatte in Deutschland – die Debatte
nicht nur in der Sozialpolitik – beherrscht und was zumindest
aus der Presse allen geläufig ist, die sich auch nur am Rande an
dieser Debatte beteiligen oder von ihr betroffen sind.
Ich will vielmehr den Stand dieser Debatte, so wie ich ihn sehe, konkret
an dem gerade von Herrn Herr Jürgens geleisteten Beitrag zu dieser
Tagung verdeutlichen: Dieser Beitrag war in seinem zweiten Teil angelegt,
- Richtiges und Wünschenswertes aufzuzeigen und auszumalen,
- dieses Richtige und Wünschenswerte „Persönliche Assistenz"
zu nennen und
- dann für „den (!) Anspruch auf Persönliche Assistenz"
rechtliche Grundlagen zu benennen.
Und jetzt richten sich rund 500 interessierte Augen auf mich - stellvertretend
für „die Gesellschaft" oder „die Politik"
-, und die meisten der Köpfe hinter diesen Augen haben eine Erwartung:
dass die Zauberkünstler, die wir „die Politik" nennen,
für alles Richtige und Wünschenswerte, was hier gesagt wurde
und auf was wir einen Anspruch zu haben behaupten, auch Finanzierungsmöglichkeiten
der Gesellschaft bereitstellen, sofort und spätestens morgen. Doch:
so funktioniert Politik spätestens seit den Bundestagswahlen im September
vorigen Jahres nicht mehr, und so kann und wird sie auch auf lange absehbare
Zeit nicht mehr funktionieren. Denn was richtig und was wünschenswert
ist, das kann, das sollte man nicht mehr ohne Blick auf die Ressourcen
diskutieren, die zur Umsetzung des Richtigen und des Wünschenswerten
zur Verfügung stehen – und erst recht nicht ohne Blick auf
die Menschen gegenwärtiger und künftiger Generationen, die diese
Ressourcen erarbeiten, erwirtschaften und für andere bereitstellen
sollen. Und wer worauf „einen Anspruch" hat, das bestimmen
in einem Rechtsstaat nicht die Betroffenen, sondern die Gesetze und diejenigen,
die die Gesetze auszuführen haben.
Natürlich
stimme ich zu, dass der Umgang der Gesellschaft mit behinderten, mit
pflegebedürftigen, mit assistenzbedürftigen Menschen von deren
Menschenrechten geprägt sein muss, insbesondere von deren Anspruch
auf menschliche Würde im Sinne des Artikels 1 des Grundgesetzes.
Und zusätzlich von Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe,
die nach § 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch die zentralen
Zielsetzungen der dort näher geregelten Sozialleistungen sind.
Aber darüber hinaus empfehle ich bei der Behauptung eines „Menschenrechts"
(!) auf „persönliche Assistenz", wie sie hier vorhin
vertreten wurden, besondere Vorsicht. Ein solches „Menschenrecht"
müsste, wenn es Sinn gegen soll, ja Adressaten haben. Soweit dies
diejenigen sind, die Assistenzleistungen erbringen sollen, haben diese
ja auch eigene Grundrechte, zum Beispiel auf Selbstbestimmung und auf
Achtung ihrer Menschenwürde, was dem Vernehmen nach „Assistierte"
- dem Vernehmen nach selbst prominente „Assistierte" - bisweilen
vergessen. Und soweit es um Geld geht, das für Assistenz gefordert
wird, haben auch Steuer- und Beitragszahler Grundrechte, mit denen sie
sich zum Beispiel gegen unangemessene Inanspruchnahme und gegen Überforderung
verwahren und wehren können. Und auch die Generation unserer Kinder
hat zumindest ein moralisches Recht, von unserer Generation nicht nur
einen Berg Schulden hinterlassen zu bekommen.
Anders als Frau Bartz es gesagt hat, habe ich sie für die Verwendung
des Begriffs „Kostenträger" auch nicht „getadelt";
das stünde mir nicht zu. Ich empfinde diesen Begriff aber als abwertend;
wenn gesellschaftliche Ressourcen in Anspruch genommen werden, gebietet
es aus meiner Sicht der Respekt vor diesen Ressourcen und vor den Menschen,
die diese Ressourcen erarbeiten, diesen Respekt auch terminologisch
zum Ausdruck zu bringen, beispielsweise durch die korrekten, gesetzlichen
Bezeichnungen der „Sozialleistungsträger" und „Rehabilitationsträger",
die ja für die von ihnen zu erbringenden Soziallleistungen nicht
nur finanziell, sondern auch inhaltlich und hinsichtlich der Ergebnissse
verantwortlich sind.
Ich sehe auch nicht, wo in Europa und anderswo der Zugriff auf finanzielle
Ressourcen den Rang eines „Menschenrechts" genießt,
schon gar nicht in den Vereinigten Staaten von Amerika, die uns gerade
von Mitveranstaltern der heutigen Tagung immer wieder als vorbildlich
gepriesen werden. Ich kann insoweit natürlich nur für mich
persönlich sprechen; aber gerade weil mir Menschenrechte, ihre
Beachtung und ihre Umsetzung sehr wichtig sind, ist für mich der
Ausgangspunkt klar: ich ich schlage vor, Möglichkeiten der Finanzierung
von Erwartungen auf persönliche Assistenz zu erörtern, ohne
dass es damit gleich um die Frage geht, ob ein „Menschenrecht"
anerkannt oder verweigert wird.
Gerade andersherum als die Argumentationslinie im Beitrag von Herrn
Jürgens läuft ja derzeit die schon angesprochene Debatte in
unserem Lande um die Zukunft der Politik im Allgemeinen und um die Zukunft
der Sozialpolitik im Besonderen. Härter und drängender wird
jetzt in Deutschland - nicht nur an deutschen Stammtischen - gefragt:
Welche „Ansprüche", welche sozialen „Errungenschaften"
wollen, welche können wir uns als Gesellschaft weiterhin leisten?
Wo sollen wir unter heutigen Gegebenheiten, unter heutigen Rahmenbedingungen,
unter heutigen gemeinsamen Wertvorstellungen die Grenze zwischen der
Verantwortung der Gesellschaft und der unserer persönlicher Verantwortung
ziehen? Wir haben uns daran gewöhnt, unseren persönlichen
Bedarf fordernd an die Gesellschaft, sprich: an unsere Mitmenschen zu
richten, statt zu versuchen, ihn zunächst einmal mit eigenen Mitteln
abzudecken - in Deutschland mehr als anderswo, im Osten in etwas anderen
Traditionen als im Westen. Und in diesem aktuellen Stand der sozialpolitischen
Debatte ist es schwierig, Raum für zusätzliche Erwartungen
zu sehen.
Die Debatte um Möglichkeiten der Finanzierung persönlicher
Assistenz ist damit keineswegs beendet, im Gegenteil. So wurde vor kurzem
das Problem der Kosten persönlicher Assistenz im Rahmen von Gemeindevertretungen
aufgeworfen. Soweit solche im Einzelfall für die Mitarbeit in kommunalen
Vertretungen notwendig ist, sollten diese Kosten über die kommunalen
Satzungen zur Entschädigung von Mitgliedern der Gemeindevertretungen
gelöst werden, auch in Umsetzung des Benachteiligungsverbots nach
Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz. Ein ähnlicher Lösungsansatz,
um persönliche Assistenz zu erleichtern, ist die Freifahrt notwendiger
Begleitpersonen, wie sie seit langem im deutschen Schwerbehindertenrecht
vorgesehen ist.
Die Regelungen des Behindertengleichstellungsgesetzes, die am 1. Mai
2002 in Kraft getreten sind, sollen das Benachteiligungsverbot auch
über das Sozialrecht hinaus umsetzen sowie dazu dienen, die Gleichberechtigung
behinderter Menschen in allen Bereichen des öffentlichen und privaten
Lebens zu sichern und im Alltag zu praktizieren. Soweit es beispielsweise
gelingt, Barrierefreiheit beim umfassenden Zugang und der uneingeschränkten
Nutzungsmöglichkeit gestalteter Lebensbereiche zu sichern, entfällt
ein Bedarf für persönliche Assistenz, die ansonsten benötigt
würde, um derartige Barrieren zu überwinden. Ein anderes Beispiel
dieser Art: gleiche Chancen beim Hochschulstudium durch barrierefreie
Angebote der Hochschulen und Prüfungsordnungen, die die Belange
behinderter Studierender berücksichtigen.
Zurück zum Sozialrecht. Viele Bereiche unseres Gesundheitswesens
und unserer sozialen Sicherung wurden in der Vergangenheit genutzt und
werden dies bis heute, um persönliche Assistenz zu finanzieren
- sicher nicht in dem Sinne der Idealvorstellungen von Richtigem und
Wünschenswertem, wie sie im ersten Teil des heutigen Nachmittags
entwickelt und dargestellt wurden, aber doch im Sinne von Teillösungen,
die Teilbedarfe der betroffenen Menschen abdecken und die Ideen und
Forderungen nach weitergehenden Lösungen überhaupt diskussionsfähig
gemacht haben. Die aktuellen Diskussionen um den Fortbestand „sozialer
Errungenschaften" betreffen oder berühren auch viele dieser
bisher akzeptierten Bereiche praktizierter „persönlicher
Assistenz". Deutlicher gesprochen: wer an schon vorhandenen Teillösungen
unserer Thematik festhalten will, gilt heute in weiten Teilen unserer
Öffentlichkeit und unserer Presse als hoffnungsloser Modernisierungsverweigerer;
ich nenne da als Themen, die in den letzten Monaten von unterschiedlichen
Akteuren aus unterschiedlichen Gründen alle in Frage gestellt worden
sind, beispielhaft nur den Erhalt der solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung,
den Erhalt der Pflegeversicherung oder Rechtsansprüche auf Leistungen
der Sozialhilfe oder auf Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit
zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben.
So fand ein vor einigen Wochen vorgelegter Vorschlag, die vor etwa
10 Jahren nach langwierigen und harten Debatten eingeführte Pflegeversicherung
jetzt wieder abzuschaffen, Unterstützung und Gegnerschaft aus sehr
unterschiedlichen Motiven: Die einen fragen, warum 10 Jahre Beitragszahlung
zugunsten bedürftigkeitsunabhängiger Leistungen plötzlich
nichts mehr wert sein sollen; die anderen stimmen dem Vorschlag zu,
weil sie eine gesellschaftliche Absicherung von Pflegeleistungen generell
für überzogenen Luxus halten; und die Finanzminister der Länder
und vielleicht auch des Bundes fragen sich, wie sie einen Ausgabenbrocken
von bisher jährlich fast 20 Milliarden Euro (+ erwarteter Leistungsverbesserungen)
zusätzlich aus ihren ohnehin beanspruchten Steuermitteln finanzieren
sollten.
Sie wissen, dass das vor einem halben Jahr neu gebildete Bundesministerium
für Gesundheit und Soziale Sicherung, für das ich an Ihrer
Veranstaltung teilnehme, sich auf seine Weise an diesen Diskussionen
beteiligt und inmitten aller Kakophonien versucht, in der allenthalben
stattfindenden Reformdiskussion eine zustimmungsfähige Linie zu
finden, zu wahren und dafür Unterstützung zu finden. Im neu
gebildeten Ministerium lag die zeitliche Priorität in der Organisation
politischer Willensbildung bisher bei der Modernisierung des Gesundheitswesens,
bei der Stabilisierung der Rentenversicherung und bei der Vorbereitung
einer Reform der Sozialhilfe mit dem Schwerpunkt bei der Umsetzung der
Vorschläge der Hartz-Kommission. Zu den hier heute zu diskutierenden
Fragen hat eine abschließende Meinungsbildung des Ministeriums
und der Bundesregierung insgesamt bisher noch nicht stattgefunden, und
auch der Koalitionsvertrag enthält nur allgemeine Vorgaben. So
bleibt es meine Aufgabe, vorhandene und erkennbare Ansatzpunkte mit
eigenen Überlegungen zu dem mir gestellten Thema zu verknüpfen.
Dabei erscheint mir aus schon genannten Gründen von vorneherein
nicht realistisch, solche Überlegungen auf die Erwartung zusätzlicher
Ressourcen aufzubauen; derartige Ressourcen sind auf absehbare Zeit
weder aus Steuermitteln noch aus Mitteln der Sozialversicherung zu erwarten.
Vielmehr scheint es sinnvoll, auch insoweit von einem Grundsatz auszugehen,
der beim SGB IX zwar zunächst harte Kritik von Seiten mancher Verbände
behinderter Menschen fand, es dann aber erlaubte, die politische Diskussion
- auch mit diesen Verbänden - sehr konstruktiv und entspannt zu
führen und nicht ohne Erfolge zu beenden, beispielsweise hinsichtlich
der Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger und der erweiterten
Möglichkeiten von Arbeitsassistenz. Diesen Grundsatz hatten die
Koalitionsfraktionen in den Eckpunkten zum SGB IX wie folgt formuliert:
„Leistungsausweitungen und Neuregelungen stehen unter dem Vorbehalt
der Finanzierbarkeit und sind in erster Linie durch Effizienzsteigerungen,
Vereinfachungen und Kosteneinsparungen im bestehenden System zu realisieren."
Bei den anzustellenden Überlegungen an die Wert- und Zielorientierungen
des SGB IX anzuknüpfen, halte ich auch ansonsten für sinnvoll.
Das vor etwa zwei Jahren abschließend parlamentarische beratene
Gesetzgebungsvorhaben wurde schließlich sowohl im Deutschen Bundestag
als auch im Bundesrat - jeweils mit breiten Mehrheiten und ohne Gegenstimmen
- gebilligt und ist seit weniger als zwei Jahren in Kraft; zu ihm hat
es somit den letzten übergreifenden politischen Meinungsbildungsprozess
zu unserer Thematik gegeben. Allerdings konnte bei der Schaffung des
SGB IX dessen volle Verzahnung mit den Regelungen zur Pflege noch nicht
geleistet werden, und ein Teilaspekt der mir vorgegebenen Thematik ist:
zu klären, ob und welche gesetzlichen Änderungen hierzu beitragen
könnten.
Die Einzelregelungen des SGB IX sind Bestandteil eines Paradigmenwechsels,
der dort für den Bereich der Sozialpolitik zugunsten behinderter
und von Behinderung bedrohter Menschen vollzogen wurde. Als grundlegende
Zielsetzungen im Rahmen dieses Paradigmenwechsels formuliert das SGB
IX in § 1 - ich wies bereits darauf hin - Selbstbestimmung und
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Das SGB IX stellt daher in seinen
Regelungen die Leistungen zur Teilhabe und die mit ihnen verfolgten
Zielsetzungen in den Vordergrund; Ausführungs- und organisatorische
Regelungen erhielten folgerichtig Plätze in den hinteren Rängen
- eine ganz andere Gewichtung als z.B. im Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs,
dessen rechtliche und organisatorische Vorgaben eine Orientierung der
Krankenkassen etwa an Gesundheitszielen zumindest erschweren.
Als erste dieser Zielsetzungen verpflichtet § 3 SGB IX die Rehabilitationsträger,
darauf hinzuwirken, dass der Eintritt einer Behinderung einschließlich
einer chronischen Krankheit vermieden wird. Der dort festgelegte Vorrang
von Prävention und die Stellung der Vorschrift noch vor den in
§ 4 und im Folgenden angesprochenen Leistungen zur Teilhabe macht
den fachpolitischen Vorrang deutlich, der Prävention in jeder Form
zuzubilligen ist. Behinderungen, wie sie in § 2 SGB IX angesprochen
sind, mit Einschluss von „Pflege-” und „Assistenzbedürftigkeit”
sind kein Zustand, der angestrebt, hingenommen oder gar gewünscht
wird; vielmehr sind sie so weitgehend wie im Einzelfall möglich
zu vermeiden. Dies ist eine Folgerung auch aus der tragenden politischen
Zielsetzung in § 1; besondere Regelungen mit dem Ziel der Selbstbestimmung
und der gleichberechtigten Teilhabe erübrigen sich, soweit es gelingt,
bestehende Behinderungen zu beseitigen und neue gar nicht erst entstehen
zu lassen. Stellung und Text der Vorschrift gehen außerdem davon
aus, dass das Vermeiden von Behinderungen als ein Grundprinzip verstanden
wird, das nicht nur im Zusammenhang mit Sozialleistungen zu beachten
ist.
Die Regelungen über Sozialleistungen beginnen im SGB IX mit §
4. Danach gehört zur umfassenden Aufgabendefinition aller Leistungen
zur Teilhabe unter anderem, Pflegebedürftigkeit in jedem nur möglichen
Stadium entgegenzuwirken (also auch dann, wenn sie schon eingetreten
ist); hierzu sind alle im Einzelfall möglichen Interventionsansätze
auszuschöpfen. Weitere Ziele legt das SGB IX in § 4 Abs. 1
allgemein sowie in in §§ 26, 33 und 55 speziell für die
Ausrichtung der einzelnen Leistungsgruppen fest. Soweit die einzelnen
Leistungen zur Teilhabe ganz oder teilweise auf das gerichtet ist, was
Sie auf Ihrer Tagung als „Assistenz" bezeichnen, sind nach
geltendem Recht diese Ziele zu beachten.
Eine weitere wichtige inhaltliche Vorgabe zum Verhältnis zwischen
Leistungen zur Teilhabe und Pflege/Assistenz enthält § 8 mit
dem Vorrang von Leistungen zur Teilhabe. Ich zitiere: „Werden
bei einem Rehabilitationsträger Sozialleistungen wegen oder unter
Berücksichtigung einer Behinderung oder einer drohenden Behinderung
beantragt oder erbracht, prüft dieser unabhängig von der Entscheidung
über diese Leistungen, ob Leistungen zur Teilhabe voraussichtlich
erfolgreich sind.", und dies „ist auch anzuwenden, um durch
Leistungen zur Teilhabe Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden,
zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten" (so Absatz
3). Diese Regeln gelten natürlich auch hinsichtlich des Bedarfs
an persönlicher Assistenz - ein Aspekt, den die Erörterungen
heute bisher völlig vernaschlässigten.
Für die Ziele, Assistenzbedürftigkeit entgegenzuwirken sowie
Assistenzleistungen mit Leistungen zur Teilhabe kompatibel zu machen,
sind auch nutzbar zu machen - aus der Sicht der betroffenen Menschen
- § 9 zum Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten sowie
sowie - als Aufgabe der Rehabilitationsträger - § 10 zur Koordinierung
der Leistungen. [Das SGB IX stärkt die individuelle Rechtsposition
der behinderten Menschen, indem es deren Wunsch- und Wahlrechte erheblich
erweitert. Sowohl bei der Auswahl als auch bei der Ausführung der
Leistungen ist den berechtigten Wünschen der Betroffenen zu entsprechen.
Leis-tungsträger und Leistungserbringer sind zudem gesetzlich verpflichtet,
insbesondere Rücksicht zu nehmen auf die persönliche Lebenssituation,
das Alter, das Geschlecht, die Familie sowie die religiösen und
weltanschaulichen Bedürfnisse der Betroffenen. Sachleistungen zur
Teilhabe können auf Antrag der Leistungsberechtigten als Geldleistung
erbracht werden. Die Interessen und Wünsche behinderter Menschen
sind ein ganz zentraler Aspekt von Rehabilita-tion und Teilhabe. Verstärkt
wird dies dadurch, dass die Rehabilitationsträger durch Bescheid
begründen müssen, weshalb den Wünschen im Einzelfall
nicht entsprochen wurde. Auf diese Art und Weise werden zum einen die
Träger dazu gezwungen, sich intensiv mit den Anliegen der Betroffenen
auseinander zu setzen. Zum anderen werden die Wünsche zum Gegenstand
der Auseinandersetzung zwischen den Betroffenen und den Leistungsträgern.
Damit wird ermöglicht, dass die sozialen Rechte partnerschaftlich
und durch den Berechtigten individuell mitgestaltet werden können.]
Ich
erspare Ihnen jetzt Ausführungen zu Einzelheiten, bin zu ihnen
aber selbstverständlich gern bereit, beispielsweise in der Diskussion.
Neue Akzente setzt § 17 vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit
persönlicher Budgets. Soweit diese Leistungsform in Deutschland
bisher erprobt wurde, geschah dies meist bei Leistungen, in denen auch
Pflegebedürftigkeit gegeben war. Die Modellvorhaben, zu denen die
Rehabilitationsträger verpflichtet sind, sowie die bereits allgemein
- schon vor Abschluss der Modellvorhaben - bestehende Leistungsmöglichkeit
eröffnen daher neue Perspektiven auch für das Zusammenspiel
von Rehabilitation und Pflege, worauf ich später noch eingehen
werde.
Als Grundsätze sind aus diesen Zielvorgaben hervorzuheben:
- der Grundsatz der Finalität, nach dem die notwendigen Hilfen
jedem behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen unabhängig
von der Ursache der Behinderung geleistet werden müssen, auch wenn
für diese Hilfen unterschiedliche Träger und Institutionen
mit unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen zuständig sind,
- der Grundsatz einer möglichst frühzeitigen Intervention,
nach dem entsprechend den im Einzelfall gegebenen Möglichkeiten
und Notwendigkeiten Ausmaß und Auswirkungen der Behinderung möglichst
gering zu halten und nicht vermeidbare Auswirkungen so gut wie möglich
auszugleichen sind, und
- der Grundsatz der individuellen Hilfe, die auf die konkrete Bedarfssituation
jedes einzelnen behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen zugeschnitten
und dieser Bedarfssituation mit geeigneten Mitteln gerecht werden muss.
Inwieweit und wie die in §§ 4, 26, 33 und 55 SGB IX genannten
Ziele für behinderte, von Behinderung bedrohte und damit auch für
assistenzbedürftige Menschen im Einzelfall verwirklicht werden
können, also das Teilhabepotenzial, ist individuell zu ermitteln,
und zwar mit einer Prognose der Entwicklung, die bei bestmöglicher
Förderung erreichbar wäre. Möglichkeiten und Probleme
behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen betreffen in aller
Regel nicht nur einzelne Bereiche, etwa den medizinischen oder beruflichen;
vielmehr müssen die einzelnen Leistungen den konkreten Lebensumständen
in ihrer Gesamtheit Rechnung tragen, in deren Rahmen sich Rehabilitation
und Teilhabe vollziehen sollen.
„Notwendig" sind Leistungen zur Teilhabe nur, wenn sie
zum Erreichen der angesprochenen Ziele geeignet sind. Hinzu muss kommen,
dass kein anderer, sinnvoller Weg, diese Ziele zu erreichen, gegeben
ist. Ergibt die Prognose, dass die Ziele über mehrere unterschiedliche
Wege gleich gut und gleich schnell erreicht werden können, ist
zunächst das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen nach §
9 zu beachten. Innerhalb eines danach verbleibenden Entscheidungsspielraums
sind die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten.
Soweit Leistungen verschiedener Leistungsgruppen oder mehrerer Rehabilitationsträger
erforderlich sind, haben nach § 10 Abs. 1 SGB IX die beteiligten
Rehabilitationsträger im Benehmen miteinander und in Abstimmung
mit den Leistungsberechtigten die nach dem individuellen Bedarf voraussichtlich
erforderlichen Leistungen funktionsbezogen so zusammenzustellen, dass
sie nahtlos ineinander greifen. Die Feststellung der Leistungen unter
Bezug auf ihre Funktion verbietet pauschale Leistungsumschreibungen;
sie gebietet Leistungen entsprechend dem individuellen Bedarf und entsprechend
den individuellen, mit den Leistungen umzusetzenden Teilhabezielen.
Die Leistungen sind entsprechend dem Verlauf der Rehabilitation anzupassen
und darauf auszurichten, den Leistungsberechtigten unter Berücksichtigung
der Besonderheiten des Einzelfalls die den Zielen der §§ 1
und 4 Abs. 1 entsprechende umfassende Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
zügig, wirksam, wirtschaftlich und auf Dauer zu ermöglichen.
Dabei haben die Rehabilitationsträger durchgehend das Verfahren
entsprechend dem jeweiligen Bedarf zu sichern. Statt einer Erläuterung
im Einzelnen hier nur ein Schlagwort: gefragt ist nach dem SGB IX Teilhabemanagement,
also im Ergebnis also etwas Ähnliches wie der vorhin von Herrn
Jürgens geforderte einheitliche Anspruch.
Notwendige Hilfe ist nach den Zielvorgaben des SGB IX entsprechend
der individuellen Bedarfssituation mit den geeigneten, auf sie zugeschnittenen
Mitteln und Maßnahmen zu leisten. Wichtig ist dabei, die zur Teilhabe
am Leben in der Gesellschaft notwendige Förderung möglichst
mit einer Erhaltung und sachgerechten Fortentwicklung der bisherigen
sozialen Bezüge in Einklang zu bringen. Daher ist dort, wo eine
wirkungsvolle Förderung durch ambulante Hilfen möglich ist,
diesen der Vorzug zu geben, zumal sie dem Betroffenen mehr Möglichkeiten
zu eigenverantwortlicher Gestaltung seiner Lebensumstände belassen.
Allerdings muss in jedem Einzelfall die konkret benötigte Förderung
gewährleistet sein - aber kann sie in ambulanter Form gewährleistet
werden, ist sie bei entsprechenden Wünschen der betroffenen Menschen
nur so geeignet und notwendig.
Eine besondere Ausprägung des Wunsch- und Wahlrechtes ist die
neue Leistungsform des sogenannten persönlichen Budgets. Sie ist
in § 17 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX als Leistungsform besonders aufgeführt,
und zwar aus der Erkenntnis, dass das Sachleistungsprinzip im Rahmen
der Förderung der Selbstbestimmung bei behinderten Menschen auf
Grenzen stößt.
„Persönliche Budgets" sind dadurch gekennzeichnet,
dass die individuellen Bedarfe eines behinderten Menschen ermittelt
werden und ihm ein Budget zur eigenverantwortlichen persönlichen
Verwendung zur Verfügung gestellt wird. Behinderte Menschen sollen
damit selbst entscheiden, welche Hilfen für sie am besten sind,
sowie welcher Dienst und welche Personen ihnen zu dem von ihnen gewünschten
Zeitpunkt eine Leistung erbringen. Das traditionelle Dreiecksverhältnis
zwischen Leistungsträger, Leistungsanbieter und Leistungsempfänger
wird neu bestimmt. Behinderte Menschen werden zu Kunden oder Käufern,
manchmal auch zu Arbeitgebern. Den Leistungsberechtigten muss im Rahmen
des persönlichen Budgets auch nicht unbedingt Geld ausgezahlt werden.
Von seiner Idee her ist das „Persönliche Budget" zwar
so ausgelegt, doch sind andere Möglichkeiten nicht ausgeschlossen,
beispielsweise die Ausgabe von Gutscheinen.
Dort wo für den Umgang mit dem persönlichen Budget Hilfen
notwendig sind, sind diese selbstverständlich zu leisten. Denkbar
ist auch eine zeitlich abgestimmte Kombination von Sachleistungen und
persönlichem Budget.
Das „Persönliche Budget" ist auch ein Steuerungsinstrument.
Bei seiner breiten Einführung Es werden sich neue Angebotsstrukturen
entwickeln - dies zeigen auch die Erfahrungen in den Ländern, in
denen mit persönlichen Budgets gearbeitet wird. Diese Folge tritt
insbesondere dann ein, wenn das Ergebnis eines wirtschaftlichen und
sparsamen Umgangs mit dem Budget dem Inhaber des Budgets zugute kommt.
Es wird erwartet, dass mit Hilfe dieses Instruments die Entwicklung
der Kosten in der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen wesentlich
beeinflusst werden kann. Denn die dort absehbaren Kostenprobleme der
kommunalen Haushalte ergeben sich vor allem dann, wenn es zu dem vom
Deutschen Verein aufgrund einer Umfrage bei den überörtlichen
Trägern der Sozialhilfe befürchteten Anstieg der stationär
betreuten volljährigen behinderten Menschen von 162.000 zu Beginn
des Jahres 2002 auf 190.000 zu Beginn des Jahres 2007 kommt. Wenn (!)
es mit dem persönlichen Budget gelingt, stationäre Strukturen
signifikant zu beeinflussen oder längerfristig sogar abzubauen,
könnte hierdurch dem Kostenanstieg in der Eingliederungshilfe für
behinderte Menschen effizient entgegengewirkt werden.
Das SGB IX sieht das Instrument des persönlichen Budgets jedenfalls
grundsätzlich für alle Leistungen, also solche zur medizinischen
Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe am Leben
in der Gemeinschaft und für alle Gruppen von behinderten Menschen
vor. Es macht da keine Einschränkungen.
Im Rahmen der Gesamtreform der Sozialhilfe, die derzeit vorbereitet
wird und die grundsätzlich am 1. Januar 2004 in Kraft treten soll,
soll dem persönlichen Budget zum Durchbruch verholfen werden. Dazu
wird insbesondere auch geprüft, inwieweit ein trägerübergreifendes
Budget erreicht werden kann.
Zu diskutieren ist aus meiner Sicht, ob diese Vorgaben allein ausreichen,
um auch für das, was Sie in Ihrer Tagung „persönliche
Assistenz" nennen, durchgehend die „win-win-Situation"
durchzusetzen, von der das SGB IX ausgeht. Anders gefragt: Welche -
insbesondere organisations- und verfahrensrechtlichen - Vorgaben müssen
mit dieser Zielsetzung noch fortentwickelt werden?
„Rehabilitation vor Pflege und Assistenz", „ambulant
vor stationär" sowie „persönliches Budget"
sind jedenfalls aus meiner Sicht nach wie vor aktuelle Antworten auch,
wenn es um die Finanzierung persönlicher Assistenz geht, soweit
diese nicht - in Umsetzung des Benachteiligungsverbots - in den jeweiligen
Lebensbereichen geleistet wird. Sie alle zielen darauf ab, die begrenzten
finanziellen Ressourcen bereichs- und trägerübergreifend effizienter
einzusetzen und - auch für Aufgaben „persönlicher Assistenz"
- zu nutzen. Wir sollten im Interesse behinderter und von Behinderung
bedrohter Menschen unsere Kräfte zunächst darauf konzentrieren,
die durch das SGB IX geschaffenen Vorgaben und Möglichkeiten voll
zu nutzen. Solange diese Möglichkeiten und Vorgaben noch nicht
voll umgesetzt (und auf die Pflegeversicherung erstreckt) sind, sollte
man - auch unabhängig von aktuellen Finanznöten - mit Forderungen
nach weiteren gesetzlichen Änderungen, nach neuen Leistungsträgern
und nach neuen Institutionen behutsam umgehen.