Ambulant vor stationär - Alternativen für ein selbst bestimmtes Leben Behinderter Menschen
Tagung am 11. November 2005 in Coburg
Coburg (kobinet) Die Kampagne "Marsch aus den Institutionen - Reißt die Mauern nieder" hat in Coburg Station gemacht. Behinderte wollen mehr als nur eine "Satt und Sauber-Versorgung".
Rund 40 Interessierte fanden den Weg ins Coburger Kongresszentrum Rosengarten, um sich über die praktischen und rechtlichen Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens mit Behinderung zu informieren. Der Einladung der Behindertenselbsthilfe Coburg gefolgt waren Elke Bartz und Ottmar Miles-Paul vom Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen (ForseA e.V.), die die Kampagne initiiert und koordiniert hatten. Auf dem Podium nahm Susann Biedefeld, SPD-Landtagsabgeordnete, an der Diskussion teil.
"Behinderte wollen wie alle anderen auch am Leben in der Gemeinschaft teilhaben", erklärte Ihsan Özdil, Vorsitzender der Behindertenselbsthilfe, die einen ambulanten Dienst betreibt, in seiner Einführung. Der Dienst stellt schwerstbehinderten Frauen und Männern, die in Wohngemeinschaften leben, seine Leistungen rund um die Uhr zur Verfügung. Die Beschränkung auf "Satt und Sauber-Leistungen" reiche nicht aus, um ein menschenwürdiges und selbstbestimmes Leben zu führen. Er schilderte, wie schwierig es ist, bedarfsdeckende Leistungen in Coburg finanziert zu bekommen. Sein Dienst habe zwar seit Jahren die notwendigen Hilfen erbracht. Das sei aber nur möglich gewesen weil "die Mitarbeiter mitgezogen haben". Der örtliche Sozialhilfeträger orientiere sich jedoch fast ausschließlich an den MDK-Gutachten und berücksichtige kaum, dass diese nicht ausreichen würden.
Das bestätigte die ForseA-Vorsitzende Elke Bartz in ihrem Vortrag. "Die Pflegeversicherung ist schließlich in Art und Umfang nur eine Teilkaskoversicherung". Außerdem berichtete sie, dass in Deutschland derzeit ca. 2500 auf Assistenz angewiesene Menschen ihre Hilfeleistungen über das Arbeitgebermodell sichern. Andere würden ambulante Dienste bevorzugen. "Wichtig ist es Wahlmöglichkeiten zu haben, wie es im SGB IX gesetzlich verankert ist", meinte Bartz. Es dürfe nicht sein, dass behinderte Menschen aus Kostengründen in stationären Versorgungen gehalten oder darauf verweisen würden.
Ihsan Özdil hatte zuvor dargestellt, was selbstbestimmte Assistenz bedeute, nämlich selbst zu bestimmen, wer, wann, welche Hilfen wie erbringe. "Ich habe mir bei Ihsan Özdils Ausführung vorgestellt, hier würden nicht lauter behinderte Menschen sitzen, sondern er wäre versehentlich in einer Veranstaltung von Nichtbehinderten ‚gelandet' und hätte dort erzählt, was Selbstbestimmung beinhaltet. Vermutlich hätten ihm die Zuhörer nicht folgen können, denn für sie ist es eine Selbstverständlichkeit zu entscheiden, was sie essen, wie oft sie auf die Toilette und wann sie ins Bett gehen."
Susann Biedefeld stellte dar, welche gesetzlichen Änderungen es in der "Behindertenpolitik" zwischen 1998 dem Herbst 2005 gegeben hätte. Dabei verwies sie auf das Bundesgleichstellungsgesetz und das SGB IX als wichtige Meilensteine auf dem Weg zu einer gleichberechtigten Teilhabe. Außerdem sicherte sie den Teilnehmenden zu, im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch den Einzelnen bei auftretenden Problemen helfen zu wollen.
Eine Teilnehmerin schilderte ihre Erlebnisse aus der Kurzzeitpflege in einer stationären Behinderteneinrichtung. Sie wird normalerweise von ihrer Großmutter rund um die Uhr versorgt. Wegen eines Krankenhausaufenthaltes der Großmutter musste sie für einige Wochen in diese Einrichtung. "Wenn ich auf die Toilette musste, hieß es oft, ich wäre nur Gast. Erst kämen die Dauerbewohner an die Reihe. Ich müsste meine Ansprüche eben zurückschrauben". Noch immer unter diesen Eindrücken stehend war ihr klar, niemals in eine Einrichtung ziehen zu wollen. da ihre Großmutter sie aus Altersgründen nicht mehr länger versorgen kann, will sie demnächst ein Wochenende in einer Wohngruppe "probewohnen". Dann kann sie entscheiden, ob das ihre künftige Wohn- und Lebensform sein soll.
Ottmar Miles-Paul war an diesem Nachmittag als Moderator stark gefordert, da die zahlreichen Wortmeldungen und Nachfragen der Teilnehmenden das große Interesse am Thema bewiesen. Auch für ihn war das ein weiteres Indiz dafür, dass der "Marsch aus den Institutionen" weiter fortgeführt werden muss. hjr
Coburger Tagblatt, 12. November 2005
"Satt-Sauber-Methode" ist keine Lösung
Als behinderter Mensch selbstbestimmt leben: Konsequenter Ausbau ambulanter Unterstützungshilfen gefordert
COBURG
Einkaufen, auf die Toilette gehen, Arzt- oder Theaterbesuch - für Menschen mit Behinderung ist das keine Selbstverständlichkeit, wenn Sie ihr Leben selbstbestimmt meistern und nicht in einem betreuten Heim leben wollen. Ohne fremde Hilfe, die Assistenzleistungen rund um die Uhr geht es aber nicht. Aber wie lange noch ist dies gewährleistet? Mit dieser Thematik befasste sich gestern der 1984 gegründete Verein "Behindertenselbsthilfe Coburg" in einer Vortragsveranstaltung.
Grund seiner Sorge sind die „schleppende Behandlung" von Anträgen auf Assistenzleistungen und die Einschränkungen im Bereich der Eingliederungshilfen, Wie bei der Pressekonferenz im Kongresshaus verdeutlicht wurde. Elke Bartz, Vorsitzende des Forums selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen (ForseA), übte dabei heftige Kritik an der Stadt Coburg und dem Bezirk Oberfranken. Im Rahmen der Pflegeversicherung gewähre Coburg zwar die Leistungen, diese Summe decke aber bei weitem nicht den Bedarf für den Umfang und die Art der Leistung, Kernpunkt des Problems sei die überörtliche Regelung, die der Verein neben dem Lastenausgleich über den Bezirk Oberfranken fordere, damit die Stadt Coburg nicht einseitig belastet werde, bekräftigte der Vorsitzende der Coburger Behindertenselbsthilfe, Ihsan Özdil.
"Es genügt eben nicht, nach der Satt-Sauber-Methode vor dem Fernseher zu sitzen oder im Bett zu liegen bis zum nächsten Pflegeinsatz", verdeutlichte Elke Bartz das Missverhältnis. Die seit 30 Jahren durch einen Autounfall querschnittsgelähmte Frau weiß, wovon sie spricht: Bald habe sie erkannt, dass sie bei einer Heimunterbringung nicht glücklich werde, „Nach fünf Jahren zähen Ringens" mit Hilfe von Zivildienstleistenden habe sie es geschafft, auf eigenen Füßen zu stehen. Ihr Ziel, mit Assistenz selbstbestimmt leben zu können, habe sie erreicht. "Und Menschen mit psychischen oder geistigen Behinderungen können das auch". Mittlerweile gebe es 2500 Betroffene in Deutschland, die nach den Grundsätzen von ForseA leben. Zirka 160.000 Behinderte leben in Heimen. In seinem Referat machte Özdil deutlich, dass bis heute nicht geklärt ist, wer die Kosten für die ambulante Versorgung übernimmt. Die Frage, ob diese Finanzierung vom Bezirk auf die Kommunen übergehen solle, sei von 2005 auf 2006 verschoben worden. Ob es bei dem Termin bleibe, sei bis jetzt ungewiss, kritisierte der Vorsitzende und bedauerte, dass Staatssekretär Jürgen W. Heike, der aus Termingründen verhindert war, nach Coburg zu kommen, diese Frage gestern nicht beantworten konnte.
Ferner verwahrte sich Özdil gegen die Bezeichnung "Behindertentourismus", wie sie Anita Knochner geäußert habe. Bei ihrem Septemberbesuch in Coburg habe die bayerische Behindertenbeauftragte gemeint, dass Coburg durch die Schulen und Werkstätten auf Menschen mit Behinderung eine Magnetwirkung habe, was sich wiederum. negativ auf den Finanzhaushalt der Kommune auswirke. Wenn 150 Kilometer-Freifahrten m dem ASB-Dienst nur eingeschränkt benutzt werden dürfen, Anträge auf Assistenzleistungen nach Jahren der Prüfung erst beschieden und nach kurzer Zeit ohne Ausgleich wieder eingestellt werden, Widersprüche monatelang nicht beschieden würden und der Mobilitätsdienst der Bahn in Coburg seinen Service beenden will, sei die Teilhabe an der Gesellschaft für Behinderte, die selbstständig leben wollen, in Frage gestellt, befürchtet Özdil. Seine Forderung: eine bedarfsorientierte Versorgung, bestätigt durch unabhängige Gutachter und somit eine objektive Feststellung, die Tag und Nacht umfasst. "Wir wollen einen Überblick über die aktuelle Diskussion zur Organisation von persönlichen Hilfen für behinderte Menschen geben und aufzeigen, was wie und wo geht." lw
Termin: "Alt und abgeschoben", Buchvorstellung Claus Fussek, 14. Dezember, 15 Uhr, Kongresshaus
Neue Presse, Coburg, 12.November 2005
Verein Behindertenselbsthilfe
Satt und sauber ist nicht genug
Unter dem Motto: „Ambulant vor stationär - Alternativen für ein selbst bestimmtes Leben Behinderter" hat gestern der Verein Behindertenselbsthilfe Coburg im Kongresshaus für die Stärkung ambulanter Hilfen geworben. Die Veranstaltung fand im Rahmen der bundesweiten Kampagne „Marsch aus den Institutionen - Reißt die Mauern nieder" statt, die im vergangenen Jahr beim Berlin-Marathon gestartet wurde und mittlerweile Aktionen in 60 Städten vorweisen kann.
Coburg - „Viele Betroffene wollen nicht in Heimen leben. Deshalb müssen die ambulanten Unterstützungsangebote für diesen Kreis dringend und konsequent ausgebaut werden", skizzierte Elke Bartz als Vorsitzende des Forums selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen (ForseA) die aktuelle Situation. Sie und ihre Organisation setzen sich dafür ein, dass Betroffene statt der „Satt/Sauber-Methode" ihr Leben so leben können, wie sie das möchten. Ihren Angaben zufolge sind derzeit rund 160.000 Behinderte in Heimen oder sonstigen Einrichtungen untergebracht.
Bartz, seit einem Unfall im Jahr 1976 querschnittsgelähmt und auf Hilfe angewiesen, erläuterte als Alternative zum Heim unter anderem das so genannte „Arbeitgebermodell", das bundesweit etwa 2.500 Behinderte praktizieren. Dieses basiert auf dem Prinzip vom „Betrieb im eigenen Haushalt". Dabei stellt der Behinderte als Arbeitgeber mit regulären Verträgen Assistenzen ein, die ihm rund um die Uhr hilfreich zur Seite stehen und ihm so ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen.
Nach Ansicht von Ihsan Özdil prägen Ansätze wie persönliches Budget, persönliche Assistenz oder Arbeitgebermodell zunehmend die Behindertenarbeit und -politik. „Diese sind Ausdruck der Stärkung der Wunsch- und Wahlrechte behinderter Menschen, die vor allem im Sozialgesetzbuch IX vorgenommen wurden, aber auch eines zunehmenden Strebens Behinderter nach mehr Selbstbestimmung und Wahlfreiheit", konstatierte der Vorsitzende der Behindertenselbsthilfe Coburg. Aufzeigen, was wie wo und mit welcher Unterstützung geht, sei die Intention der Veranstaltung, sagte Özdil, dessen Verein seit 1984 zukunftsorientierte ambulante Serviceleistungen durch Pflegekräfte und Assistenzen in Coburg anbietet. Zurzeit werden zehn Behinderte auf diese Weise betreut. Dass das Konzept von vielen Nachahmern kopiert werde, freut den Vorsitzenden: Es ist eine alternative Möglichkeit, in einer Interessen-Wohngemeinschaft leben zu können.
„Die Stadt kürzt und verschleppt"
Doch die Freude ob der zahlreichen Lobeshymnen ist erheblich getrübt. Ihsan Özdil beklagte nicht nur die schleppende Bearbeitung von Eingliederungshilfen, sondern vor allem deren Kürzungen durch das Sozialamt. In vielen Fällen seien Hilfen eingestellt und Widersprüche auch nach einer mehr als neunmonatiger Wartezeit noch nicht behandelt worden. Ein Zustand, der laut Elke Bartz nicht geduldet werden darf. An die Adresse der Stadt Coburg sagte sie: „Man kann den Eindruck gewinnen, es wird billigend in Kauf genommen, dass der Dienst der Behindertenselbsthilfe irgendwann aus finanziellen Gründen die Arbeit einstellen muss." Wie die Pflegeversicherung nur einen Teil der Kosten abdecke, müsse der Träger der Sozialhilfe - im konkreten Fall also die Stadt - für Eingliederungshilfen aufkommen. Ihsan Özdil und der Verein leisten in Coburg „weit über ihre Pflichten hinausgehende Hilfe für Behinderte", resümierte Bartz und forderte in punkto Eingliederungshilfen von der Politik „klare Regelungen durch örtliche und überörtliche Behörden" ein.
Gerne hätten Bartz und Özdil diese Forderung Sozial-Staatssekretär Jürgen W. Heike bei der Podiumsdiskussion unter die Nase gerieben, doch der konnte aus terminlichen Gründen gestern nicht daran teilnehmen.
Bei der nächsten Veranstaltung des Vereins Behindertenselbsthilfe stellt Claus Fussek sein neues Buch „Alt und abgeschoben" am Mittwoch, 14. Dezember, von 15 bis 17 Uhr im Kongresshaus vor. cs