Protest von Schwerbehinderten
beim Marathon
Berlin (dpa/rbb) - Erstmals wollen schwerbehinderte
Menschen mit der Teilnahme am Berlin-Marathon an diesem Sonntag gegen
Einweisung in Pflegeheime demonstrieren. "Unter dem Motto 'Raus
aus den Institutionen' wollen wir unsere Leistungsfähigkeit öffentlich
dokumentieren und für Unterstützung in eigenen vier Wänden
werben", sagte der fast blinde Sprecher des Netzwerks Artikel
3, Ottmar Miles- Paul, am Donnerstag in Berlin. Ein selbstbestimmtes
Leben zu Hause sei viel billiger als die Unterbringung in Einrichtungen.
Deshalb organisiere das Netzwerk die ungewöhnliche Aktion. Teilnehmen
werden neben Miles-Paul u.a. der Bremer Sozialrichter und ehemalige
Leiter der nationalen Koordinierungsstelle Europäisches Jahr
der Menschen mit Behinderungen, Horst Frehe, in seinem Hand- Bike.
Auch die Leiterin des Bildungs- und Forschungsinstituts für Selbstbestimmtes
Leben, Gisela Hermes, will im Rollstuhl teilnehmen. Im Netzwerk Artikel
3 ringen 70 bundesweit tätige Institutionen um die Verwirklichung
des Satzes in Artikel 3 Grundgesetz: «Niemand darf wegen seiner
Behinderung benachteiligt werden.
dpa-Meldung vom 23.09.2004
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Aktuelles Interview mit Ottmar Miles-Paul,
Publizist
Ottmar Miles-Paul, freier Publizist (selbst schwer sehbehindert)
zur geplanten Abschaffung des Blindengeldes, zur Situation innerhalb
der Persönlichen Assistenz sowie zur Kampagne "Marsch aus
den Institutionen - Reißt die Mauern nieder".
Elke Bitterhof: "Ein Thema, das für Sie
als schwer Sehbehinderter und freier Publizist besonders interessant
ist, ist die geplante Streichung des Blindengeldes. Niedersachsen
ist der Vorreiter. Was ist da konkret zu erwarten?"
Ottmar Miles-Paul: "Das Blindengeld ist für
Blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen da, um Nachteile auszugleichen.
Das heißt z.B. sich jemanden zu holen, der einem vorliest, Haushaltshilfen,
ein Taxi nehmen zu können oder eine Begleitperson mit in den
Urlaub oder in der Freizeit nehmen zu können. Wenn das jetzt
gestrichen wird, dann fallen natürlich diese Hilfen weg. Für
Blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen heißt das, man
wird wieder mehr zu Hause sitzen. Wenn das Blindengeld gestrichen
wird, dann werden die Leute wieder abhängiger sein und müssen
vielleicht wieder in Heime ziehen, weil sie nicht selbstständig
leben können."
Elke Bitterhof: "Das heißt, der Nachteilsausgleich
fällt weg?"
Ottmar Miles-Paul:
"Der Nachteilsausgleich fällt weg. Es ist eine staatliche
Willkür, die hier stattfindet. Es findet eine Streichung nach
dem Rasenmäherprinzip statt. Man guckt nicht, ob das Sinn macht.
Damit werden blinden Menschen Chancen verbaut, am Leben wieder teilzunehmen,
die man jahrelang mühsam aufgebaut hat. Man wird arm gemacht,
es findet wieder Ausgrenzung statt. Das ist eine "Rolle Rückwärts"
in der Behindertenpolitik ersten Ranges."
Elke Bitterhof: "Die Behindertenpolitik ist
sehr aktiv. Anfang des Monats fand eine Tagung zur Thematik 'Persönliche
Assistenz in Europa' statt. Wie war das Ergebnis?"
Ottmar Miles-Paul: "Einerseits war das Ziel
der Tagung, dass man sich austauscht. Was passiert in acht verschiedenen
Ländern Europas? In Griechenland, wo im Moment die Paralympics
stattfinden, gibt es die persönliche Assistenz nicht. Behinderte
Menschen, die Hilfe benötigen, leben entweder bei ihren Eltern,
mit ihren Partnern, bekommen dort die Unterstützung oder müssen
in Heime ziehen. Das ist natürlich katastrophal. Auf der anderen
Seite haben wir im Norden Schweden. Dort wurde 1995 ein sehr gutes
Assistenzgesetz verabschiedet, wo behinderte Menschen, wenn sie es
benötigen, 24 Stunden Hilfe bekommen. Wo sie ihre Rolle als Väter
oder Mütter ausüben können, auch eigene Kinder haben.
Dort werden Heimplätze für behinderte Menschen abgebaut.
Dort leben behinderte Menschen in den eigenen Wohnungen. Hier in Deutschland
hängen wir irgendwo dazwischen."
Elke Bitterhof: "Ottmar Miles-Paul, Sie als
freier Publizist haben sich viel mit selbstbestimmtem Leben beschäftigt.
Es gibt Untersuchungen, wonach selbstständiges Wohnen mit Betreuung
durchschnittlich 16.000 € im Jahr kostet, ein Heimplatz hingegen
38.000 €. Warum müssen nach Informationen des Forums selbstbestimmter
Assistenz noch über 160.000 Menschen im Heim leben?"
Ottmar Miles Paul: "Das sind unheimlich viele,
wenn man sich das mal im internationalen Vergleich anschaut. In Deutschland
werden die Weichen in der Behindertenpolitik falsch gestellt. Die
Behinderteneinrichtung ist so etwas, wie eine abschüssige Einbahnstraße
mit Glatteis. Man kommt unheimlich leicht rein, aber fast nicht mehr
raus. Das ist in Deutschland so. Wir haben ein System von Behinderteneinrichtungen.
Da wird viel für Behinderte getan. Aber was getan wird, ist oft
nicht im Interesse der behinderten Menschen. Wir kämpfen darum,
dass sich das ändert."
Elke Bitterhof: "Eine Art von Kampf ist es,
auf die Straße zu gehen. Morgen fällt ein Startschuss für
eine ganz konkrete Aktion. Für welche?"
Ottmar Miles-Paul: "Das ist die Kampagne 'Marsch
aus den Institutionen - Reißt die Mauern nieder.' Einfach gesagt,
behinderte Menschen sollen die Möglichkeit bekommen, aus ihren
Heimen zu kommen. Wir starten mit der Aktion beim Berlin-Marathon.
Das heißt, sieben behinderte Menschen haben sich vorgenommen,
die 42 km auf sich zu nehmen. Sie wollen zeigen, wie schwierig es
manchmal in Deutschland ist, selbstbestimmt leben zu können.
Sie wollen aber auch zeigen, wir schaffen viel, wir wollen was erreichen.
Wir wollen andere mitreißen, mit uns dafür zu kämpfen,
dass behinderte Menschen so leben können, wie sie wollen. Das
heißt, in eigenen Wohnungen, in kleinen Gruppen und nicht in
Großeinrichtungen."
Elke Bitterhof: "Zum zweiten Teil der Aktion
haben Sie uns etwas mitgebracht. Der Titel heißt: 'Reißt
die Mauern nieder!"
Ottmar Miles-Paul: "Ich habe ein praktisches
Beispiel mitgebracht, das zeigt, dass vieles möglich ist, wenn
man es politisch will. Die evangelische Stiftung in Mönchengladbach
hat ihr Anstaltsgebäude, in dem über 1000 behinderte Menschen
gelebt haben, abgerissen. Das ist ein Stein des Bodelschwinghhauses.
Dieses Bodelschwinghhaus wurde letztes Jahr abgerissen. Jetzt werden
und wurden auch schon neue Wohnmöglichkeiten geschaffen. Dort
lebt man nun in kleinen Gruppen und in kleinen Wohnungen. Wir hoffen,
dass wir noch mehr solcher Steine von Einrichtungen bekommen, die
ihre Mauern niederreißen und neue Angebote aufbauen."
Elke Bitterhof: "Sie reden nicht nur über
den Marathon. Sie haben sich auch vorbereitet und werden morgen mitlaufen.
Haben sie richtig trainiert?"
Ottmar Miles-Paul: "Ich habe richtig trainiert.
Ich hoffe, ich schaffe es. Der Druck ist fast so groß wie bei
Olympia. Ich habe seit März fast 1000 Trainingskilometer hinter
mir. Mein Problem ist, dass ich die Süßigkeiten liebe.
Deshalb habe ich noch viele Pfunde zuviel. Aber ich gehe davon aus,
dass ich es schaffen werde. Der Druck ist groß."
Elke Bitterhof: "Sie dürfen mit 95% Sehbehinderung
nicht als erster durch das Ziel. Sie dürfen höchstens zweiter
werden."
Ottmar Miles-Paul: "Die Gefahr, dass ich als
erster durchkomme besteht nicht. Ich hoffe, ich kann dem Besenwagen
davonlaufen."
Elke Bitterhof: "Wir wünschen Ihnen viel
Erfolg für die Arbeit und natürlich morgen für den
Lauf."
MDR-Sendung Selbstbestimmt am 25.09.2004
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BERLIN-MARATHON
Behinderte unterwegs gegen Heimeinweisung
Berlin · 24. September · dah · Erstmals wollen
schwerbehinderte Menschen mit der Teilnahme am Berlin-Marathon an
diesem Sonntag gegen die Einweisung in Pflegeheime demonstrieren.
"Unter dem Motto ,Marsch aus den Institutionen' wollen wir unsere
Leistungsfähigkeit öffentlich dokumentieren und für
Unterstützung in den eigenen vier Wänden werben", kündigt
der fast blinde Ottmar Miles-Paul an, Sprecher der Vereinigung "Netzwerks
Artikel 3". Ein Leben zu Hause biete mehr Selbstbestimmung und
sei zudem billiger als die Unterbringung in Einrichtungen.
Teilnehmen wird etwa der Bremer Sozialrichter Horst Frehe mit seinem
Hand-Bike. Er leitete 2003 die Nationale Koordinierungsstelle zum
Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen. Auch die Leiterin
des Bildungs- und Forschungsinstituts für Selbstbestimmtes Leben,
Gisela Hermes, will im Rollstuhl mitfahren. Als Initiator wirbt das
Forum selbstbestimmter Assistenz für das Unterstützungsmodell
nach schwedischem Vorbild. Schwerstbehinderte Menschen erhalten dort
- trotz Sparzwang der Regierung - ein Budget, mit dem sie zu Hause
Hilfskräfte bezahlen können.
Frankfurter Rundschau, 25.09.2004
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Behinderte wollen bei Marathon für Selbstbestimmung
werben
Für das Selbstbestimmungsrecht behinderter Menschen werden
mehrere Verbände am Sonntag beim Berlin-Marathon werben. Damit
wolle eine Gruppe von Behinderten symbolisch aufzeigen, "wie
lange und schwierig der Weg oft für behinderte Menschen ist,
wenn sie statt in Behinderteneinrichtungen in der Gemeinde leben wollen",
kündigte das bundesweite "Forum selbstbestimmter Assistenz
behinderter Menschen" (ForseA) am Freitag in Berlin an. Die Aktion
eröffne zugleich eine bundesweite Kampagne. Sie fordert unter
dem Motto "Marsch aus den Institutionen - Reißt die Mauern
nieder" den Ausbau ambulanter Angebote und den Abbau stationärer
Einrichtungen. In Deutschland leben nach Angaben der Organisation
160 000 Behinderte in Einrichtungen, häufig noch in Doppel- und
Mehrbettzimmern. "Ein Leben in einer Behinderteneinrichtung bedeutet
in der Regel eine weitgehende Aussonderung vom Leben der Gesellschaft
sowie viele Zwänge und Einschränkungen der Individualität
und Intimsphäre", erklärte die ForseA-Vorsitzende Elke
Bartz. Deshalb organisiere das Netzwerk die ungewöhnliche Aktion.
Teilnehmen werden neben Miles-Paul u.a. der Bremer Sozialrichter und
ehemalige Leiter der Nationalen Koordinierungsstelle Europäisches
Jahr der Menschen mit Behinderungen, Horst Frehe, in seinem Hand-Bike.
Berliner Morgenpost, 25.09.2004
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„Mein Ziel? Durchhalten!"
Kasseler Rollstuhlfahrerin nimmt an einem Marathon in Berlin teil
Kassel. „Eigentlich bin ich ziemlich unsportlich", sagt
Gisela Hermes über sich selbst. Trotzdem wolle sie am Wochenende
die 42,9 Kilometer lange Strecke bezwingen und versuchen im Ziel anzukommen.
„Dafür habe ich hart trainiert", sagt sie.
Gisela
Hermes ist Rollstuhlfahrerin und nimmt am Sonntag an einem Marathon
teil, der der Beginn einer Kampagne ist, die sich für bessere
Versorgung behinderter Menschen einsetzt. Unter dem Motto „Marsch
gegen die Institutionen" werden an diesem Tag circa 20 000 Handbiker,
Rollstuhlfahrer und Jogger aus der ganzen Welt in Berlin an den Start
gehen, um sich für den Ausbau ambulanter Angebote für behinderte
Menschen sowie den Abbau stationärer Einrichtungen einzusetzen.
„Vorbereitet habe ich mich seit zwei Monaten", sagt Gisela
Hermes. Mehrmals wöchentlich habe sie auf dem Gelände der
Bereitschaftspolizei ihre Runden gedreht. „Manchmal war ich
kurz davor alles hinzuschmeißen", sagt sie. „Allerdings
habe ich ein Ziel und habe gelernt, wenn man lange genug für
eine Sache kämpft, erreicht man dieses auch irgendwann."
Während es für andere Sportler oft nur um die Platzierung
gehe, will Gisela Hermes einfach durchhalten. „Mir kommt es
auf den symbolischen Wert an", sagt die 45-Jährige. Sie
wolle mit ihrer Teilnahme zeigen, wie lang und schwierig der Weg für
behinderte Menschen ist, und was möglich ist, wenn sie die entsprechende
Unterstützung bekommen. „Das Schöne an dem Marathon
ist, dass ich genug Zeit haben werde, mir die Stadt anzuschauen",
sagt Gisela Hermes. Start und Ziel seien nahe des Reichstages und
die restliche Strecke ginge quer durch Berlin. „Das heißt,
eigentlich werde ich nur eine lange Stadtbesichtigung machen",
sagt sie. Weitere Informationen über die Kampagne gibt es im
Internet unter www.forsea.de
Hessische Niedersächsische Allgemeine
25.09.2004
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Behinderte und der "Marsch aus den Institutionen"
BERLIN (sar) Sieben behinderte Frauen und Männer hatten beim
Berlin-Marathon alle ihre Kräfte mobilisiert, um für den
Abbau stationärer Behinderteneinrichtungen zu werben.
Mit ihrer Teilnahme am Marathon starteten sie die Kampagne "Marsch
aus den Institutionen", die von einem Bündnis von Behindertenverbänden
getragen und vom Beauftragten der Bundesregierung für die Belange
behinderter Menschen unterstützt wird. "Alle Menschen, egal
mit welcher Behinderung, können ein selbstbestimmtes Leben in
einer eigenen Wohnung oder in einer betreuten Wohngemeinschaft führen",
so Dr. Gisela Hermes.
Die Wissenschaftlerin hatte sich mit ihrem Handbike zum ersten Mal
an einem Marathon beteiligt. Hermes verweist auf das Vorbild Schweden.
Dort seien beispielsweise Großeinrichtungen konsequent durch
ambulante Angebote ersetzt worden.
"In Deutschland leben über 160 000 Behinderte in Heimen
- und es werden immer mehr", sagte Ottmar Miles-Paul. Der sehbehinderte
Koordinator der Kampagne fordert Reformen. "Wenn es uns gelingt,
in dieser Frage zu einem Bewußtseins- und Politikwechsel beizutragen,
dann hat sich unsere heutige Schinderei gelohnt", sagte Miles-Paul,
als er nach fünf Stunden, 27 Minuten das Ziel am Brandenburger
Tor erreichte.
Ärzte Zeitung 29.09.2004
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Kampagne zum Leben Behinderter
außerhalb von Pflegeheimen
Mainz (dpa/lrs) - Behinderte wollen außerhalb der Mauern von Pflegeheimen besser in die Gesellschaft integriert werden. Das Mainzer Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen (ZsL) stellt daher am Dienstag eine Kampagne vor mit dem Titel: «Marsch aus den Institutionen - reißt die Mauern nieder». Dabei will der
Sprecher eines
Netzwerkes die bei einer Reise in den USA erprobten Möglichkeiten
eines
selbstbestimmten Lebens behinderter Menschen außerhalb von Heimen erläutern.
"In Deutschland leben mehr als 160 000 behinderte Menschen in
Behinderteneinrichtungen; Tendenz steigend", heißt es in
einer Mitteilung des Mainzer Zentrums. In anderen Ländern wie
Schweden sei es dagegen weitgehend gelungen, behinderten Menschen
ein Leben in der Gemeinde zu ermöglichen.
dpa-Meldung vom 8.11.2004
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Lieber daheim als im
Heim - Behinderte wollen schwedisches Modell in Deutschland
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Mit der Kampagne "Marsch aus den Institutionen - reißt die
Mauern nieder!" werben behinderte Menschen dafür, sie in ihrem
Zuhause zu unterstützen. Zum Welttag der Behinderten wenden sie
sich gegen die verbreitete Einweisung in Pflegeheime.
VON KEYVAN DAHESCH
Frankfurt a.M. · 2. Dezember · "Die Sozialleistungsträger
sollen das in Sozialgesetzbuch IX festgelegte Recht behinderter Menschen,
unter verschiedenen Hilfsformen zu wählen, endlich ernst nehmen",
begründet Elke Bartz die Aktion. Die Vorsitzende des Forums Selbstbestimmter
Assistenz (Forsea) kämpft für das Arbeitgebermodell nach
schwedischem Vorbild. Dort zahlt die Regierung - trotz Sparzwangs
- den auf Pflege angewiesenen Menschen monatlich ein Budget, mit dem
sie ihre Hilfskräfte selbst anstellen. Dort habe sich dies auch
bei Menschen mit schwersten Behinderungen bewährt, sagt Bartz.
Nach ihren Berechnungen könnten damit in der Bundesrepublik etwa
500 000 steuer- und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse
entstehen, weil manche Behinderte mehrere Teilzeitkräfte zur
Assistenz rund um die Uhr einstellen würden.
Die Bundesvereinigung Lebenshilfe verlangt Wohnplätze für
älter werdende Menschen mit geistiger Behinderung. Wenn diese
mit 60 Jahren aus den Werkstätten für Behinderte ausscheiden,
dürften sie nicht in Pflegeheime abgeschoben werden, sagt der
Lebenshilfe-Vorsitzende Robert Antretter. Er appelliert an Politiker
in Bund und Ländern, für die Betreuung dieser Menschen zu
sorgen: "Wer sich über die Euthanasiemorde der Nazi-Zeit
entrüstet und sie als diabolischen Ausbund jeglicher Menschenverachtung
geißelt, muss auch akzeptieren, dass es jetzt in Deutschland
zum ersten Mal Menschen mit geistiger Behinderung gibt, die 60 Jahre
und älter werden."
Als eklatanten Widerspruch zu ihren Bekundungen, das Leben schwerstbehinderter
Menschen zu erleichtern, werten die Blindenorganisationen die seit
drei Jahren immer weiter gekürzten Zuwendungen an nichtsehende
Menschen. "Ohne diese Hilfen fallen sie in eine gesellschaftliche
Isolation, aus der sie sich in den letzten Jahrzehnten mühsam
herausgearbeitet haben", klagt der Präsident des Deutschen
Blinden- und Sehbehindertenverbandes, Jürgen Lubnau. Das 1998
von der rot-grünen Bundesregierung versprochene Anti-Diskriminierungs-Gesetz
lässt indes weiter auf sich warten.
Frankfurter Rundschau vom 3.12.2004
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Ausbruch aus der eigenen Unmündigkeit
Behinderte und ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben/Referentin
stellt Arbeitgebermodell vor
Von Andreas Wende
Schwarzwald-Baar-Kreis. "Wir wollen keine sachgerechten, sondern
menschengerechte Angebote." Elke Bartz setzt sich mit Nachdruck
 und als Betroffene  für die Selbstbestimmung behinderter Menschen
ein. Sie sprach gestern als erste Referentin beim Selbsthilfetag im
Kreishaus auf dem Hoptbühl. Diakonisches Werk, Berufsakademie und
die Selbsthilfekontaktstelle im Landratsamt hatten eingeladen, damit
sich Behinderte austauschen und Menschen ohne Behinderungen Berührungsängste
abbauen konnten.
Seit 29 Jahren lebt Elke Bartz nach einem Autounfall als Querschnittsgelähmte
im Rollstuhl. Sie entspricht aber keineswegs den amtlichen Erwartungen.
»Mit einem behinderten Mann im eigenen Haus, das ist für die Verwaltung
etwas Besonderes. Meistens wird Behinderung mit Hilflosigkeit verbunden«,
sagt Bartz. Sie ist Gründerin des Vereins ForseA (Forum selbstbestimmter
Assistenz behinderter Menschen). In dieser Eigenschaft stellte Elke
Bartz gestern das so genannte Arbeitgeber- beziehungsweise Assistenzmodell
vor. In ihrem Haus kümmern sich drei von ihr angestellte Assistentinnen
rund um die Uhr um die behinderte Frau. "Jede arbeitet zehn Tage
lang, dann hat sie 20 Tage frei". Die Betreuer sind keine Fachkräfte
 "die wissen vielleicht, was nötig ist, aber nicht, was ich
brauche" Â und kosten, rechnet Elke Bartz vor, weniger als eine
stationäre Unterbringung. Ihre Assistentinnen haben Anspruch auf Urlaub
und Krankengeld, sie selber fungiert als Arbeitgeberin mit einem "Betrieb
im eigenen Haus". Gefunden hat sie ihre Angestellten über Anzeigen
oder das Internet. Argwöhnisch wird der "Marsch aus den Institutionen",
sprich der stationären Unterbringung, von den etablierten Pflegeinstitutionen
beobachtet. Dazu gebe es keinen Grund, sagt die Referentin. Sie wolle
lediglich das durchsetzen, was in Schweden bereits Realität sei. Dort
gebe es seit diesem Jahr keine stationäre Behandlung für Behinderte
mehr, alle lebten in selbstbestimmter Assistenz. Die Möglichkeiten
dafür auch in Deutschland zu schaffen, war am Abend eines von mehreren
Themen bei einer Podiumsdiskussion.
Schwarzwälder Bote 28.04.2005
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Die Barrieren im Kopf einreißen
Aktionstag behinderter Menschen - Podiumsdiskussion im Landratsamt
Behinderte Menschen wollen nicht bevormundet werden, sondern ein
weitgehend selbstbestimmtes Leben führen. Darauf machten sie im
Rahmen eines Aktionstages im Landratsamt aufmerksam. In einer Podiumsdiskussion
am Mittwochabend zeigten sie auf, wo hierbei die Probleme liegen und
welche Lösungsansätze es geben könnte
Schwarzwald-Baar
Von Roland Sprich
Menschen mit Behinderungen sind mehr oder weniger auf die Hilfe von
nicht behinderten Menschen angewiesen. Allerdings müsse die persönliche
Selbstbestimmung gewahrt bleiben. Hilfe nur da, wo sie notwendig ist,
lautet das einfache Credo. "Wer will schon so leben, wie es ein
anderer vorschreibt", verdeutlichte Stefan Göthling den
Zuhörern im gut gefüllten Sitzungssaal des Landratsamtes,
was es bedeutet, das tägliche Leben von jemand anderem vorgeschrieben
zu bekommen. "Sie würden sich wundern." Göthling
ist Geschäftsführer des Vereins People First, der sich für
Menschen mit Lernschwierigkeiten einsetzt. Die Bezeichnung "geistig
behindert" wird dort gar nicht gerne gehört. "Das ist
diskriminierend." Sie sehen sich als "Menschen mit Assistenzbedarf".
In der von Christa Lörcher, ehemalige Bundestagsabgeordnete und
mit Behindertenarbeit vertraut, moderierten Podiumsdiskussion diskutierten
auch Elke Bartz, Vorsitzende des Forums selbstbestimmter Assistenz
behinderter Menschen, kurz ForseA, sowie Michéle Godest vom
diakonischen Werk, Jürgen Stach vom Sozialamt und Werner Schaumann,
Mitglied des Arbeitskreises Selbsthilfegruppen.
Als größte Probleme bei der Selbstbestimmung behinderter
Menschen sehen die Betroffenen die "Barrieren im Kopf" der
nicht Behinderten. "Die können das sowieso nicht",
sei das schlimmste Urteil, das man über einen Behinderten fällen
könne, wenn es um deren selbstbestimmte Lebensführung gehe.
Im Umgang mit Behinderten gebe es sowohl innere als auch äußere
Hindernisse, sagte Michèle Godest vom diakonischen Werk. Sind
äußere Hindernisse beispielsweise hohe Bordsteinkanten,
an denen ein Rollstuhlfahrer scheitert, seien die inneren Hindernisse,
etwa die Angst der Begegnung, das Verdrängen aus Sicht der Nichtbehinderten
oder mangelndes Selbstvertrauen der Betroffenen. Allein die Anerkennung
einer Behinderung sei in der Gesellschaft nicht einfach. Werner Schaumann
vom Arbeitskreis Selbsthilfegruppen, von denen es im Kreis mehr als
100 gibt, verdeutlichte dies. "Einen Rollstuhl sieht jeder, aber
Tinnitus kann man nicht sehen."
Deutliche Worte fand Elke Bartz, wenn es um die Finanzierung geht.
Seit 1. Januar dieses Jahres ist der Landkreis für die Eingliederungshilfe
Behinderter zuständig, mit einem Etat von 20 Millionen Euro.
Bei der Frage, wie einem Behinderten ein möglichst selbstbestimmtes
Leben ermöglicht werden könne, dürfe nicht das Geld
im Vordergrund stehen, sagte Bartz. Sie forderte ambulante Unterstützung
im häuslichen Bereich so lange es geht. "Ein Heimplatz kostet
rund 80000 Euro, dafür bekäme man eine kleine Eigentumswohnung,
wo der Behinderte sein Leben selbst bestimmen kann", nannte Bartz
eines von zahllosen Beispielen, dass in der Gesellschaft ein Umdenken
erforderlich sei.
Insgesamt müsse sich die systematische Betrachtungsweise ändern.
Jürgen Stach vom Sozialamt ergänzte, dass hier innerhalb
des Landratsamtes eine Zäsur im Gange sei, die bisherigen Strukturen
aufzubrechen und neue Wege einzuleiten.
Mehrere Betroffene aus den Reihen der Zuhörer äußerten
sich außerdem zum Thema Barrierefreiheit. Abgesenkte Bordsteinkanten,
behindertengerechte Zugänge nicht nur zu öffentlichen Einrichtungen,
sondern auch im Einzelhandel, seien ein Beitrag zu einem selbstbestimmten
Leben. Und eines sei grundlegend wichtig: "Wir wollen ernst genommen
werden."
Konstanzer Südkurier, 29.04.2005
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Das eigene Leben selbst gestalten
Selbsthilfeorganisation WüSL feierte Geburtstag
Von unserem Mitarbeiter GIDEON ZORYIKU
GROMBÜHL "Zehn Jahre und immer noch nicht überflüssig!"
So selbstbewusst sieht sich der Würzburger Verein WüSL (Selbstbestimmt
Leben Würzburg). Und das, obwohl "wir eigentlich angetreten
waren, um uns überflüssig zu machen", scherzte Ulrich
Lorey bei der Jubiläumsfeier im Felix-Fechenbach-Haus. Schnell
fügte er hinzu: Die Rolle von WüSL werde trotz verbesserter
Gesetzeslage immer wichtiger.
Im Rahmen der Feierlichkeiten veranstaltete der Verein eine Podiumsdiskussion
zum Thema "Lieber daheim als im Heim". In einem Einführungsreferat
bezeichnete Jürgen Peters, Leiter einer evangelischen Beratungsstelle
in Düsseldorf, Heime als "totale Institutionen", in
denen den Bewohnern kaum Privatsphäre gewährt werde.
Das Leben der Menschen werde so massiv beeinflusst, dass selbstständiges
Leben und freie Entfaltung der Persönlichkeit auf der Strecke
blieben. Als Folge der fremdbestimmten Umstände erlebten sich
die Heimbewohner als arm, alt, krank und behindert.
Leiden unter Stigmatisierung
Dazu Jürgen Peters: "Sie sehen nicht die Möglichkeiten
und Chancen ihres Lebens, sondern leiden an den Einschränkungen,
Begrenzungen, Übergriffen und an der Stigmatisierung und öffentlichen
Darstellung, da ihnen die Verantwortung und die Fähigkeit abgesprochen
werden, das eigene Leben selbst zu gestalten."
Für den Psychologen, der für selbstständiges Wohnen
behinderter Menschen in Deutschland kämpft, ist eine solche Utopie
erreichbar: selbstständiges Wohnen für alle, unabhängig
von Art und Schwere der Behinderung, unterstützt durch Assistenzdienste,
die unabhängig wählbar nach individuellem Bedarf und nach
sozialen Erfordernissen und Wünschen sind.
Das ist allerdings ein langer Weg, zumal die in Heimen lebenden geistig
Behinderten nicht in die Selbstständigkeit drängen, wie
Cornelia Klett aus Erfahrung weiß. Dennoch fördert seit
geraumer Zeit das St.-Josefs-Stift in Eisingen, dessen Geschäftsführerin
Klett ist, die Selbstbestimmung der Bewohner, indem es Wohnformen
außerhalb der Einrichtung anbietet. Sie sprach von einem Gewinn
an Lebensqualität für die Betroffenen.
Für unterstütztes Wohnen
In diesem Zusammenhang sprach sich Prof. Christian Lindmeier von der
Universität Koblenz-Landau für eine umfassende Deinstitutionalisierung
des Wohnens geistig behinderter Menschen aus. So befürwortet
er ein unterstütztes Wohnen mitten in der Gemeinde.
Immer noch leben bundesweit über 160 000 Menschen in Sondereinrichtungen
mit weit reichenden Einschränkungen ihrer Grundrechte. Die meisten
könnten ambulant versorgt werden und selbstbestImmt in den eigenen
vier Wänden leben. Doch viele Eltern und gesetzliche Betreuer
sowie Pfleger und Erzieher glauben laut einer Umfrage, dass ein Heim
der richtige Platz für einen behinderten Menschen sei.
Diese allgemeine Einstellung hat nach Angaben von Elke Bartz vom ForseA
(Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen) zur Folge,
dass der Löwenanteil der von Sozialhilfeträgem bezahlten
Eingliederungshilfen für behinderte Menschen in den stationären
Bereich fließt. Dadurch werde die Eingliederungshilfe letztendlich
zur "Ausgliederungshilfe", kritisierte sie.
Dass nicht mehr ambulante Versorgung angeboten wird, führt Bartz
auf die wirtschaftlichen Zwänge zurück, denen die Einrichtungen
ausgesetzt sind. Da viele über zweckgebundene Darlehen mit einer
Laufzeit bis zu 30 Jahren finanziert würden, könne die Auflösung
der Heime für die Träger den wirtschaftlichen Ruin bedeuten.
Main-Post Würzburg vom 21.05.2005
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