"Mitten drin - Gleiche Chancen für Menschen mit Behinderungen"
lautete der Titel einer Fachtagung am 13. und 14. September 2004 in
Bad Kreuznach. Veranstaltet wurde sie von der Stiftung kreuznacher diakonie
mit Unterstützung des Landes Rheinland-Pfalz.
Rund
240 Teilnehmende konnten die Veranstalter verzeichnen. Sechs Beschreibungen
der Lebenssituationen behinderter Menschen aus verschiedenen Perspektiven
machten gleich zu Beginn deutlich, dass es eine spannende, weil kontroverse
Veranstaltung geben würde. In neun Arbeitsgruppen wurden verschiedene
Themen wie "Persönliche Budgets", "Weiterentwicklung
des Leistungsrechts", "Alternative Wohnkonzepte" und
„Aufbau von Netzwerken in der ambulanten Versorgung" behandelt.
Am zweiten Tag stellten Jan Albers aus den Niederlanden und Boel Ballke,
eine ehemalige schwedische Kommunalpolitikerin, die Lebens- und Arbeitssituationen
behinderter Menschen in ihren Heimatländern vor. Eine Podiumsdiskussion,
in der die unterschiedlichen Standpunkte nochmals deutlich wurden, rundeten
das Programm ab.
ForseA-Vorsitzende Elke Bartz war eine der Referentinnen. Sie
schildert ihre Eindrücke:
Schon
die ersten Referate machten deutlich, wie unterschiedlich die Interessenlagen,
sowohl der Referenten als auch der Teilnehmenden, waren. Malu Dreyer,
Staatsministerin des rheinland-pfälzischen Ministeriums für
Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit, sprach sich deutlich für
eine verstärkte Schaffung ambulanter Versorgungsstrukturen aus.
Sie sieht in den Persönlichen Budgets ein wichtiges Instrument,
behinderten Menschen mehr Wahlmöglichkeiten zu eröffnen und
Selbstbestimmung zu gewähren.
Landrat Karl-Otto Velten plädierte hingegen für die Schaffung
neuer Heimplätze, da diese kostengünstiger als eine ambulante
Versorgung seien und die kommunalen Kassen leer wären. In seinen
Beiträgen - auch im Rahmen der Podiumsdiskussion am zweiten Tag
- wurde nicht immer deutlich, ob er in seiner Funktion als Landrat oder
Vertreter der Lebenshilfe agierte.
Mit Kurt Donarsky, als Vater einer Heimbewohnerin, wurde wieder einmal
mehr deutlich, wo die Ängste Angehöriger liegen. Sie befürchten,
dass ihre Kinder nicht die notwendigen Hilfen und Unterstützung
außerhalb einer Einrichtung erhalten würden und deshalb in
Einrichtungen "sicherer" aufgehoben seien.
Dr. Ilka Sax-Eckes, Geschäftsführerin der heilpädagogischen
Einrichtung betonte die Notwendigkeit ihrer Einrichtung. Eine Heimwohnerin
befürchtete ebenfalls, dass schwerstbehinderte Menschen außerhalb
von Einrichtungen völlig unterversorgt und gesundheitsgefährdenden
Situationen ausgesetzt wären sowie vereinsamen würden. In
ihrem Beitrag wurde nicht deutlich, ob sie alle Hilfsalternativen zur
Assistenz und Unterstützung auch schwerstbehinderter Menschen kannte
und dennoch die stationäre Versorgung als für viele behinderte
Menschen notwendig ansah.
Daher wurde die Forderung von ForseA, separierende und vom Leben in
der Gemeinschaft isolierende Mauern abzureißen, von diesen Referentinnen
und Referenten abgelehnt.
Staatssekretär Dr. Richard Auernheimer hingegen plädierte
dafür, verkrustete Strukturen endlich aufzubrechen und dabei behinderte
Menschen unbedingt einzubeziehen. Trotz begrenzter Ressourcen, deren
Einsatz sinnvoll zu erfolgen habe, müssten die Bedürfnisse
behinderter Menschen und nicht ausschließlich die Kassenlagen
der Kostenträger im Vordergrund stehen.
Josef
Ströbl vom Netzwerk People first Deutschland stellte aus der Perspektive
von Menschen mit Lernschwierigkeiten dar, wie wichtig es ist, alle Angebote
zu kennen und Wahlmöglichkeiten zu haben. Für ihn war es -
auch aus eigenem Erleben heraus - klar, dass kaum ein Heimbewohner sagt,
ihm würde es ihm Heim nicht gefallen, um sich nicht unbeliebt zu
machen. Viele würden sich mit dem Heimleben lediglich arrangieren,
weil sie keine Alternativen dazu sähen. Zuvor hatte Landrat Velten
auf eine Umfrage verwiesen, nachdem der absolut überwiegende Teil
einer umfangreichen Umfrage unter Heimbewohnern ergeben hätte,
dass diese mit ihrer Wohnsituation zufrieden seien.
Zwar nicht für eine völlige Abschaffung institutioneller
Einrichtungen plädierte Jan Albers vom Vorstand der "Stichting
Evalidatie Limburg" - einer Rehaeinrichtung - in den Niederlanden.
Er sah ebenfalls den Einsatz persönlicher Budgets als wichtige
Voraussetzung der Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Hilfsangeboten
an.
Sehr viel konkreter wurde die Schwedin Boell Ballke, die mittlerweile
in Deutschland lebt. Die ehemalige Kommunalpolitikerin zeigt an den
Beispielen von drei behinderten Menschen auf, welche Hilfs- und Assistenzmöglichkeiten
es in Schweden gibt. Dabei stellte sich heraus, dass es für psychisch
Kranke noch keine ausreichenden Hilfsangebote gibt, während körperlich
oder so genannte geistig behinderte Menschen sehr gute Assistenz- und
Unterstützungsangebote nutzen können. In Deutschland entbrennt
die Diskussion gerade erst darüber, ob es stationäre Einrichtungen
noch geben muss. Währenddessen wird in Schweden - wo es quasi keine
Heimplätze für behinderte Menschen mehr gibt - bereits darüber
debattiert, ob Wohngruppen der Menschenwürde und den Bedürfnissen
gerecht werden, oder ob dies nur im individuellen Wohnen möglich
ist.
Die Tagung zeigte wieder einmal sehr deutlich die unterschiedlichen
Interessenlagen auf und wo Ängste genauso abzubauen sind wie separierende
Mauern.
Der lange Marsch aus den Institutionen hat gerade erst begonnen
und viele Mauern sind – noch – fest zementiert.