Dieses Essay hat der Deutschlandfunk in seiner sonntäglichen Sendereihe "Essay und Diskurs" am 4. Februar 2007 von 9.30 bis 10.00 Uhr ausgestrahlt. Wir veröffentlichen es mit freundlicher Genehmigung des Deutschlandfunks und des Autors Keyvan Dahesch. Eine Veröffentlichung in anderen Publikationen oder Medien ist nur mit vorheriger Genehmigung des Deutschlandfunks und des Autors Keyvan Dahesch möglich.
Bürgerrechte statt Almosen
Von Keyvan Dahesch
Als Anfang 1997 der damalige CDU/CSU-Bundestagsfraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble noch als Nachfolger von Helmut Kohl gehandelt wurde, titelte der Stern ein Interview mit ihm auf seinen Wunsch hin: „Ein Krüppel als Bundeskanzler?"
„Diese Frage muss man stellen", sagte der seit 1990 durch ein Attentat querschnittsgelähmte Politiker. „In Deutschland muss man diese Frage stellen", hätte er treffender sagen sollen. Denn in den USA beispielsweise waren beide Präsidenten mit dem Nachnahmen Roosevelt sichtbar schwer behindert: Theodore wegen Asthma deutlich geschwächt, Franklin D. durch Kinderlähmung sogar Rollstuhlfahrer.
Und in England galt der blind geborene Innenminister David Blankett als erfolgreichstes Mitglied im Kabinett von Tony Blair. Dass er trotzdem zurücktreten musste, hat nichts mit seiner schweren Behinderung zu tun, sondern mit Charakterschwächen. Auch in Schweden erwarb sich der blinde Sozialminister Bengt Lindqvist im In- und Ausland Ansehen. Deshalb haben ihn die Vereinten Nationen zu ihrem Behindertenbeauftragten berufen.
Im Vordergrund stehen in diesen Ländern anscheinend die Leistungen und Fähigkeiten der Menschen. Da spielt das Handicap eine untergeordnete Rolle. In Deutschland hingegen, wo jegliches Abweichen vom üblichen Typ als „nicht normal" angesehen und abgelehnt wird, werden Menschen mit Behinderungen als leistungsgemindert abgewertet, abgesondert und an den Rand gedrängt.
„Gefährdet ein geistig oder körperlich Kranker durch seinen Zustand seine Mitmenschen erheblich, so kann er in eine Anstalt eingewiesen werden." Dieser Satz stammt nicht aus einem Gesetz der Kaiser- oder Nazizeit. Er steht in Artikel 23 der Hessischen Landesverfassung von 1946 - und gilt bis heute.
Dass man heutzutage behinderte Menschen auch anders behandeln kann, dass es keine Krankheit gibt, die das Aus-dem-Verkehr-Ziehen von Menschen rechtfertigt, dass es heute gar keine „Irrenanstalten" mehr gibt, wie sie der Gesetzgeber damals im Sinn hatte, scheint niemanden zu stören. Die Einstellung zu körperlicher, geistiger und seelischer Behinderung ist in Deutschland noch immer von Missverständnissen und Ängsten bestimmt. Behinderte werden gesellschaftlich ausgegrenzt, es dominiert eine Haltung, die allein vom gesunden Menschen als „normal" ausgeht und jede Abweichung als Makel ansieht - allen anders lautenden Beteuerungen und Sonntagsreden zum Trotz.
In der Weimarer Republik wurden Menschen mit angeborenen oder durch Krankheit erworbenen Behinderungen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und in die bevormundende Fürsorge abgeschoben. Zur schlimmsten Konsequenz trieben die Nationalsozialisten diese Ausgrenzung mit ihren Erbgesundheitsgesetzen. Behinderte wurden zu „lebensunwerten" Menschen erklärt, zur Sterilisation gezwungen, gefoltert und in Konzentrationslagern ermordet.
Und nach dem Krieg? In Artikel 125 der Bayerischen Verfassung hieß es bis Februar 1998: „Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes." Erst auf hartnäckiges Drängen von Behindertenorganisationen und Kirchen wurde das Wort „gesunde" gestrichen.
Zu einer offiziellen Verurteilung der NS-Verbrechen an Menschen mit Behinderungen ist es bis zum heutigen Tag in der Bundesrepublik nicht gekommen. Die Ächtung und Aufhebung der NS- Erbgesundheitsgesetze „als Unrechtsakte von Anfang an", die von überlebenden Opfern verlangt wurden, fanden im Bundestag keine Mehrheit. Nach jahrzehntelangen unwürdigen Auseinandersetzungen haben Bundestag und Bundesrat 1998 die Gesetze lediglich „mit Wirkung für die Zukunft" aufgehoben.
Und obwohl den Müttern und Vätern des Grundgesetzes die schrecklichen Verfolgungen Behinderter durch Nationalsozialisten bekannt waren, schrieben sie nichts zum Schutz dieser Menschen vor Diskriminierungen in die Verfassung. Deshalb konnte es den Behinderten - im Gegensatz zu Skandinavien und den USA - in Deutschland lange Zeit nicht gelingen, ihre Interessen bei der Einrichtung von Gebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln durchzusetzen.
Über viele Jahre konnten beispielsweise die Rollstuhlfahrer die Bahn nicht benutzen, weil es keine geeigneten Abteile und Toiletten gab. Allenfalls im Gepäckwagen konnten sie mitfahren. Nach vielen Protestaktionen wurden einige wenige Züge mit behindertengerechten Abteilen und Toiletten angeschafft, doch in diese kommen Behinderte wegen fehlender automatischer Ein- und Ausstiegshilfen ohne fremde Hilfe nicht hinein und nicht heraus. Erst von 2008 an will die Bahn-AG Züge mit Rampen einsetzen, die man auf Knopfdruck ein- und ausfahren kann. Davon werden Eltern mit Kinderwagen ebenfalls profitieren.
Dass Barrieren behinderte Menschen oft daran hindern, ihre Fähigkeiten zu entfalten, war bis zum Regierungswechsel 1998 der Politik schwer zu vermitteln. Keiner von den Verantwortlichen in Bund, Ländern und Gemeinden kam auf die Idee, wie Kanada und Australien, öffentliche Gebäude und Verkehrsmittel so zu gestalten, dass sie für alle Menschen gleichermaßen erkennbar, erreichbar und benutzbar sind.
Bis 1974 konzentrierten die Bundes- und meisten Landesregierungen ihre Arbeit hauptsächlich darauf, die materiellen Nöte der Kriegsverletzten zu lindern. Gehandicapte Menschen, die der NS-Todesmaschinerie entgangen oder später geboren waren, übersah die Politik. Die Kriegsopferversorgung wurde zum Sozialen Entschädigungsrecht ausgebaut. Zu den wichtigsten berechtigten Gruppen gehören die Wehr-, Zivildienst- und Verbrechensopfer, Menschen, die durch eine vorgeschriebene oder öffentlich empfohlene Impfung geschädigt wurden, politische Häftlinge in der DDR und Deutsche als politische Häftlinge in den damaligen Ostblockstaaten.
Der Wunsch, der der NS-Euthanasie entgangenen oder nach 1945 mit Behinderungen geborenen, durch eine Krankheit oder einen Unfall Geschädigten, ihre materiellen Nachteile mit einer ähnlichen Regelung auszugleichen, sei unerfüllbar. Dies würde die öffentliche Hand überfordern, lautete die Begründung. So blieben sie ihren Angehörigen und privaten Hilfsorganisationen überlassen.
Als der Staat diese Menschen nicht länger als eine unbedeutende Minderheit vernachlässigen konnte, verankerte er die wenigen Hilfen für sie im Bundessozialhilfegesetz von 1962. Doch dorthin gehören sie nicht. Denn die größtenteils von Städten und Landkreisen finanzierte Sozialhilfe soll hauptsächlich vorübergehende Notlagen beheben. Für die gesellschaftliche Integration der Menschen mit Behinderungen sind aber dauerhafte Hilfen notwendig. Die Kosten dieser der Sozialhilfe aufgebürdeten gesamtgesellschaftlichen Aufgabe sind auch für die Finanznot der Kommunen verantwortlich. Sie sind nach Angaben des Geschäftsführers des Deutschen Städte und Gemeindebundes Gerd Landsberg zwischen 1991 und 2004 von vier auf elf Milliarden Euro im Jahr gestiegen.
Da die knapp bemessenen Einkommens- und Vermögensgrenzen des Sozialhilferechts die meisten behinderten Menschen von den Hilfen ausschlossen, riefen die sechs großen Wohlfahrtsverbände und das ZDF 1964 die „Aktion Sorgenkind" ins Leben, die das Geld für die Hilfen aus privaten Spenden und den Einnahmen einer Fernsehlotterie aufbringt. Ihren Namen änderte sie nach jahrelangen Protesten Behinderter, die sich mit Recht durch die Bezeichnung „Sorgenkinder" diskriminiert fühlten, im März 2000 in „Aktion Mensch".
Erst die sozial-liberale Bundesregierung unternahm von 1969 an ernsthafte Anstrengungen, Behinderte aus ihrem Schattendasein herauszuholen. Doch wurden ihre Vorgaben von der Ministerialbürokratie auf fragwürdige Art und Weise umgesetzt. Die Spitzenbeamten formulierten ihre Vorschläge ohne Rücksicht auf die Erfahrungen der Betroffenen, die sie wie Bittsteller von oben herab behandelten. So brachte das zum 1. Mai 1974 unter dem anspruchsvollen Titel beschlossene "Gesetz zur Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft - Schwerbehindertengesetz" kaum eine Verbesserung der konkreten Lebenssituation der Betroffenen. Es fehlten konkrete Vorschriften zur Beseitigung von Hindernissen im Alltag, die faktisch von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausschließen. Auch gab es keine definitiven Aussagen gegen berufliche und gesellschaftliche Diskriminierung. Gelähmte, gehörlose, mehrfach amputierte, blinde, geistig oder stark sehbehinderte Menschen, für die dieses Regelwerk vor allem gedacht war, profitierten von seinem Instrumentarium kaum.
Bis heute protestieren Menschen mit Behinderungen bei offiziellen Veranstaltungen. Das IX. Sozialgesetzbuch vom Juli 2000 ist zwar unter Beteiligung Behinderter entstanden und einmütig im Parlament beschlossen worden und enthält tatsächlich wirksamere Regelungen. Es wird aber nicht – wie vorgeschrieben - bürgerfreundlich und unbürokratisch angewendet.
Eine Wende zum Positiven brachte das von der Uno proklamierte „Weltjahr der Behinderten" 1981 ebenfalls nicht. Politiker, Behördenchefs, Gewerkschafts-, Arbeitgeber- und Sozialverbandsfunktionäre beweihräucherten sich und ihre Ideen. Jene, deren Fähigkeiten, Leistungen, Einsatzwillen, Probleme, Sorgen und Wünsche dieses Jahr den anderen bewusst machen sollte, sahen sich lediglich in die Rolle der Zuschauer und Zuhörer. Da platzte ihnen der Kragen. Sie protestierten bei offiziellen Veranstaltungen, ketteten sich an die Bühne, gründeten ein „Krüppeltribunal", beklagten ihre Lage und attackierten die „Behinderer". Seither kämpfen sie mit vielfältigen Aktionen fantasievoll für Bürgerrechte, Ausgleich materieller Nachteile, Gleichstellung und Gleichberechtigung in der Gesellschaft. Da ließ sich zum Beispiel ein Rollstuhlfahrer in Berlin-Lichtenberg mit einem Kran durch den Balkon in das Rathaus heben, damit er die Bürgersprechstunde besuchen konnte.
Unterstützt in ihrem Anliegen wurden sie bis 1998 nicht von den Behindertenbeauftragten der SPD- und Unions-Bundesregierungen; auch nicht von Wolfgang Schäuble, in den viele ihre Hoffnungen gesetzt hatten. Hilfe bekamen sie von den behinderten Regierungsvertretern der Präsidenten George Bush und Bill Clinton. Auf Reisen in der Bundesrepublik erläuterte der Rollstuhlfahrer Justin Dart, Behindertenbeauftragter beider Präsidenten, die Segnungen des weltweit als Vorbild geltenden US-Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetzes behinderter Menschen „The Americans with Disabilities Act" vom 26. Juli 1990. Seine konsequente Anwendung hat den rund 50 Millionen Menschen mit Behinderungen die Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen ermöglicht und dadurch jährlich bis zu 200 Milliarden Dollar zusätzlich in den Wirtschaftskreislauf gebracht.
Clintons Vizeministerin für Bildung und Rehabilitation, Rollstuhlnutzerin Judith Heumann, warb mit dieser Zahl für den Abbau von Barrieren und für gemeinsamen Kindergarten-, Schul- und Universitätsbesuch der Menschen mit und ohne Behinderungen. Die Tochter einer vor den Nazis aus Deutschland in die USA geflüchteten jüdischen Familie bedauerte die hierzulande bis zum Jahr 2000 verpönte Gebärdensprache, in der in Amerika sogar Vorlesungen gehalten werden, so dass Gehörlose ein höheres Bildungsniveau erreichen können. Damit leistete sie einen erheblichen Beitrag zur Anerkennung dieser Zeichensprache als offizielles Kommunikationsmittel gehörloser Menschen in Deutschland. Bei Obersten Behörden, Bundes- und Landesministerien vermisste Heumann im Gegensatz zu den USA Beschäftigte mit sichtbaren Behinderungen. Mit ihrem Hinweis, dass Amerika nach dem Krieg die blind und gehörlos aufgewachsene Hochschulabsolventin und Schriftstellerin Hellen Keller hinausgeschickt habe, damit sie als Botschafterin der Hoffnung für die Integration behinderter Menschen werbe, erntete sie nur Staunen.
Weder diese Argumente noch die von Frauen und Männern mit Behinderungen dokumentierten Diskriminierungen konnten die regierenden Unionsparteien für gesetzliche Maßnahmen erwärmen. Weil die CDU 1994 in der Verfassungskommission mit Nein stimmte, fehlte zuerst die notwendige Zweidrittelmehrheit für eine Ergänzung des Grundgesetzes um ein Diskriminierungsverbot behinderter Menschen. „Diese Vorschrift kann nicht verwirklicht werden und bedeutet Verfassungslyrik. Deshalb wollen wir sie nicht haben", so begründete der CDU-Politiker Rupert Scholz, Mitglied der Verfassungskommission, noch am 12. April 1994 im Frankfurter Presse-Club die Auffassung der Gegner. Erst die verschlechterten Umfragewerte der Unionsparteien vier Monate vor der Bundestagswahl 1994 führten bei Helmut Kohl zu einem Meinungswandel. Er wischte das ablehnende Votum seiner Freunde vom Tisch und half, folgenden Satz in Artikel 3, Grundgesetz aufzunehmen: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Zu konkreten Schritten, diese Vorgabe mit Leben zu füllen, hat aber wohl erst der Regierungswechsel 1998 die Bundestagsparteien bewogen.
Vollzieht sich schon in unseren Breitengraden der Wandel im Schneckentempo, so ist vor allem in den Entwicklungs- und Schwellenländern leider kaum eine Bewegung wahrzunehmen. Da haben das Weltjahr der Behinderten 1981, die gleichnamige Dekade 1982 – 1991, die Standards zur Schaffung von Chancengleichheit 1992 und der seit 1993 diesen Menschen gewidmete Welttag am 3. Dezember – allesamt einstimmig von der UNO-Vollversammlung beschlossen – nicht viel ausgerichtet. Im Gegenteil: die Zahl und das Elend der durch Kriege, Bürgerkriege, Mangel an Hygiene, Vitamin und medizinischer Versorgung behinderten Menschen in diesen Regionen werden schlechterdings größer.
Ein Vergleich der Situation in den westlichen Ländern zeigt, dass in den USA gehandicapte Menschen einklagbare Bürgerrechte haben, mit denen sie Barrieren abreißen können. Mit sozialen Zuwendungen und einer umfassenden Sozialversicherung für sie ist es allerdings nicht zum Besten bestellt. In der Bundesrepublik haben die Behinderten noch diese Leistungen, die in letzter Zeit wegen der Finanzmisere der öffentlichen Hand allerdings eingeschränkt wurden.
Trotz verfassungs-rechtlich garantiertem Benachteiligungsverbot und Gleichstellungsgesetzen in Bund und Ländern ohne Niedersachsen müssen sie aber um die Beseitigung von Hindernissen und Diskriminierungen ringen. Obwohl die Vorgaben öffentliche Institutionen unmittelbar binden, setzen sie diese sehr zögerlich um. So müssten die Internet-Seiten der Bundesministerien, Behörden und gesetzlichen Krankenkassen nach einer Übergangsfrist spätestens seit dem 1. Januar 2006 für Menschen mit und ohne Behinderungen gleichermaßen problemlos zugänglich sein. Das war nach Feststellung der Bundesbehindertenbeauftragten Karin Evers-Meyer bis Mitte September bei vielen nicht der Fall. Von 116 getesteten Web-Auftritten erfüllten nur 20 Prozent die vorgeschriebene Barrierefreiheit, erklärte die SPD-Bundestagsabgeordnete. Wenn schon die zur Verwirklichung der Verfassungs- und Gesetzesnormen Verpflichteten die von den Betroffenen zu ihrer Lebenserleichterung erkämpften Bestimmungen oft erst nach mehrfachem Mahnen umsetzen, müssen die schätzungsweise zehn Millionen gehandicapten Menschen im Zivilrecht mit allen möglichen Stellen um jede Hindernisbeseitigung ringen.
Deshalb verlangen sie, in das zur Umsetzung mehrerer EU-Richtlinien in nationales Recht notwendige Regelwerk gegen Diskriminierung aufgenommen zu werden. Das Ziel erreichten sie nach einigen Anläufen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 17. August 2006 verbietet die Diskriminierung der Menschen auch wegen ihrer Behinderung. Nun hoffen die Betroffenen, dass sie nicht länger wegen ihres Handicaps aus Restaurants und Läden gewiesen werden. Banken, Versicherungen, Reiseanbieter, Haus- und Wohnungsvermieter können Verträge mit ihnen nicht verweigern.
Ob vor dem „Weltjahr der Behinderten" oder nach der Verankerung des Benachteiligungsverbots von behinderten Menschen - mit ihren Entscheidungen haben die deutschen Gerichte bislang kaum zur Beseitigung von Mauern zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen beigetragen. Sie bewerteten die Anwesenheit von behinderten Menschen in Ferienhotels als „urlaubsfreudenmindernd" und sprachen den Klägern Schadensersatz zu. Sie bewerteten die Unterhaltung von geistig Behinderten nicht wegen ihrer Lautstärke als störend, sondern wegen ihrer Andersartigkeit - und erlauben nur eine zeitlich beschränkte Nutzung des eigenen Gartens. Sie wiesen die Klage eines Behinderten ab, der einen Zugang zum Rathaus seiner Stadt verlangte; es sei keine Benachteiligung, dass er nicht an Sitzungen des Stadtparlaments teilnehmen kann.
Und das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe lehnte es aus formalen Gründen ab, sich mit der als „Kölner Urteil" bekannt gewordenen Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln zu befassen, mit der die Richter – wie schon erwähnt – einer Gruppe geistig behinderter Menschen den Aufenthalt im eigenen Garten einschränkten. Leider haben die obersten Richterinnen und Richter wiederum aus formalen Gründen nicht die Frage beantwortet, ob blinde Frauen und Männer Schöffen sein dürfen oder nicht. Die Anrufung des Bundesverfassungsgerichtes hatte die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin den als Schöffen abberufenen Blinden und ihren Verbänden empfohlen.
Obwohl Häuser mit ebenerdigen Aufzügen, über schiefe Ebene erreichbare Läden, Bahnen und Busse mit automatisch ein- und ausfahrbaren Rampen oder stufen-losem Zugang neben Mobilitätsbeeinträchtigten auch kleinen Kindern und Müttern mit Kinderwagen den Alltag erleichtern würden, müssen Städteplaner, Architekten, Verkehrsbetriebe und Ladenbesitzer mühsam davon überzeugt werden. Geld-, Fahrkarten- und Getränkeautomaten, Telefone, Waschmaschinen, Kühlschränke, Gefriertruhen, Fernseh-, Radio- und andere Geräte, die ihre Funktionen auch ansagen, könnten blinde oder sehbehinderte Menschen ohne Hilfe bedienen. Die Hersteller müssten gegen geringe Mehrkosten lediglich einen Sprach-Chip einbauen.
Mit Tastenkombinationen, Kopf- und Fußmaus bedienbare Webseiten, deren Schriftgröße veränderbar, Grafiken und Links mit Text unterlegt sind, öffnen Blinden, Sehbehinderten, Gelähmten ebenfalls einen Zugang. Online-Dienstanbieter in den USA, die nach dem Gesetz ihre Internetseiten in dieser Form barrierefrei aufbereiten müssen, sparen pro Seite sogar 50 Kilo Bytes, betonen die Aktion Mensch und die Stiftung Digitale Chancen. Um auch hierzulande die Unternehmen zur Barrierefreiheit ihrer Internetangebote zu animieren, prämieren beide Organisationen die für alle Menschen problemlos benutzbaren Webseiten seit 2003 mit dem „BIENE-Preis". Der Name der Auszeichnung ist Programm: BIENE steht für „Barrierefreies Internet eröffnet neue Einsichten".
In Amerika haben die auf Pflege und Assistenz angewiesenen Menschen mit Unterstützung durch den obersten Bundesgerichtshof ihre Einweisung in Pflegeheime verhindert. Die Richter haben den Wohnkommunen aufgegeben, mit ambulanten Hilfen diesen Menschen das Verbleiben in den eigenen Vierwänden zu ermöglichen. In der Schweiz, wo die Bevölkerung in einer Abstimmung am 18. Mai des „Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen" 2003 gleiche Rechte für behinderte Menschen ablehnte, hat ein schwerstbehinderter Mann, dem die öffentliche Hand statt der Kosten der Hilfe und Assistenz zu Hause nur eine Heimunterbringung bezahlen wollte, in Bali politisches Asyl beantragt und bekommen. In der Bundesrepublik bevorzugen die Sozialhilfe und Pflegeversicherung ebenfalls den Heimaufenthalt. Deshalb streiten sich die Betroffenen, die in eigenen vier Wänden leben und ihre Hilfskräfte selbst als Arbeitgeber anstellen möchten, mit den Sozialämtern vor Verwaltungsgerichten. Aus diesem Grund lebt der in Los Angeles promovierte Soziologe Adolf Ratzka aus Bayern mit Frau und Tochter in Stockholm und nicht in seiner Heimat. Dem mit 17 an Kinderlähmung erkrankten Rollstuhl- und Atemgerätnutzer bezahlt Schwedens Regierung die Kosten für 18 Stunden Assistenz pro Tag. So kann der Gründer und Leiter des Stockholmer Instituts on Independent Living ein selbstbestimmtes Leben führen. Er beschäftigt neun Hilfskräfte, die in Teilzeitarbeit abwechselnd auch bei Geschäfts- und Urlaubsreisen unterstützen und seine Familie entlasten. „In Bayern würde man mich für meine Behinderung bestrafen: meine Frau könnte nicht arbeiten, sondern müsste für mich da sein; wir hätten den Lebensstandard von Sozialhilfeempfängern, weil wir zu meinen Assistenzkosten beitragen müssten; dazu noch die Furcht, ins Pflegeheim zu müssen, wenn sich die politische Lage verschlechtert", betont Ratzka.
Da die UNO-Aktionen die Lage der rund 40 Millionen gehandicapten Menschen kaum spürbar verbessert haben, proklamierten die EU-Regierungen 2003 zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen. Dem schlossen sich die übrigen Länder Europas ebenfalls an. Im Gegensatz zum UN-Jahr 1981 konnten diesmal die gelähmten, gehörlosen, blinden, seh-, körper- und geistig behinderten Menschen ihre Fähigkeiten und Probleme, ihre Sorgen und Wünsche selber darlegen. Insofern wurde das Europäische Jahr 2003 zumindest seinem Motto gerecht: „Nichts über uns ohne uns!"
Doch auch wenn die Behinderten deutlich machten, mit welchen Barrieren sie zu kämpfen haben und wie die Hindernisse beseitigt werden können; erreicht haben sie wenig. „Überall in der Europäischen Union sind Menschen mit Behinderungen mit Hindernissen konfrontiert, nicht nur bei der Stellensuche und dem Erhalt des Arbeitsplatzes, sondern auch bei der Suche nach geeigneten Verkehrsmitteln, dem physischen Zugang zu Gebäuden und Einrichtungen oder dem Zugang zu beruflichen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Erschwert ist darüber hinaus ihr Zugang zu Technologien, die ihnen eine umfassendere Integration am Arbeitsplatz und eine intensivere Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen könnten. Andere Hemmnisse beeinträchtigen die Freiheit der behinderten Bürger Europas, sich innerhalb der Union zu bewegen und in einem anderen Mitgliedstaat ihrer Wahl niederzulassen."
Das sind keine Klagelieder der Selbsthilfeorganisationen. Mit diesen und weiteren Aufzählungen haben die Staats- und Regierungschefs ihren Beschluss vom 30. Dezember 2001 zur Proklamation des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen 2003 begründet. Doch haben die wenigsten etwas zur Verringerung der treffend diagnostizierten Schwierigkeiten unternommen. „Der Abbau uralter Vorurteile kommt dem Bohren besonders dicker Bretter gleich", stellte die griechische EU-Sozialkommissarin Anna Diamantopoulou zum Ende des Behinderten-Jahres fest. Wie Recht sie hatte, zeigte sich bei den Paralympics, dem olympischen Sport-Wettbewerb der Menschen mit Behinderungen, in Athen. Bis kurz vor dem Beginn der Sommerspiele 2004 war es fraglich, ob die Veranstaltung wegen vieler Hindernisse wie hohe Bürgersteige, fehlende Leitstreifen, hörbare Ampelsignale, nicht kontrastreich markierte Gefahrenquellen, deutlich erkennbare Anzeigetafeln usw. dort stattfinden könnte.
Was die EU-Sozialkommissarin und Initiatorin des Behinderten-Jahres von anderen Staaten verlangte, hatte sie in ihrer Heimat nicht durchzusetzen vermocht. Damit die Wettkämpfe nicht in letzter Minute abgesagt werden, mussten doppelt und dreifach soviel Helferinnen und Helfer eingesetzt werden wie 1996 in Atlanta und 2000 in Sydney.
Im zusammenwachsenden Europa könnten die Staaten voneinander lernen und, was sich in einem Land bewährt hat, alle übernehmen. England hat durch die Überzeugungskraft des blinden Labour-Abgeordneten David Blunkett und seiner Fraktionskollegin, der Rollstuhlfahrerin Anne Begg nach dem US-Vorbild ein Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetz beschlossen. Zusammen mit der Reform der Sozialsysteme wird es den Menschen mit Behinderungen in wenigen Jahren die vollkommene berufliche und gesellschaftliche Integration ermöglichen, ist das Europäische Behindertenforum in Brüssel überzeugt. Im Forum sind die nationalen und europäischen Dachverbände der Selbsthilfeorganisationen zusammengeschlossen. Dessen Direktor Stefan Trömel lobt die Bundesrepublik für die Rehabilitationsleistungen und in Skandinavien den höheren Grad der Menschen- und Bürgerrechte gehandicapter Menschen.
In Österreich und der Schweiz kämpfen schwerstbehinderte Menschen – bislang ohne Erfolg - gegen Heimeinweisung und für das schwedische Arbeitgebermodell. Wie schon erwähnt, lehnten die Schweizer bei einer Volksabstimmung während des den Behinderten gewidmeten Jahres 2003 mit großer Mehrheit gleiche Rechte ab. Die Begründung der Gegner: „Bei gleichen Bürgerrechten bekommen Menschen mit Behinderungen kein Mitleid mehr." „Darauf möchten wir gerne zugunsten voller Menschen und Bürgerrechte verzichten", entgegneten die Mitglieder der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung.
Österreichs damaliger Bundeskanzler Wolfgang Schüssel hat als Mitunterzeichner der Proklamation des Behinderten-Jahres immer noch nicht die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Vorschriften eliminiert, die Menschen mit Behinderungen auch bei besten Leistungen „als körperlich nicht geeignet" von vielen Berufen ausschließen. So dürfen dort – im Gegensatz beispielsweise zu England, Italien und Deutschland - Blinde nicht Richter, Gehörlose nicht Gebärdensprachausbilder und Querschnittsgelähmte nicht Lehrer werden.
In der Bundesrepublik haben blinde Juristinnen und Juristen mehr Glück im Beruf. Zwei von ihnen mit ausgezeichneter Promotion haben in der Vergangenheit es bis zum Richter in oberste Bundesgerichte gebracht: der ohne Augenlicht aufgewachsene Hans-Eugen Schulze 1963 zum Mitglied des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe und der im Krieg erblindete Erwin Brocke 1982 zum Vizepräsidenten des Bundessozialgerichtes in Kassel. Zurzeit arbeiten 60 blinde Richterinnen und Richter mit hervorragenden Leistungen in allen Gerichtszweigen.
In Österreich dagegen hätten sie keine Chance, sich auch nur als Richter auf Probe zu bewehren. Im vorerst letzten traurigen Fall attestierte dort im September 2002 die Prüfungskommission der 29-jährigen blinden Juristin Andrea Zweibrot aus Kärnten die fachliche, aber nicht die körperliche Eignung für das Richteramt. Das Wiener Justizministerium verteidigte die Entscheidung mit der Begründung, eine blinde Richterin sei der Bevölkerung gegenüber nicht zu verantworten. Daran hat sich auch im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen nichts geändert. Vielleicht bedenken die Herrschaften in Österreich einen Ausspruch des deutschen Kriegsblinden Erwin Brocke. Nach seiner Berufung zum Vizepräsidenten des Bundessozialgerichtes in Kassel 1982 antwortete er auf die Frage eines Journalisten, ob jemand, der nicht sehe objektiv urteilen könne: „Sie wissen ja, die Richter müssen doch schwören, ohne Ansehen der Person zu entscheiden!"
Ein Hoffnungsschimmer für die schätzungsweise bis zu 650 Millionen schwer und schwerstbehinderten Menschen in der Welt könnte die seit 2001 von den Regierungen kontrovers verhandelte Konvention bedeuten. Das in der 8. Verhandlungsrunde am 25. August 2006 in New York erzielte Ergebnis hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 20. Dezember 2006 als „Menschenrechtskonvention behinderter Menschen" mit großer Mehrheit angenommen. Die Ratifikation durch die Mitgliedsstaaten würde diese völkerrechtlich verbindlich zu umfassender Hilfe für ihre behinderten Bürgerinnen und Bürger verpflichten. In der deutschen Delegation verhandelte die ohne Hände und Arme aufgewachsene promovierte Juristin, Professorin Theresia Degener aus Bochum.
Auf der Agenda der Behinderten-Verbände in Europa steht jetzt vor allem ein EU-weit geltender Schwerbehinderten-Ausweis. Und prinzipiell wird statt ausgrenzender Fürsorge die uneingeschränkte Teilhabe gefordert, statt abwertendem Mitleid Verständnis und völlige Gleichstellung, statt wohlmeinender Bevormundung das Recht auf Selbstbestimmung.
Ob diese Postulate 2007, das die Europäische Union zum „Jahr der Chancengleichheit für alle" ausgerufen hat, verwirklicht werden, darf nach den bisherigen Erfahrungen bezweifelt werden.