„Zu spät?"
oder
„Mehr Respekt für unsere Arbeit zu Lebzeiten?"
von
Ottmar Miles-Paul
Bundesgeschäftsführer
der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland - ISL e.V.
11. März 1999: Ein Tag, dessen Auswirkungen uns noch eine Weile
begleiten werden. Während die Sondersendungen über den überraschenden
und spektakulären Rücktritt von Oskar Lafontaine den Fernsehabend
bestimmten, wurde an diesem Tag von der Öffentlichkeit weitgehend
unbemerkt durch die Beerdigung von Ingolf Österwitz eine weitere
Persönlichkeit verabschiedet, die ebenfalls so manches in Bewegung
gebracht und sich den herkömmlichen Strukturen immer wieder mit
seinen Visionen einer gerechteren Welt entgegen gestellt hat. Obwohl
sich die beiden wahrscheinlich nie getroffen oder näher gekannt
haben, wirft der Rücktritt des ehemaligen SPD Vorsitzenden und
Bundesfinanzministers Oskar Lafontaine und der unerwartete Tod des langjährigen
Vorstandsmitglieds der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte
- BAGH - und für die Selbstbestimmung Behinderter engagierten Ingolf
Österwitz für mich eine Reihe von Fragen auf, über die
sich das Nachdenken hinsichtlich unseres Engagements und unseres Umgangs
miteinander lohnt.
Selbstverständlichkeiten, die keine sind
Während meine Reaktionen auf die Nachricht des völlig unerwarteten
Todes von Ingolf Österwitz vorwiegend von der Trauer über
den Verlust eines netten und herausfordernden Weggefährten in Sachen
Selbstbestimmung Behinderter geprägt war, kam bei mir jedoch auch
ein gewisser Ärger nicht zu kurz. Ärger über all diejenigen,
die sich keinen Deut darum scheren, was Leute wie Ingolf vermitteln
wollten und die weiterhin ihre aussondernden und zum Teil höchst
diskriminierenden Einrichtungen betreiben, mit denen sie häufig
noch gute Geschäfte machen. Ärger über Regierungen, PolitikerInnen
und Verwaltungsangestellte, die das vielfältige Engagement von
Ingolf und uns allen nie richtig und angemessen würdigten und häufig
gegen die Menschenrechte Behinderter agieren, aber vor allem auch Ärger
über mich selbst, daß ich Ingolf nur sporadisch für
sein Engagement dankte und nicht viel dafür tat, um ihn wieder
aufzurichten, wenn er selbst mal down war.
Obwohl ich über Ingolfs Aktivitäten stets sehr froh war und
mich bemühte, ihn dabei zu unterstützen, auch wenn er dies
für einen anderen Verband tat, war es nun zu spät, ihm all
das zu sagen, was er eigentlich für seine unermüdliche Arbeit
verdient hätte.
Die Reaktionen hinsichtlich des Rücktritts von Oskar Lafontaine
von seinen Ämtern waren demgegenüber weit breiter gefächert.
Diese reichten ebenfalls von der tiefen Trauer vieler seiner Anhänger,
über die öffentliche Anerkennung seiner Leistungen, es gab
auch viele höfliche Worte über ihn und natürlich all
die Spekulationen, warum er denn nun das Handtuch geworfen hat.
Interessant und ernüchternd fand ich jedoch die aufkeimenden Vorwürfe
gegenüber Lafontaine, daß man in einer solchen Position eine
besondere Verantwortung trägt und nicht alles so einfach hinwerfen
könne. Jemand wie Lafontaine müßte verantwortungsvoller
mit seiner Macht umgehen, hieß es.
Als jemand, der sich langjährig weit über die Grenzen des
herkömmlichen beruflichen und ehrenamtlichen Engagements für
die Gleichstellung und Selbstbestimmung Behinderter stark gemacht hat
und weiß, welchen Aufwand und welcher Energie es bedarf, sich
laufend der Öffentlichkeit zu stellen, stets Lösungsmöglichkeiten
für Probleme parat zu haben und ständig gefordert zu sein,
irgend welche Konflikte zu lösen, Optimismus zu verbreiten oder
mit destruktiver Kritik umzugehen, hatte ich bereits kurz nach der Meldung
des Rücktritts von Lafontaine vollstes Verständnis und sogar
eine gewisse Hochachtung für diesen Schritt. Verständnis habe
ich vor allem deshalb, weil ich mir entgegen der herkömmlichen
Pauschalurteile über PolitikerInnen gut vorstellen kann, wie viele
Opfer ein Leben als Spitzenpolitiker mit sich bringt,
welche persönlichen Einschnitte damit verbunden sind, was dies
für das Privatleben bedeutet und welche persönlichen Demütigungen
man hierfür manchmal einstecken muß. Hochachtung habe ich
vor allem deshalb, daß jemand wie Lafontaine für sich und
sein Privatleben persönliche Konsequenzen gezogen hat, die deutlich
gemacht haben, daß ein solches Engagement, wie er es an den Tag
gelegt hat, nicht selbstverständlich ist und nicht alle Menschen
vom bloßen Machterhalt und -ausbau geprägt sind. Möge
dieser untypische Schritt Lafontaines dazu beitragen, daß ein
bißchen mehr Respekt vor dem Engagement der anderen in die Politik
und die Gesellschaft einzieht und sich die Erkenntnis breiter macht,
daß nicht alles selbstverständlich ist, was andere für
uns tun.
Für einen neuen Geist der gegenseitigen Unterstützung
Ereignisse,
wie der Tod eines Mitstreiters oder der Rücktritt einer führenden
Persönlichkeit bieten immer eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten
vom Verdrängen, über Depressionen bis zum Ärger über
sich selbst und andere. Wenn die Ereignisse des 11. März 1999 und
der Tod von Ingolf Österwitz einen kleinen Beitrag dazu leisten
können, daß wir uns einmal etwas Zeit nehmen und bewußter
darüber werden, daß das Engagement der anderen nicht selbstverständlich
ist, sondern daß wir für jede und jeden dankbar sein müssen,
die sich für unsere Sache stark machen, könnte dies einen
kleinen Teil des schweren Verlustes wieder gutmachen, den wir an diesem
Tag erlitten haben. Auch wenn es zwischenzeitlich vielleicht etwas in
Vergessenheit geraten oder dem Druck des Alltags gewichen ist, stellt
diese gegenseitige Unterstützung über Behinderungs- und Verbandsgrenzen
hinaus einen zentralen Bestandteil der Selbstbestimmt Leben Philosophie
dar. Während viele politische Entscheidungen zur Zeit von uns häufig
lediglich am Rande beeinflußt werden können, liegt die Art
und Weise unseres gegenseitigen Umgangs und unserer gegenseitigen Stärkung
in unseren eigenen Händen bzw. Füßen - packen
wir´s an, solange wir´s noch können.