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"Zu spät?" oder "Mehr Respekt zu Lebzeiten"

Archiv - INFORUM 2/1999

„Zu spät?"

oder

„Mehr Respekt für unsere Arbeit zu Lebzeiten?"

von
Ottmar Miles-Paul
Bundesgeschäftsführer
der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland - ISL e.V.

11. März 1999: Ein Tag, dessen Auswirkungen uns noch eine Weile begleiten werden. Während die Sondersendungen über den überraschenden und spektakulären Rücktritt von Oskar Lafontaine den Fernsehabend bestimmten, wurde an diesem Tag von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt durch die Beerdigung von Ingolf Österwitz eine weitere Persönlichkeit verabschiedet, die ebenfalls so manches in Bewegung gebracht und sich den herkömmlichen Strukturen immer wieder mit seinen Visionen einer gerechteren Welt entgegen gestellt hat. Obwohl sich die beiden wahrscheinlich nie getroffen oder näher gekannt haben, wirft der Rücktritt des ehemaligen SPD Vorsitzenden und Bundesfinanzministers Oskar Lafontaine und der unerwartete Tod des langjährigen Vorstandsmitglieds der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte - BAGH - und für die Selbstbestimmung Behinderter engagierten Ingolf Österwitz für mich eine Reihe von Fragen auf, über die sich das Nachdenken hinsichtlich unseres Engagements und unseres Umgangs miteinander lohnt.

Selbstverständlichkeiten, die keine sind

Bild: Ingolf Österwitz 1997 in Gartow/Elbe Während meine Reaktionen auf die Nachricht des völlig unerwarteten Todes von Ingolf Österwitz vorwiegend von der Trauer über den Verlust eines netten und herausfordernden Weggefährten in Sachen Selbstbestimmung Behinderter geprägt war, kam bei mir jedoch auch ein gewisser Ärger nicht zu kurz. Ärger über all diejenigen, die sich keinen Deut darum scheren, was Leute wie Ingolf vermitteln wollten und die weiterhin ihre aussondernden und zum Teil höchst diskriminierenden Einrichtungen betreiben, mit denen sie häufig noch gute Geschäfte machen. Ärger über Regierungen, PolitikerInnen und Verwaltungsangestellte, die das vielfältige Engagement von Ingolf und uns allen nie richtig und angemessen würdigten und häufig gegen die Menschenrechte Behinderter agieren, aber vor allem auch Ärger über mich selbst, daß ich Ingolf nur sporadisch für sein Engagement dankte und nicht viel dafür tat, um ihn wieder aufzurichten, wenn er selbst mal down war.

Obwohl ich über Ingolfs Aktivitäten stets sehr froh war und mich bemühte, ihn dabei zu unterstützen, auch wenn er dies für einen anderen Verband tat, war es nun zu spät, ihm all das zu sagen, was er eigentlich für seine unermüdliche Arbeit verdient hätte.

Die Reaktionen hinsichtlich des Rücktritts von Oskar Lafontaine von seinen Ämtern waren demgegenüber weit breiter gefächert. Diese reichten ebenfalls von der tiefen Trauer vieler seiner Anhänger, über die öffentliche Anerkennung seiner Leistungen, es gab auch viele höfliche Worte über ihn und natürlich all die Spekulationen, warum er denn nun das Handtuch geworfen hat.

Interessant und ernüchternd fand ich jedoch die aufkeimenden Vorwürfe gegenüber Lafontaine, daß man in einer solchen Position eine besondere Verantwortung trägt und nicht alles so einfach hinwerfen könne. Jemand wie Lafontaine müßte verantwortungsvoller mit seiner Macht umgehen, hieß es.

Als jemand, der sich langjährig weit über die Grenzen des herkömmlichen beruflichen und ehrenamtlichen Engagements für die Gleichstellung und Selbstbestimmung Behinderter stark gemacht hat und weiß, welchen Aufwand und welcher Energie es bedarf, sich laufend der Öffentlichkeit zu stellen, stets Lösungsmöglichkeiten für Probleme parat zu haben und ständig gefordert zu sein, irgend welche Konflikte zu lösen, Optimismus zu verbreiten oder mit destruktiver Kritik umzugehen, hatte ich bereits kurz nach der Meldung des Rücktritts von Lafontaine vollstes Verständnis und sogar eine gewisse Hochachtung für diesen Schritt. Verständnis habe ich vor allem deshalb, weil ich mir entgegen der herkömmlichen Pauschalurteile über PolitikerInnen gut vorstellen kann, wie viele Opfer ein Leben als Spitzenpolitiker mit sich bringt, welche persönlichen Einschnitte damit verbunden sind, was dies für das Privatleben bedeutet und welche persönlichen Demütigungen man hierfür manchmal einstecken muß. Hochachtung habe ich vor allem deshalb, daß jemand wie Lafontaine für sich und sein Privatleben persönliche Konsequenzen gezogen hat, die deutlich gemacht haben, daß ein solches Engagement, wie er es an den Tag gelegt hat, nicht selbstverständlich ist und nicht alle Menschen vom bloßen Machterhalt und -ausbau geprägt sind. Möge dieser untypische Schritt Lafontaines dazu beitragen, daß ein bißchen mehr Respekt vor dem Engagement der anderen in die Politik und die Gesellschaft einzieht und sich die Erkenntnis breiter macht, daß nicht alles selbstverständlich ist, was andere für uns tun.

Für einen neuen Geist der gegenseitigen Unterstützung

Ereignisse, wie der Tod eines Mitstreiters oder der Rücktritt einer führenden Persönlichkeit bieten immer eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten vom Verdrängen, über Depressionen bis zum Ärger über sich selbst und andere. Wenn die Ereignisse des 11. März 1999 und der Tod von Ingolf Österwitz einen kleinen Beitrag dazu leisten können, daß wir uns einmal etwas Zeit nehmen und bewußter darüber werden, daß das Engagement der anderen nicht selbstverständlich ist, sondern daß wir für jede und jeden dankbar sein müssen, die sich für unsere Sache stark machen, könnte dies einen kleinen Teil des schweren Verlustes wieder gutmachen, den wir an diesem Tag erlitten haben. Auch wenn es zwischenzeitlich vielleicht etwas in Vergessenheit geraten oder dem Druck des Alltags gewichen ist, stellt diese gegenseitige Unterstützung über Behinderungs- und Verbandsgrenzen hinaus einen zentralen Bestandteil der Selbstbestimmt Leben Philosophie dar. Während viele politische Entscheidungen zur Zeit von uns häufig lediglich am Rande beeinflußt werden können, liegt die Art und Weise unseres gegenseitigen Umgangs und unserer gegenseitigen Stärkung in unseren eigenen Händen bzw. Füßen - packen wir´s an, solange wir´s noch können.

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