Archiv - INFORUM 3/1999
Bürgerrechte statt Almosen
Allen Sonntagsreden zum Trotz: Behinderte Menschen werden in Deutschland
gesellschaftlich ausgegrenzt
von Keyvan Dahesch
erschienen in der Wochenzeitung DIE ZEIT Nr. 32 vom 5. August 1999
(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Autor und Zeitung, für
die wir uns sehr herzlich bedanken)
„Gefährdet ein geistig oder körperlich Kranker durch
seinen Zustand seine Mitmenschen erheblich, so kann er in eine Anstalt
eingewiesen werden." Der Satz stammt nicht aus einem Gesetz der
Kaiser- oder Nazizeit. Er steht in Artikel 23 der Hessischen Landesverfassung
von 1946 - und gilt bis heute. Dass man heutzutage behinderte Menschen
auch anders behandeln kann, dass es keine Krankheit gibt, die das Aus-dem-Verkehr-Ziehen
von Menschen rechtfertigt, dass es heute gar keine „Irrenanstalten"
mehr gibt, wie sie der Gesetzgeber damals im Sinn hatte, scheint niemanden
zu stören. Die Einstellung zu körperlicher, geistiger und
seelischer Behinderung ist in Deutschland noch immer von Missverständnissen
und Ängsten bestimmt. Behinderte werden gesellschaftlich ausgegrenzt,
es dominiert eine Haltung, die allein vom gesunden Menschen als „normal"
ausgeht und jede Abweichung als Makel ansieht - allen anders lautenden
Beteuerungen und Sonntagsreden zum Trotz.
In der Weimarer Republik wurden Menschen mit angeborenen oder durch
Krankheit erworbenen Behinderungen an den Rand der Gesellschaft gedrängt
und in die bevormundende Fürsorge abgeschoben. Zur schlimmsten
Konsequenz trieben die Nationalsozialisten diese Ausgrenzung mit ihren
Erbgesundheitsgesetzen. Behinderte wurden zu „lebensunwerten"
Menschen erklärt, zur Sterilisation gezwungen, gefoltert und in
Konzentrationslagern ermordet. Und nach dem Krieg? In Artikel 125 der
Bayerischen Verfassung hieß es bis Februar 1998: „Gesunde
Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes." Erst auf hartnäckiges
Drängen von Behindertenorganisationen und Kirchen wurde das Wort
„Gesunde" gestrichen.
Zu einer offiziellen Verurteilung der NS-Verbrechen an Menschen mit
Behinderungen ist es bis zum heutigen Tag in der Bundesrepublik nicht
gekommen.
Die Ächtung und Aufhebung der NS- Erbgesundheitsgesetze „als
Unrechtsakte von Anfang an", die von überlebenden Opfern
verlangt wurden, fanden im Bundestag keine Mehrheit. Nach jahrzehntelangen
unwürdigen Auseinandersetzungen haben Bundestag und Bundesrat 1998
die Gesetze lediglich „mit Wirkung für die Zukunft"
aufgehoben. Und obwohl den Müttern und Vätern des Grundgesetzes
die schrecklichen Verfolgungen Behinderter durch Nationalsozialisten
bekannt waren, schrieben sie nichts zum Schutz dieser Menschen vor Diskriminierungen
in die Verfassung. Deshalb konnte es den Behinderten - im Gegensatz
zu Skandinavien und den USA - in Deutschland lange Zeit nicht gelingen,
ihre Interessen bei der Einrichtung von Gebäuden und öffentlichen
Verkehrsmitteln durchzusetzen. Ãœber viele Jahre konnten beispielsweise
die Rollstuhlfahrer die Bahn nicht benutzen, weil es keine geeigneten
Abteile und Toiletten gab. Allenfalls im Gepäckwagen konnten sie
mitfahren. Nach vielen Protestaktionen wurden einige wenige Züge
mit behindertengerechten Abteilen und Toiletten angeschafft, doch in
diese kommen Behinderte wegen fehlender automatischer Ein- und Ausstiegshilfen
ohne fremde Hilfe nicht hinein und nicht heraus.
„Man ist nicht behindert, man wird behindert"
Nach dem Krieg konnten die „Zivilbeschädigten" im Windschatten
der „Kriegsversehrten" viele Vorurteile widerlegen. Von
einer Fernsehlotterie wurden sie indes zu „Sorgenkindern"
degradiert. Sie müssen immer wieder beweisen, wie gut sie arbeiten,
welche unglaublichen sportlichen Erfolge sie erzielen, wie nützlich
sie für die Gesellschaft sind. Behinderte Menschen kämpfen
gegen Hindernisse, Bevormundung und Ausgrenzung an; die Gebärdensprache,
in der an einer Universität in den USA sogar Vorlesungen gehalten
werden, wird Gehörlosen hierzulande immer noch als amtlich anerkanntes
Kommunikationsmittel vorenthalten. Blinde Menschen dürfen nicht
Schöffen werden, Menschen mit geistiger Behinderung nicht - wie
in Skandinavien üblich - Verträge zu ihren Gunsten abschließen.
Sie arbeiten für einen Lohn von 240 Mark oder weniger pro Monat
in speziellen Werkstätten. Staatliche Leistungen für Behinderte
sind größtenteils auf die Schaffung von Sonderschulen, separierten
Arbeitsplätzen und eigenen Erholungsheimen angelegt.
Eine integrierende Politik würde stattdessen - wie seit Jahren
in den USA und Skandinavien praktiziert - dafür sorgen, dass Menschen
mit und ohne Behinderungen gemeinsam aufwachsen, Kindergärten,
Schulen, Universitäten besuchen, eine Berufsausbildung absolvieren,
Urlaub machen, Sport treiben und arbeiten. Denn - so sagte es Altbundespräsident
Richard von Weizsäcker -: „Was im Vorhinein nicht ausgegrenzt
wird, muss hinterher auch nicht eingegliedert werden!" Die Regierungen
Schmidt, Kohl und Schröder haben nicht wie die Präsidenten
Bush und Clinton Betroffene, sondern Menschen ohne Behinderungen zu
Behindertenbeauftragten berufen. Auch dies werten viele Behinderte als
eine bevormundende und sie nicht als gleichberechtigte Partner anerkennende
Politik.
Nach der Wiedervereinigung wurde von Bundestag und Bundesrat eine Verfassungskommission
eingesetzt. Seit Jahren kämpften Selbsthilfeorganisationen darum,
den Schutz von Behinderten im Grundgesetz zu verankern, und so schlugen
sie vor, in Artikel 3 Absatz 3 die Gründe, derentwegen niemand
benachteiligt oder bevorzugt werden darf (bisher wegen ihrer Herkunft,
Rasse, Sprache oder Religion), um den Tatbestand der Behinderung zu
erweitern. Die materiellen Zuwendungen sollten durch Bürgerrechte
ergänzt werden.
Weil die CDU 1994 in der Verfassungskommission mit Nein stimmte, fehlte
zuerst die notwendige Zweidrittelmehrheit. „Diese Vorschrift kann
nicht verwirklicht werden und bedeutet eine Verfassungslyrik. Deshalb,
wollen wir sie nicht haben", begründete der CDU-Ko-Vorsitzende
der Verfassungskommission, Rupert Scholz, die Auffassung der Gegner.
Helmut Kohl persönlich sorgte dann - kurz vor der Bundestagswahl
- dafür, dass die Union ihren Kurs änderte. So wurde zum 27.
Oktober 1994 der Satz: „Niemand darf wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden" in das Grundgesetz aufgenommen.
Sehr gebessert hat sich die Lage der schätzungsweise zehn Millionen
betroffenen Menschen dadurch immer noch nicht. So schlossen sich 1997
die Selbsthilfeverbände unter der Schirmherrschaft von Roman Herzog
zur Aktion Grundgesetz zusammen, um die Verwirklichung der neuen Verfassungsnorm
zu erreichen. Motto: „Man ist nicht behindert - man wird behindert!"
Denn, so die 104 Trägerorganisationen, die Realität in Deutschland
ist noch meilenweit vom Verfassungspostulat entfernt. Parlamente, Verwaltungen
und Gerichte, die diese Norm unmittelbar bindet, haben bislang kaum
darauf reagiert. So musste zum Beispiel der Berufsberater des Arbeitsamtes
in Frankfurt am Main Rat suchende Schüler einer Körperbehindertenschule
in ihrem Bus vor dem Amt aufsuchen, weil die Behörde für Rollstuhlfahrer
unzugänglich ist.
Auch die viel gelobte Pflegeversicherung fördert Ausgrenzung: Pflegebedürftige
Menschen, die ihre Pflegekräfte selbst anlernen und als Arbeitgeber
anstellen, bekommen in der höchsten Stufe dafür von der Pflegeversicherung
nur 1300 Mark im Monat. Nehmen sie hingegen die Dienste ambulanter Pflegeanbieter
in Anspruch, was zu täglich wechselnden Pflegekräften führen
kann, gibt es mehr als doppelt so viel Geld. Ist zudem die Pflege in
Heimen billiger als zu Hause, brauchen die Sozialhilfeträger nur
die günstigeren Heimkosten zu übernehmen. Damit werden die
Betroffenen aus Kostengründen faktisch aus ihrer eigenen Wohnung
gedrängt. Die contergangeschädigte Theresia Degener, die ohne
Arme und Hände aufgewachsen ist, in Frankfurt am Main und Berkeley
Jura studiert, mit den Zehen ihre Doktorarbeit getippt hat und als Professorin
an der Fachhochschule in Bochum lehrt, wurde wiederholt aus Lokalen
gewiesen, weil sie mit den Füßen isst. In Amerika würde
ein Gastwirt, der so etwas wagte, mit einer saftigen Geldstrafe belegt.
Mit ihren Entscheidungen haben die deutschen Gerichte bislang kaum zur
Beseitigung von Mauern zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen
beigetragen. Sie bewerteten die Anwesenheit von behinderten Menschen
in Ferienhotels als „urlaubsfreudenmindernd" und sprachen
den Klägern Schadensersatz zu. Sie bewerteten die Unterhaltung
von geistig Behinderten nicht wegen ihrer Lautstärke als störend,
sondern wegen ihrer Andersartigkeit - und erlauben nur eine zeitlich
beschränkte Nutzung des eigenen Gartens. Sie wiesen die Klage eines
Behinderten ab, der einen Zugang zum Rathaus seiner Stadt verlangte
- es sei keine Benachteiligung, dass er nicht an Sitzungen des Stadtparlaments
teilnehmen kann.
Einen Etappensieg im Kampf gegen Barrieren „in den Köpfen"
haben die Behinderten am 9. Juni erreicht, als die Deutsche Behindertenhilfe
die Umbenennung der Aktion Sorgenkind in Aktion Mensch beschloss. Dadurch
werden Behinderte nicht mehr als Sorgenkinder abgestempelt, sondern
als Menschen mit Rechten und Leistungen herausgestellt. Ihre Situation
in Arbeit, Beruf und Gesellschaft wird sich aber erst dann entscheidend
bessern, wenn der Gesetzgeber - wie in den USA mit dem The Americans
with Disabilities Act - Diskriminierungen benennt und ihre Beseitigung
innerhalb bestimmter Fristen vorschreibt. Dort hat laut Judith Heumann,
Rollstuhlfahrerin und stellvertretende Ministerin für Bildung und
Rehabilitation, die dadurch möglich gewordene Teilhabe von Menschen
mit Handicaps am gesamtgesellschaftlichen Leben Milliarden Dollar zusätzlich
in den Wirtschaftskreislauf gebracht.
Vielleicht muss man ja wirklich mit Geld argumentieren und nicht
mit Recht oder Moral.