Die Würde des Menschen darf angetastet werden !?
von Elke Bartz
Diese Behauptung ist weder abwegig noch zynisch noch polemisch. In
ihrer Menschenwürde verletzt fühlen sich zwei behinderte Schwestern,
Isolde und Elke Hauschild aus Leipzig. Ich behaupte, sie fühlen
sich nicht nur so; sie wurden in ihrer Würde verletzt.
Eine Richterin, die sich anscheinend nicht einmal richtig in die Akte
eingearbeitet hat, entscheidet über den Grundbedarf und die Lebensqualität
zweier Menschen, mit deren Situation sie sich in keiner Weise korrekt
auseinandergesetzt hat.
Ich selbst habe an der Verhandlung leider nicht teilgenommen. Die Schilderungen
der beiden Schwestern und deren Rechtsanwaltes sind jedoch absolut glaubwürdig.
Die Schwestern neigen weder zur Ãœbertreibung, noch sind sie in
ihren Aussagen unsachlich. Das Ergebnis der Gerichtsverhandlung spricht
für sich. Auch der Rechtsanwalt bestätigte in einem Telefonat
die Schilderungen von Isolde und Elke Hauschild.
Die Schwestern beantragten das ArbeitgeberInnenmodell bei ihrem zuständigen
Sozialamt in Leipzig, da die Versorgung durch ihre Mutter krankheits-
und altersbedingt nicht mehr gesichert war. Das Sozialamt lehnte den
Antrag ab.
Wegen der Dringlichkeit wurde eine Einstweilige Anordnung beim zuständigen
Verwaltungsgericht beantragt. Dieser wurde stattgegeben. Seit Mitte
Dezember beschäftigen Isolde und Elke Hauschild ihre AssistentInnen.
Im Vorfeld sollten sie ermitteln, ob nicht ein ambulanter Dienst ihre
Versorgung ausreichend und kostengünstiger (als das ArbeitgeberInnenmodell)
sichern könnte. Auch das Sozialamt bemühte sich, einen solchen
Dienst zu finden. Dies gelang nicht.
Daher gingen sowohl die Schwestern als auch ihr Rechtsanwalt im Bewusstsein
in die Verhandlung, dass diese wohl in wenigen Minuten vorüber
sein würde.
Schließlich stand als einzige Versorgungsmöglichkeit nur
das ArbeitgeberInnenmodell zur Verfügung. Nach fast zweistündiger
Verhandlungsdauer verließen sie das Gericht mit dem Gefühl,
Schmarotzer der Gesellschaft und Almosenempfänger ohne Anspruch
auf ein gleichberechtigtes Leben in der Gesellschaft zu sein.
Die Richterin ihrerseits war vermutlich, ohne die Akte (genau) zu kennen,
ebenfalls im Bewusstsein einer schnellen Entscheidung in die Verhandlung
gegangen. Es erweckte den Eindruck, sie erwartete, dass ein (zumindest
nach ihrer Meinung) geeigneter ambulanter Dienst die Assistenz (kostengünstig)
übernehmen würde.
Einerseits berief sie sich ständig auf das Gutachten des MDKs,
um zwischendrin zugeben zu müssen, sie wisse nicht, wer der MDK
sei. In diesem Gutachten steht, dass beide Schwestern über einen
außergewöhnlich hohen Pflegebedarf verfügen und eine
Wiederholungsbegutachtung nicht stattfinden müsse. Das heißt,
selbst der MDK zweifelt nicht daran, dass der Hilfebedarf sich nicht
reduzieren wird.
Nun wäre nach menschlichem Ermessen die logische Schlussfolgerung,
die Kostenübernahme für das ArbeitgeberInnenmodell anzuordnen.
Das scheint jedoch nicht im Sinne der Richterin gewesen zu sein, denn
plötzlich zweifelte sie, ob der seit Jahren feststehende Assistenzbedarf
tatsächlich der Realität entspräche.
Ihre Sachkunde bewies sie unter anderem mit der Frage, ob die Schwestern
mit Hilfe von Krücken laufen könnten. Weiterhin war sie sehr
verblüfft darüber, dass der nächtliche Hilfebedarf lediglich
aus mehrmaligem Umlagern sowie mehrmaligen Hilfen bei Toilettengängen
besteht. Hatte sie erwartet, des nachts würden dreigängige
Menüs gekocht und der Hausputz getätigt?
Die Module aus der Pflegeversicherung – die das BSHG im übrigen
so gar nicht anwenden darf – erschienen ihr als zeitlich völlig
angemessen. Schließlich habe sie schon öfters einer Körperpflege
zugesehen (nur leider nicht bei den beiden Schwestern). Ständig
berief sie sich auf die begrenzten Leistungen der Pflegeversicherung,
anscheinend verwechselnd, es hier mit dem Verwaltungs- und nicht dem
Sozialrecht und dem BSHG mit seiner Bedarfsdeckung zu tun zu haben (während
sie nach Gutdünken jedoch die anerkannten Zeiten und den anerkannten
Hilfebedarf ignorierte).
Weiterhin mussten sich die Schwestern anhören, es sei zumutbar:
- eine Stunde warten zu müssen, wenn sie auf die Toilette müssen,
- nachts eine Stunde warten zu müssen, wenn sie wegen Schmerzen
umgelagert werden wollen,
- erst mittags zu frühstücken, wenn nur eine Assistentin
eingesetzt wird und die Assistenz der Schwestern nacheinander so lange
dauert, dass sie erst zur Mittagszeit angezogen, gewaschen etc sind,
- lediglich einmal wöchentlich das Haus in Begleitung von Assistentinnen
verlassen zu dürfen zum Einkaufen, spazierengehen, Kino- und
Freundebesuchen und allen anderen außerhäusigen Aktivitäten
(ubrigens, selbst einem Strafgefangenen steht der tägliche Hofgang
zu!).
- in voller Bekleidung (Mantel etc.) warten zu müssen, wenn
sie mehr als einmal in der Woche das Haus verlassen wollen, ein Fahrdienst
sie in die Stadt bringt und ein (von der Richterin angestrebter) ambulanter
Dienst sie schon eine Stunde vorher ankleidet.
Von der Vorsitzenden und auch von einer beisitzenden Richterin bekamen
sie einige Mal mehr oder weniger deutlich zu hören, sie würden
auf Kosten der Gesellschaft leben und daher Einschränkungen hinnehmen
müssen. Dies stellt eine absolute Diskriminierung dar. Schließlich
wollen die Schwestern kein Luxusleben auf Kosten anderer führen,
sondern lediglich ihren Hilfebedarf decken.
Geradezu als Hohn erscheint das zumal, da beide Schwestern einen außergewöhnlichen
Pflegebedarf haben und beide rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen sind.
Dennoch haben sie bei der Beantragung des ArbeitgeberInnenmodells genau
überlegt, ob sie tatsächlich jede zu jeder Zeit eine eigene
Assistentin beantragen sollen. Sie kamen zu dem Schluss, sich täglich
17 Stunden eine Assistentin zu „teilen", obwohl das natürlich
mit Einschränkungen verbunden ist, denn so können sie nur
in den sieben Stunden, in denen zwei Assistentinnen anwesend sind, etwas
unabhängig voneinander unternehmen. Sie haben also ihre Bedürfnisse
auf das absolut notwendige eingeschränkt und folglich keine zeitliche
„Manövriermasse" bei der Verhandlung einzusetzen gehabt.
Sie wollten Rücksicht nehmen und nicht mehr Leistungen beantragen,
als sie zwingend notwendig brauchen. Doch nun wurde ihre Ehrlichkeit
ihnen zum Verhängnis. Ein Schlag ins Gesicht!
Eine der besitzenden Richterinnen fragte zudem, ob die beiden schwerstbehinderten
Schwestern überhaupt einen Schwerbehindertenausweis hätten
und ob das „B" für Begleitung dort eingetragen sei.
Als diese erwiderten, auch das „H" für hilflos stünde
in den Ausweisen, ließ sie sich den von Elke Hauschild zeigen.
Die Vorsitzende Richterin weigerte sich weiterhin, eine Entscheidung
zu treffen, bevor ihr ein Gutachten zur Ermittlung des Hilfebedarfs,
das sie in Auftrag geben wollte, vorläge. Die Einwände des
Rechtsanwaltes, der auf drohende Unterversorgung hinwies, da die Schwestern
nicht über genügend Einkommen und Vermögen verfügen,
um die Assistenzkosten eine gewisse Zeit vorzufinanzieren, interessierte
sie nicht. Selbstverständlich hat der Anwalt eine erneute Einstweilige
Anordnung beantragt. Die Schwestern können nicht das Risiko eingehen,
die Assistentinnen zu verlieren, weil sie die Löhne nicht auszahlen
können.
Schon fast pervers ist die Tatsache, dass es in der Verhandlung eigentlich
nicht um die Feststellung des Umfangs des Hilfebedarfs ging (der schon
seit vielen Jahren feststeht), sondern um die Deckung des Bedarfs.
Der „Fall" Isolde und Elke Hauschild beweist den menschenverachtenden
Umgang mit Behinderten, die auf Nachteilsausgleiche angewiesen sind.
Es ist für die Geschwister persönlich ungeheuer belastend,
spiegelt aber auch deutlich den Stellenwert behinderter Menschen wider.
Glücklicherweise gibt es auch RichterInnen, die Gesetze ihrem Sinn
entsprechend anwenden und behinderte Menschen wie Antragsteller und
nicht wie Schmarotzer behandeln.
Wir wünschen Elke und Isolde Hauschild einen Gutachter, der ihre
Situation richtig einschätzt und der Richterin verdeutlicht, dass
ein rund-um-die-Uhr-Bedarf täglich 24 Stunden beinhaltet.