Schließt die Anstalten für Menschen mit Lernschwierigkeiten
Alle können in der offenen Gesellschaft leben
Von Karl Grunewald
Ehemals Leiter des Büros für Behindertenfragen im schwedischen
Reichsamt für Gesundheit und Wohlfahrt, Stockholm (2003)
Aus dem Schwedischen übersetzt von Klaus Janes
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und
Rechten geboren" (UN 1949)
Eine Gesellschaft, die ihre behinderten Mitbürger diskriminiert,
ist eine behinderte Gesellschaft.
Menschenrechte sind nur dann menschlich, wenn sie für
alle gelten.
Karl Grunewald, MD, Professor, Vesslevägen 12, S-13150 Saltsjö-Duvnäs,
Schweden
karl.grunewald@swipnet.se
Menschenrechte sind nur dann menschlich, wenn sie für alle gelten.
Die menschenfreundliche Sichtweise auf die Maßnahmen für
Menschen mit geistiger Behinderung, (besser: Menschen mit Lernschwierigkeiten)
wurden in den 20-er Jahren des vorigen Jahrhunderts durch die Ideen
der Rassenhygiene über minderwertes Leben ersetzt. Das System von
Anstalten wurde ausgebaut und die Menschen mit Lernschwierigkeiten wurden
zunehmend von der Gesellschaft isoliert.
In der gesamten westlichen Welt wurden umfassende Zwangssterilisierungen
durchgeführt und in den vom Nationalsozialismus beherrschten Ländern
außerdem eine große Anzahl von Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten ermordet.
Niemand war im selben Ausmaß Ziel von Freiheitsbeschränkungen
und Ãœbergriffen auf Grund von Vorurteilen wie Menschen mit Lernschwierigkeiten.
Obwohl die Menschenrechte auch für Personen mit Beeinträchtigung
gelten, wird es immer noch als normal betrachtet, sie von der Gesellschaft
abzusondern und sie in spezielle Anstalten zu verweisen.
Die Anstalten stellen heute einen letzten Rest an kollektiven und
vergangenen Ideologien dar, welche der Gesellschaft die Macht und das
Recht gaben, gewisse Menschen auszusortieren und deren Freiheit, Einfluss
und Lebensbedingungen zu begrenzen.
Es hat sich erwiesen, dass keine Person mit Beeinträchtigung
in einer Anstalt wohnen muss, wie groß die ursprüngliche
Schädigung auch immer sein mag.. Und noch wichtiger: So wie andere
auch in der offenen Gesellschaft zu wohnen führt zu einer besseren
Persönlichkeitsentwicklung und zu einem gehobenen persönlichen
Wohlbefinden.
In Schweden und Norwegen sind alle Anstalten für Personen
mit Lernschwierigkeiten abgeschafft worden.
Verhaltensstörungen haben sich verringert oder sind verschwunden
in einem Ausmaß, das niemand voraussehen konnte. Vorurteile sind
gegenstandslos geworden, die Solidarität mit Personen mit Lernschwierigkeiten
hat sich erweitert und die humanistischen Kräfte in der Gesellschaft
wurden gestärkt. Irgendwelche Nachteile mit gemeindenahem Wohnen
haben sich nicht gezeigt. Darüber hinaus ist es auf Sicht auf Grund
der guten Resultate auch ökonomisch vorteilhafter.
Das Recht, so wie andere auch zu wohnen, ist deshalb heute eine politische
Frage.
- Niemand würde sich aussuchen, in einer Anstalt zu wohnen, so
wie das viele Menschen mit Lernschwierigkeiten tun müssen.
- Niemand würde sich aussuchen, getrennt von seinen Angehörigen
und ohne sozialen Zusammenhang der offenen Gesellschaft zu wohnen.
- Niemand würde sich aussuchen, sein ganzes Leben von Personen
abhängig zu sein, die man nicht selbst ausgewählt hat.
Psychische Folgen des Wohnens in Anstalten
Es gibt umfassende Forschungsergebnisse über die psychischen
Folgen des Wohnens in Anstalten. Allgemein gilt, dass die negativen
Effekte kleiner sind, je moderner und je kleiner die Anstalt ist. Aber
auch in kleinen Anstalten sind die Folgen gravierend im Vergleich mit
gemeindenahem Wohnen.
Unfreiwillig von seinen Eltern, von Freunden und von der gewohnten
Umgebung getrennt zu werden schafft ein grundlegendes Erlebnis, unerwünscht
und machtlos zu sein, ein Objekt zu sein und nicht ein einzigartiges
Individuum.
Das Anstaltsmilieu erzeugt weitere Behinderungen, welche das Individuum
für den Rest seines Lebens prägen. Vor allem sind es die emotionale
und die soziale Entwicklung, die darunter leiden.
Die emotionale Reife ist nicht abhängig vom Grad der Lernschwierigkeiten.
Eine Person kann relativ hochbegabt sein aber emotional unreif, während
jemand mit einer bedeutenden Einschränkung der Begabung eine relativ
hohe emotionale Reife erreichen kann.
Die Tatsache, dass eine Person, wenn auch mit größten Lernschwierigkeiten,
Probleme hat, ihre Gefühle auszudrücken, bedeutet nicht, dass
sie nicht Gefühle hätte wie andere auch.
Die Entwicklung eines normalen Gefühlslebens wird durch dürftige
und eingeschlechtliche Umgebung, fehlendes Privatleben, eingeschränkte
Selbstbestimmung und begrenzten Respekt für die persönliche
Integrität erschwert.
Emotionale Unreife führt zu verspäteter und unvollständiger
Identitätsentwicklung und ebensolcher sexuellen Reife. Auch die
Entwicklung von Sprache und Begabung werden weit mehr gehemmt, als man
bislang verstanden hatte.
Bei Kindern und Jugendlichen entwickeln sich oft verschiedene Formen
von Selbststimulierung, manchmal in Form von Selbstdestruktivität.
Bei Erwachsenen zeigen sich verschiedene psychiatrische Symptome, unter
welchen Aggressivität und Depression vorherrschen, auch wenn ihr
Erscheinungsbild ein anderes sein kann als bei Nichtbehinderten.
Die Forschung von den psychischen Effekten des Wohnens in Anstalten
hat zwei Begriffe geprägt. Das sind soziale Deprivation und angelernte
Hilflosigkeit. Beide fassen die Resultate dieser Forschung ganz gut
zusammen.
Es gibt mehr oder minder gut funktionierende Anstalten, aber nicht
einmal die besten kommen in die Nähe der Qualität eines gemeindenahen
Wohnens mit adäquater Unterstützung. Die Ursachen dafür
sind die kleine Anzahl der zusammen Wohnenden, die gemeindenahe Lage
der Wohnung, die größere Personalzufriedenheit und die höhere
Frequenz der Kontakte mit Angehörigen.
Prinzipien für gemeindenahes Wohnen
Normalisierungsprinzip
Als übergeordnetes Prinzip muss gelten, dass Kinder, Jugendliche
und Erwachsene mit Lernschwierigkeiten Zugang bekommen zu Lebensbedingungen
und Alltag so ähnlich allen anderen wie möglich.
Das Prinzip gilt für alle, ungeachtet Alter und Grad der Behinderung.
Erwachsene Personen bekommen Unterstützung, damit sie wie andere
Erwachsene in eigener Wohnung oder in einer Gruppenwohnung wohnen können.
Dadurch vermeidet man den Sonderstatus als Folge der segregierten Betreuung.
Neue Beziehungen und Erlebnisse in der umgebenden Gesellschaft tun sich
auf.
So wie andere auch zu wohnen bedeutet Rücksicht auf einen individuellen
Tagesrhythmus in Bezug auf Aufstehen, Mahlzeiten und Schlafgewohnheiten.
Das führt auch zu einem normalen Wochenrhythmus und ermöglicht
die Teilhabe an kulturellen und anderen Aktivitäten in der Umgebung,
je nach Wunsch und Neigung.
Normales Wohnen erleichtert den Kontakt mit Eltern, anderen Angehörigen
und Freunden sowohl aus sozialer als auch aus geographischer Sicht.
Die eigene Wohnung, auch in der Gruppenwohnung, ermöglicht ein
selbstbestimmtes soziales Leben.
Genauso wie Menschen im Allgemeinen sollten auch Bewohner einer Gruppenwohnung
oder eines Schülerheims an täglichen Aktivitäten teilhaben
- Schule für die Kinder und Beschäftigung oder Arbeit für
die Erwachsenen.
Kinder, Jugendliche und Erwachsene wohnen getrennt. Innerhalb eines
größeren Gebiets kann es auch angebracht sein, getrennte
Wohnungen für jüngere Erwachsene und ältere Personen
anzubieten.
Innerhalb der Altersgrenzen keine Aufteilung nach Geschlecht oder Grad
der Behinderung. In einem Gruppenwohnen sollte mit Rücksicht auf
besondere Hilfsmittel für Hygiene usw. nicht mehr als eine Person
mit größerer Bewegungseinschränkung wohnen.
Es gibt jedoch zwei Gruppen, die auf Grund zusätzlicher Beeinträchtigung
zusammen wohnen sollten. Gehörlose, die sich gegenseitig und mit
Personal, das die Zeichensprache beherrscht, verständigen können
und Personen mit Autismus mit Rücksicht auf spezielle Behandlungsprogramme.
Ein gemeindenahes Wohnen ist die Voraussetzung für die soziale
Integration, d.h. Beziehungen und Aktivitäten in der näheren
Umgebung. Dafür sind Unterstützung und Beratung notwendig
ebenso wie Verständnis für den Aufwand an Zeit, um dieses
Ziel zu erreichen.
Situation des Personals
Personal in Anstalten orientiert sich eher an speziellen Aufgaben
und Routinen. D.h. sie sind zuständig für gewisse Aufgaben
in der Küche, im Bad, in der Reinhaltung usw. Sie sind Teil einer
hierarchischen Struktur und haben selten Möglichkeit, die Unterstützung
der Klienten auf eigene Initiative zu entwickeln und verbessern.
Personal im gemeindenahen Wohnen fühlt größere Verantwortung
für die Wohnung, zeigt größeres Engagement, erlebt höhere
Zufriedenheit und orientiert sich in der Arbeit mehr am einzelnen Individuum.
Sie tragen Verantwortung für eine oder mehrere Personen in allen
Belangen des Wohnens. Ihr Einsatz kann auf die Bedürfnisse des
Einzelnen zugeschnitten werden.
Das Prinzip der kleinen Gruppe
Es sollen nicht mehrere Personen mit Funktionseinschränkungen
zusammen wohnen, als dass jede die Möglichkeit hat, persönliche
und dauerhafte Beziehungen miteinander und mit dem Personal zu entwickeln.
Es ist die begrenzte Fähigkeit zur Kommunikation und dazu, Reaktionen
vorherzusagen, die diese Forderung begründet.
Die Anzahl möglicher Beziehungen in einer Gruppe erhöht sich
dramatisch mit der Anzahl der Mitglieder der Gruppe. Als Beispiel eine
Gruppe von vier Personen: Jeder Einzelne kann zu einem von den anderen
in Beziehung treten, zwei zu einem von den zwei anderen oder drei zum
vierten. Daraus ergeben sich gesamt 25 Alternativen. In einer Gruppe
von fünf Personen ergeben sich theoretisch schon 90 solcher Alternativen.
Forschung und Erfahrung zeigen uns, dass die optimale Anzahl bei etwa
vier Personen liegt.
Eine Wohnung für eine kleine Gruppe schmilzt ein in die Umgebung
und die Anzahl an Personal bleibt begrenzt. In der kleinen Gruppe ergeben
sich weniger Konflikte, sind weniger Routinen notwendig und die Teilhabe
an der Gesellschaft steigt. Jede Person wird mit ihren speziellen Bedürfnissen
gesehen.
„Behinderte sind Mitglieder der Gesellschaft und haben
das Recht, in ihrer jeweiligen Ortsgemeinschaft zu verbleiben. Sie sollen
die von ihnen benötigte Unterstützung im Rahmen der üblichen
Bildungs-, Gesundheits-, Beschäftigungs- und sozialen Dienstleistungsstrukturen
erhalten".
Aus: Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit
für Behinderte. Vereinte Nationen, Generalversammlung 1994
Von den Anstalten zum gemeindenahen Wohnen
Einige Begriffe
Gemeindenahes Wohnen beschreibt, dass man selbst (allein) oder mit
einer kleineren Anzahl von anderen in einem gewöhnlichen Haus wohnt,
das ein Teil einer allgemeinen Wohngegend ist. Die Wohnung einer Gruppe
von Kindern und Jugendlichen, die zusammen wohnen, nennt man in Schweden
ein Schülerheim, das gleiche für Erwachsene eine Gruppenwohnung.
Anstalt für Menschen mit Lernschwierigkeiten beschreibt eine
Einrichtung mit einem oder mit mehreren Häusern, die sich von der
Umgebung unterscheiden und wo mehr als nur eine kleinere Anzahl von
Personen in verschiedenen Einheiten zusammen wohnen.
Die Situation von Kindern und Jugendlichen
Abb.1
zeigt, dass Schweden früher zwei Arten von Institutionen für
Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten hatte: Internatschulen
und Pflegeheime.
Die Internatschulen wurden von Spezialklassen an Regelschulen abgelöst.
Dadurch konnten viele Kinder zu Hause mit ihren Familien wohnen bleiben.
Andere, die noch immer weit von der Schule entfernt waren, konnten in
Schülerheimen am Unterrichtsort wohnen. Ihnen bot man freie Reisen
zum Unterrichtsort am Montag Morgen und zurück am Freitag Nachmittag.
Die Pflegeheime für Kinder und Jugendliche konnten nach und nach
geschlossen werden. Der Grund dafür: Die Eltern bekamen finanzielle
Unterstützung, Recht auf einen kostenlosen Platz in der Krabbelstube
und im Kindergarten und Unterstützung durch regionale Expertenteams,
sog. Habilitationsteams (Anm. des Ãœbersetzers: Multiprofessionelle
Teams mit kinderärztlicher, therapeutischer, pädagogischer
und psychologischer Kompetenz). Dazu kam noch das Recht auf Kurzzeitaufnahme
im Schülerheim als Entlastung in der Aufsichtspflicht (oft während
mehrerer Tage oder auch eine ganze Woche im Monat) oder dass eine Person
sich als Ersatz für die Eltern in der Wohnung um das Kinder kümmert
oder das Kind in ihrer eigenen Wohnung aufnimmt (oft mehrere Stunden
pro Woche).
Sahen sich die Eltern nicht in der Lage, ihr Kind zu Hause zu behalten,
wurde das Recht auf einen Platz in einem Schülerheim ohne Schließzeiten
eingeführt.
Für schwer beeinträchtigte Kinder von 7 Jahren aufwärts
entstand das Recht auf Unterricht in der Sonderschule nach dem Lehrplan
für Schwerstbehinderte und auf Transport von und zur Schule.
Schweden, mit einer Bevölkerung von 8 Millionen, hatte auf dem
Höhepunkt der Anstaltsbetreuung gegen 5000 Kinder und Jugendliche
mit Lernschwierigkeiten in Anstalten. Heute gibt es keine Anstalten
mehr.
Von den 19 000 Kindern, die nach dem Sonderschullehrplan unterrichtet
werden, wohnen 1 400 im Schülerheim und einige hundert im Familienheim
(Zieheltern). Alle übrigen leben in ihrer Familie. Von 1 500 Kindern
mit Lernschwierigkeiten im Vorschulalter sind nur 40, die nicht in ihrer
Familie aufwachsen.
Es bestehen auch noch einige kleine Antroposophenheime und drei Spezialschulen
für Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten, die zusätzlich
gehörlos oder blind sind oder bedeutende Sprach -und Sprechschwierigkeiten,
inklusive Autismus, zeigen.
Eine Voraussetzung für diese Entwicklung war, beginnend im Augenblick
des Verdachts einer Beeinträchtigung, eine persönliche, positive
und systematische Unterstützung der Eltern, kombiniert mit materiellen
Maßnahmen.
Als Folge dieser Entwicklung haben wir heute eine ganz neue Generation
von Kindern mit Beeinträchtigungen, mehr emotional gereift und
mit höherem Grad an Bewusstsein, und eine neue Generation von Eltern,
wohl vertraut mit den Bedürfnissen ihrer Kinder und mit den Verpflichtungen
und Aufgaben der öffentlichen Hand.
Dieser Prozess, weg von Anstalten für Kinder und Jugendliche
- hin zu Elternhaus und Schülerheim, ging der ohne Konflikte? Im
Großen und Ganzen: Ja! Die einzigen wirklichen Proteste kamen
verständlicherweise vom Personal. Anfangs gab es auch Skepsis unter
Eltern mit Kindern im Pflegeheim, aber diese änderte sich, als
ihnen die Vorteile des Schülerheims offenbar wurden.
Die Provinzlandtage als Betreiber der meisten Anstalten und verantwortlich
für Schülerheime und Sonderschulen, akzeptierten das neue
System. Es war auf Sicht billiger für sie und verbesserte die Lage
für Kinder und Eltern.
Die Situation der Erwachsenen
In
den 60ern und 70ern des vorigen Jahrhunderts stieg die Anzahl von Plätzen
in Pflegeheimen und Sonderkrankenhäusern in Schweden, um allen
Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten, die einen Pflegeplatz wünschten,
diesen auch anbieten zu können. Siehe Abb.2. Schließlich
gab es 125 Anstalten, ein Drittel davon privat.
Die Sonderkrankenhäuser (Anm.d.Übers.: Anstalten für
Rechtsbrecher mit Lernschwierigkeiten) wurden geschlossen mittels Überführung
der Patienten in Pflegeheime und durch den verringerten Bedarf. Pflegeheime
wurden laufend durch Gruppenwohnungen ersetzt.
Die Anzahl der Gruppenwohnungen stieg in den 70er Jahren. Gleichzeitig
entstand eine große Anzahl von Tageszentren (Anm.d.Übers.:
Tageswerkstätten mit einem breiten Spektrum von Angeboten wie Pflege,
Freizeit, Unterricht und Arbeit).
Die neuen Bewohner der Gruppenwohnungen kamen je zur Hälfte aus
ihrem Elternhaus bzw. aus dem Pflegeheim.
Nach und nach konnten auch jene mit den schwersten Beeinträchtigungen
in die Gruppenwohnungen einziehen. Im Jahr 1985 beschloss der Reichstag,
alle Pflegeheime durch einen Neuaufnahmestop abzubauen. Das war eine
drastische, aber wohlbegründete Entscheidung!
Noch im selben Jahr beschloss man, die Wohnbauförderung auch
auf Gruppenwohnungen auszudehnen. Als Voraussetzung galt, dass jede
Person eine eigene Wohnung von mindestens 40 m² im Rahmen der Gruppenwohnung
bekam. Diese Entscheidung erlangte enorme Bedeutung. Endlich konnten
Personen mit Lernschwierigkeiten wohnen wie andere auch. Und das galt
auch für jene mit den kompliziertesten Beeinträchtigungen.
Von den Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten wohnen heute 60% in Gruppenwohnungen,
20% in eigenen Wohnungen und weitere 20% noch bei ihren Eltern.
Gruppenwohnungen gibt es im Wohnblock ebenso wie im Reihenhaus oder
im Einfamilienhaus. Eine Alternative dazu ist eine Anzahl von Wohnungen
im selben Aufgang eines Wohnblocks mit einer dazugehörenden Wohnung
als Ausgangspunkt für das Personal und als Treffpunkt für
die Hausbewohner. Mancherorts werden solche Treffpunkte auch für
die Bewohner mehrerer Gebäude in der Nachbarschaft errichtet. Als
Folge der damit erreichten sozialen Fortschritte übersiedeln viele
der Bewohner in nahegelegene eigene Wohnungen. Niemand soll mehr geschützt
als notwendig wohnen! In der Nähe zu bleiben bedeutet auch den
Kontakt mit Freunden und Personal aufrecht zu erhalten. Eine wichtige
Erfahrung dabei: Eine Gruppenwohnung, die nicht mehr gebraucht wird,
kann leicht überlassen oder verkauft und für andere Zwecke
verwendet werden.
Beschäftigung und Freizeit
Die Beschäftigungsangebote für die Bewohner der Gruppenwohnungen
in der Gemeinde oder im Stadtteil werden auch von jenen besucht, die
bei ihren Eltern oder in eigener Wohnung wohnen. Früher waren diese
Angebote oft auf spezielle Tageszentren beschränkt. Heute sind
sie erweitert mit mehr ins Arbeitsleben integrierten Maßnahmen.
Dabei nehmen kleine Gruppen oder Einzelpersonen mit Lernschwierigkeiten
an Serviceleistungen oder einer Produktion teil.
Die von vielen befürchtete Vereinsamung ist nicht eingetroffen.
Eine Voraussetzung ist jedoch, dass der Einzelne vom Personal bei der
Auswahl von Aktivitäten, bei der Teilnahme an Kursen usw. ermuntert
und unterstützt wird. Natürlich ist es notwendig, Menschen
mit begrenzten Fähigkeiten die Teilhabe und das Erlebnis unterschiedlicher
Aktivitäten zu ermöglichen. Zur Organisation der Freizeit
werden Freizeitpädagogen gebraucht.
Viele Menschen mit Lernschwierigkeiten zeigen große Fähigkeiten,
neue Bekanntschaften und Freundschaftsbande zu knüpfen. Auffallend
wie jene, die dazu in der Lage sind, sich frei in der Gemeinde bewegen
und wie viele Mitglieder bei verschiedenen Vereinen werden.
Ist die Gruppenwohnung eine Möglichkeit für alle
Menschen mit Lernschwierigkeiten?
Ja! Ist der Standard der Wohnung nur entsprechend behindertengerecht,
wohnt eine Person mit großem Assistenzbedarf dort ebenso leicht
wie in einer Anstalt. Personen, deren Verhaltensprobleme sich in hohem
Geräuschpegel äußern, verlangen höhere Personaldichte
und motivieren manchmal eine Gruppenwohnung „auf dem Land"
in ungestörter Lage.
Therapieheime für eine begrenzte Behandlungszeit für Erwachsene
stehen zur Verfügung. In der Psychiatrie ist niemand mehr untergebracht.
Auch ist keiner mehr ohne festen Wohnort.
Beim Start, in den 70-ern, kam es relativ oft zu Protesten von Nachbarn,
wenn eine Gruppenwohnung geplant wurde. Aber mit Hilfe von Offenheit,
Information und gut ausgebildetem Personal konnten wir diesen Problemen
vorbeugen oder sie minimieren. Menschen mit Lernschwierigkeiten sind
heute der Allgemeinheit weit besser bekannt und sie werden nicht mehr
als bedrohlich oder störend erlebt. Wir haben auch keine Probleme
mit kriminellem Missbrauch einzelner Personen oder mit Drogenmissbrauch.
Was wurde besser?
Eine große Anzahl von Studien zeigt die großen Vorteile
des Wohnens in eigener Wohnung oder in Gruppenwohnungen verglichen mit
dem Wohnen in Anstalten.
50 - 80% der Eltern waren gegen eine Schließung der Anstalten.
Sie fürchteten die Vorurteile, denen ihre erwachsenen Kinder ausgesetzt
werden könnten, dass diese dem Verkehr nicht gewachsen wären,
dass sie vereinsamen würden, zu wenig Personal bekämen usw.
- Aber es ist anders gekommen! - In Folgestudien pendelt die Anzahl
der zufriedenen Eltern bei rund 80%.
Die Studien belegen auch, dass die Personen im gemeindenahen Wohnen
mehr individuelle Begleitung erfuhren, sich sicherer fühlten und
weniger Medizin bedurften. Aggressivität und Selbstdestruktivität
wurden drastisch verringert. Jene mit den schwersten Beeinträchtigungen
zeigten die relativ größten Verbesserungen.
Die Folgen fürs Personal waren größerer Einfluss auf
die eigene Arbeit, weniger starre Routine und mehr Freiheit für
eigene Initiativen. Doch gab es weniger Fortbildung und Anleitung als
während der Pflegeheimszeit.
Ein Zeugenbericht: Ã…ke Johansson lebte 32 Jahre lang
in einer Anstalt für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Das ist
sein Bericht:
Was passiert mit Leuten die so wohnen? Sie werden passiv, und passiv
zu sein bedeutet, nicht zu wissen, was rundum vor sich geht, sich um
nichts zu kümmern. Du nimmst den Tag wie er kommt und du überlegst
nicht, weshalb er ist, wie er ist. Alle rund um dich verhalten sich
ebenso. Alle bewegen sich in einer inneren Untätigkeit, die nachtwandlerisch
wird. Du brauchst dich nicht einmal um deine Kleider zu kümmern.
Alles ist vorherbestimmt.
Das vermittelt wenigstens Sicherheit. Das Neue oder Andere wird Angst.
Deshalb macht keiner Schwierigkeiten, niemand fängt an zu schreien,
will davon laufen. Der Wille dazu ist gebrochen, existiert nicht mehr.
Innerhalb solcher Mauern gibt es keinen Platz für ein wirkliches
Leben. Daher kann man es dort auch nicht finden. Du lebst nicht, du
existierst.
Kristina Lundgren, Ã…kes Book, 136 Seiten, Riks-FUB, PO 55 615,
S - 102 14 Stockholm, Schweden
Sollen Anstalten renoviert werden?
Der Standard der meisten Anstalten für Menschen mit Lernschwierigkeiten
in Europa ist derart, dass man gezwungen ist, sie zu renovieren oder
Neubauten zu errichten. In dieser Situation sollte man überlegen,
stattdessen in Gruppenwohnungen und Tageszentren zu investieren. Aber
ein derartiger Paradigmenwechsel braucht Zeit! In der Zwischenzeit gibt
es vieles, dass ohne größere Kosten gemacht werden kann und
gemacht werden sollte, wie zum Beispiel:
- Teilen der Schlafsäle durch halbhohe Mauern oder Vorhänge.
- Bilden und Abgrenzen kleiner Gruppen, die ihr eigenes Personal bekommen,
zusammen wohnen und essen und ein eigenes Wohnzimmer erhalten.
- Versuch, die Gruppen zweigeschlechtlich zu bilden
- Jeder bekommt einen eigenen Kasten beim Bett und eine eigene Lampe.
- Jeder bekommt Kleider und Schuhe und kann täglich auf - und ins
Freie kommen.
- Allen wird eine sinnvolle tägliche Tätigkeit ermöglicht,
nicht in den Räumlichkeiten, in denen sie wohnen.
- Nutzung großer Speisesäle zu anderen Zwecken
- Die Rechte jedes Einzelnen, über seinen Alltag, sein Geld und
seine Freizeit zu bestimmen, werden erweitert.
- Personal wird erweitert und erhält größere Verantwortung
für Tages -und Wochenplanung für die Bewohner.
- Erweiterte Befugnisse für das Personal, Kontakte mit Eltern,
Geschwistern und Freunden zu fördern.
Eine Epoche ging zu Ende
Abb.3
zeigt die Anzahl der Menschen mit Lernschwierigkeiten in Anstalten in
Schweden in den Jahre 1880 - 2000. Die Aufenthaltsdauer erstreckt sich
von einigen Jahren bis lebenslänglich. Insgesamt berechnet man,
dass 100 000 Personen in den Anstalten gewohnt haben.
Schweden und Norwegen sind die einzigen Länder, die sämtliche
Anstalten für Menschen mit Lernschwierigkeiten geschlossen haben.
Dänemark hat eine größere Zahl von Anstalten abgebaut.
In den Niederlanden hat sich die Anzahl eher erhöht. England, Wales,
Schottland und Irland haben in der Hauptsache ihre Sonderkrankenhäuser
geschlossen. Die Situation in den übrigen europäischen Ländern
ist unbekannt, da keine Statistik über die Anzahl von Anstalten,
deren Größe und Aufbau, zugänglich ist. Die USA haben
in den 60ern eine bedeutende Anzahl von Anstalten geschlossen. Das geschah
jedoch ohne entsprechende Ressourcen für offene Betreuungsformen
und der Prozess kam zum Stillstand.