Persönliche Assistenz, Persönliches Budget und der SGB-XII-Entwurf
von Rüdiger Bröhling, Diplom-Politologe, Marburg
Assistenzabhängige Menschen können mit dem vom Bundeskabinett
am 13. August verabschiedetem Gesetzentwurf zur „Einordnung des
Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch" nicht zufrieden sein.
Im Gegenteil. Wieder einmal zementieren Sozialpolitiker die unangemessene
Stellung der Persönlichen Assistenz für Menschen mit körperlichen
Behinderungen im Regelungszusammenhang der Sozialhilfe. Hatte die Pflegeversicherung
den behinderten Assistenznehmer/n/-innen ein System übergestülpt,
das im wesentlichen durch vermeintliche Notwendigkeiten altersbedingter
Pflegeabhängigkeit geprägt war, so ist es nun der sozialhilferechtliche
Sommerhit des „Förderns und Forderns", mit dem sich
Assistenznehmer/n/-innen zukünftig auseinandersetzen müssen.
Explizit verweisen die Autoren im Begründungsteil auf „behinderte
und pflegebedürftige Menschen", denen man – anders
als im gültigen Recht – die „aktivierenden Instrumente
der Sozialhilfe" (§§ 11 und 12 SGB XII) angedeihen lassen
will. „Ausgeweitet wird auch das Ziel dieser Leistungen, das über
die Überwindung der Notlage hinaus nunmehr auch die Stärkung
der Selbsthilfe zur aktiven Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft umfasst."
Aktivierung zur Überwindung der Notlage? Wie soll das funktionieren?
Sicher: Sozialhilfe beziehende Erwerbslose bekommen vielleicht irgendwann
wieder einen bezahlten Job. Empfängerinnen von Krankenhilfe mögen
mit der Zeit genesen. 'Besondere soziale Schwierigkeiten' können
im Einzelfall beseitigt werden. Hinsichtlich der zügigen Überwindung
solcher Notlagen kann der Staat fördernd eingreifen und vielleicht
– sofern man das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche für
geeignet hält – auch fordernd. Aber bei behinderten Menschen,
die von Assistenz abhängig sind und dies auch bleiben werden? Setzten
hier die Instrumente der Sozialministerin gar auf die Aktivierung von
Wundern, ähnlich jener am See von Galilläa vollbrachten? –
„Die Leute staunten, als sie sahen, dass die Stummen sprachen,
die Gelähmten umherliefen, die Blinden sahen und die anderen Behinderten
wiederhergestellt waren" (Matthäus 15,31).
Das allgemeine Staunen wäre in unseren Tagen allerdings noch größer,
wenn ein deutsches Sozialministerium endlich einmal verstünde,
was das Konzept des Selbstbestimmt Lebens überhaupt ausmacht. Die
Situation von Menschen mit Behinderungen ist eben gerade keine (soziale)
Notlage. Denn sie benötigen Assistenz, um die gesellschaftlich
vermittelten Behinderungen und Diskriminierungen so weit wie möglich
auszugleichen. Die Inanspruchnahme von Assistenz ist kein soziales,
sondern ein Bürgerrecht.
Der vom Kabinett abgesegneten Entwurf sieht das völlig anders.
Die Leistungen für Menschen mit hohem Assistenzbedarf unterscheiden
sich in dem Papier im Prinzip nicht von Leistungen für Menschen
in sozialen Notlagen. Dieses Alles-über-einen-Kamm-Scheren hat
leider ziemlich negative Folgen für die Ökonomie der Persönlichen
Assistenz. Denn wenn keine prinzipiellen Differenzen zwischen den verschiedenen
Leistungen bestehen, dann sind auch die bisherige Differenzierungen
hinsichtlich der anzurechnenden Einkommen und Vermögen nicht mehr
sinnvoll. So streicht Art. 15 des Entwurfs kurzerhand den hohen, für
Menschen in Pflegestufe III geltenden Schonbetrag für Geldvermögen
bei 'Hilfe zur Pflege'. Statt 4.091 Euro bleiben zukünftig nur
noch 2.600 Euro dem Griff der Sozialämter entzogen. Lapidar dazu
die Erklärung: „Die bisherige Grenze von 4091 Euro entfällt
für die wenigen in Betracht kommenden Fälle; sie wurde zunehmend
zu Recht als unbegründet angesehen." Weniger als die in Frage
stehende Vermögensgrenze ist allerdings diese 'Erklärung'
begründet! So macht das Sozial-"Reformieren" Spaß:
Um schlüssige Argumentationen schert man sich nicht mehr, Hauptsache
ist, die Kassen der Stadtkämmerer klingeln.
Einschneidender vielleicht noch dürfte sich die geplante Abschaffung
der gestaffelten Einkommensgrenzen auswirken. Für alle Leistungen
der 'Hilfen in besonderen Lebenslagen' soll ab Sommer 2004 ein Einkommensgrundfreibetrag
von etwa 690 Euro gelten (der Wert wird ortsabhängig sein; hier
handelt es sich um den statistischen Mittelwert im Westen der Republik).
Für Menschen mit hohem Assistenzbedarf (Pflegestufe III) ist dies
im Bereich der 'Hilfe zur Pflege' eine deutliche Verschlechterung. Denn
derzeit gilt für sie bei häuslicher Pflege der 'besondere
Grundbetrag' (853 Euro/West) bzw. beim Pflegegeld der 'spezielle Grundbetrag'
(etwa 1.705 Euro/West). Da vor Inkrafttreten der Pflegeversicherung
1995 auch für die Finanzierung der häuslichen Pflege bei dieser
Personengruppe der 'spezielle Grundbetrag' galt, ist die kumulierte
Schlechterstellung seit Mitte der 90er Jahre eklatant. Unterstellt man
einen Eigenbehalt von 25% des über den Freibetrag hinaus gehenden
Einkommens, dann ergibt sich rechnerisch zur Rechtslage von 1994 eine
Differenz von bis zu 800 Euro. Mit diesem Betrag werden im Vergleich
zu 1994 ab Sommer 2004 AssistenznehmerInnen mit hohem Bedarf und Einkommen
Monat für Monat zur 'Gesundung' der Gemeindefinanzen beitragen.
Wäre es allzu polemisch, an dieser Stelle zu erwähnen, dass
in der Bundesrepublik 1997 die Vermögenssteuer, die den kommunalen
Haushalten zu gute kam und die zuletzt, 1996, über 9 Mrd. DM in
die öffentlichen Kassen spülte, auslief, weil Uneinigkeit
über die adäquate Bewertung von Immobilienvermögen herrschte?
Natürlich kommt es nur selten vor, dass eine behinderte Person
in Pflegestufe III ein regelmäßiges Einkommen erzielt, für
das der 'spezielle Grundbetrag' relevant wäre. Hier geht es wohl
vor allem um die stärkere Heranziehung von zahlungspflichtigen
Anverwandten. Denn immerhin rechnen sich die ministeriellen Sozialbürokraten
ein Einsparvolumen in Höhe von 45 Mio. Euro zusammen – angesichts
des Nettosparvolumens des gesamten SGB-XII-Paketes von 66 Mio. Euro
keine geringe Summe. Die gesenkte Einkommensgrenze befindet sich zudem
in bedenklicher Nähe zur Höhe der Grundsicherung. Dadurch
wird der 'Grenznutzen' für erwerbslose AssistenznehmerInnen, eine
Erwerbsarbeit aufzunehmen, deutlich verringert. Ein völlig falsches
Signal in Anbetracht der immer wieder gerne verkündeten politischen
Absicht, die Gleichstellung von Behinderten zu fördern. Die wenigen,
die in Lohn und Brot stehen, könnten sich veranlasst sehen, ihre
sich nicht mehr sonderlich lohnende Erwerbstätigkeit sogar aufzugeben.
Dann wird der Spaß für den „Sozialstaat" am Ende
sogar teurer!
Stolz verkündet der Referentenentwurf, den mit SGB IX „eingeleiteten
Paradigmenwechsel" für ein „möglichst selbständiges
und selbstbestimmtes Leben" von behinderten und pflegebedürftigen
Menschen durch die Etablierung eines trägerübergreifenden
Persönlichen Budgets fortzusetzen und zu erweitern. In der Tat
wurde auch in der Behindertenbewegung immer wieder der Wunsch nach einem
'Persönlichen Budget' formuliert. Die nun angestrebte Lösung
(zentral geregelt in dem § 17 SGB IX ändernden Art. 8 des
Entwurfs), die als „Erprobungsphase" bis Ende 2007 deklariert
ist, orientiert sich allerdings stärker an den Bedürfnissen
der Sozialhilfeträger und der Dienstleistungsanbieter als an den
Interessen der Betroffenen. Unmissverständlich sind die finanziellen
Hoffnungen: „Neben der zu erwartenden Verwaltungsvereinfachung
für die Leistungsträger wird das Persönliche Budget zumindest
mittel- und langfristig zu einer finanziellen Entlastung der beteiligten
Leistungsträger führen." Der sich anschließende
Satz macht deutlich, in welche Richtung sich die ministeriellen Phantasien
ergehen: „Das Persönliche Budget ist auch ein Steuerungsinstrument
zum Beispiel für den Ausbau alternativer Wohnformen an Stelle stationärer
Versorgung. Die entsprechende Infrastruktur wird sich noch entwickeln
müssen." So sieht also ein selbstbestimmtes Leben à
la Schmidt aus: Fokusheim und Wohngruppe.
Die anerkannten Dienstleistungsanbieter müssen sich keine Sorgen
um ihren Anteil am Pflegemarkt machen.
Pflegeversicherungsrechtliche Sachleistungen sind nicht budgetfähig;
hier werden lediglich Gutscheine ausgegeben – zur „Sicherung
der Qualität" der Leistung, begründet man das fadenscheinig.
Die Leistungen müssen vom Bedürftigen selbst verwendet werden.
Das heißt in der Konsequenz freilich: das Persönliche Budget
ist überhaupt kein Persönliches Budget. Andererseits bleiben
uns damit, immerhin ein Vorteil, Versteigerungen von Sachleistungsgutscheinen
bei Ebay und Kleinanzeigen wie „...tausche große Morgentoilette
gegen Krankenunterlagen” erspart.
Die individuelle Höhe des Budgets ist (temporär) gedeckelt.
Es soll „die Kosten aller bisher individuell festgestellten, ohne
das Persönliche Budget zu erbringenden Leistungen nicht überschreiten"
(zukünftiger § 17 III SGB IX). „Soll" heißt
natürlich, es gibt einige Ausnahmen. In dem Zusammenhang nennt
die Erläuterung des Entwurfs lediglich den Auszug aus einer stationären
Einrichtung als Beispiel. Ungeregelt bleiben Bedarfserhöhungen
bei bereits selbstbestimmt lebenden Menschen, die das Persönliche
Budget erhalten. Da der/die Antragsteller/-in sechs Monate an die Budgetentscheidung
gebunden ist, wird in diesem Zeitraum bei steigendem Bedarf das sozialhilferechtliche
Bedarfsdeckungsprinzip durchbrochen. Sofern der/die behinderte Arbeitgeber/-in
sozialversicherte und tariflich entlohnte Assistent/en/-innen beschäftigt,
muss in diesem Zusammenhang auch an mögliche Tariferhöhungen
und steigende Sozialversicherungsbeiträge gedacht werden, die dann
wohl die Arbeitgeberseite aus eigener Tasche zu bezahlen hat.
SGB XII räumt den Sozialämtern aber noch weitergehende Möglichkeiten
ein. § 11 II Satz 4 dekretiert: „Die Beratung [der Sozialämter,
d. Verf.] umfasst eine gebotene Budgetberatung." Das bedeutet,
die Sozialämter können sich, wenn sie es für „geboten"
erachten, in die Verwendung des Budgets zumindest beratend einmischen.
Interessant ist hierbei § 26 („Einschränkung, Aufrechnung"),
der in Abs. 1 festlegt, dass finanzielle Kürzungen möglich
sind „...bei Leistungsberechtigten, die trotz Belehrung ihr unwirtschaftliches
Verhalten fortsetzen." Dies ist zur Zeit nur möglich bei
Empfängern von Hilfe zum Lebensunterhalt; nicht bei Hilfen in besonderen
Lebenslagen. Dieser Satz des neuen § 26 könnte (die Formulierung
im Entwurf ist nicht eindeutig) zukünftig auch für den Bereich
Hilfe zur Pflege gelten. Man darf gespannt sein, wie sich diese Regelung
im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens noch entwickeln wird.
Bemerkenswert ist am vorgeschlagenen Budgetkonzept auch, dass –
im Gegensatz etwa zum Vorschlag des DPWV Hessen für ein Persönliches
Budget – keinerlei Aussagen über die Seite der Assistenzerbringung
zu finden sind. Die einzige, bereits erwähnte Ausnahme, die per
Gutschein gewährten Sachleistungen nach SGB XI, die immerhin den
differenzierten Qualitätsanforderungen der Pflegeversicherung unterliegen,
stehen diesbezüglich in diametralem Gegensatz zu den anderweitig
finanzierten Assistenzdienstleistungen, für die Qualitätsmerkmale
(z. B. Mindestlöhne) absolut keine Rolle spielen. Hier soll offensichtlich
der Kreativität keine Grenze gesetzt werden. Alles ist möglich:
Nachbarschaftshilfe, Minijobs, Ich-AG, legale (und vermutlich illegale)
Assistenz durch osteuropäische Arbeitskräfte und, dafür
sprechen alle Erfahrungen, Schwarzarbeit. Vielleicht finden sich sogar
ein paar Pflegedienste, die ausgegebene Gutscheine zurückkaufen.
Die Sozialämter, die beim Persönlichen Budget auch schon einmal
mitberaten und dabei auf Wirtschaftlichkeit pochen, haben sicherlich
auch ein paar Ideen. Auf jeden Fall kennen sie eine Menge Leute, die
HLU oder Arbeitslosengeld II beziehen und denen nach den anstehenden
„Reformen" fast jede wie auch immer entlohnte Tätigkeit
zuzumuten ist. Hier greift ineinander, was durchaus zu einem einheitlichen
Konzept der herrschenden Sozialpolitik gehört: allgemeines Glück
durch Schaffung eines Billiglohnsektors und Kostenbegrenzungen im sozialen
Sektor.
Sicherlich mag auch die vorgeschlagene Ausgestaltung des Persönlichen
Budgets für Einzelne Chancen und Vorteile bieten. Insgesamt enthält
der Entwurf allerdings eine Dynamik zur Erosion des in den vergangenen
Jahren erreichten Finanz- und Qualitätsniveaus der Persönlichen
Assistenz. Auf Dauer dürften auch jene Assistenznehmer/-innen davon
nicht verschont bleiben, die sich nicht auf das Persönliche Budget
einlassen.
Der vom Kabinett verabschiedete Entwurf birgt noch einige weitere Gemeinheiten
für assistenzabhängige Menschen mit Behinderungen, auf die
alle im einzelnen einzugehen hier nicht geleistet werden kann. Zu erwähnen
wäre aber doch noch die rassistische Diskriminierung von in Deutschland
lebenden Ausländer/n/-innen, die ‘Hilfe zur Pflege’-Leistungen
(oder andere Sozialhilfen) beziehen. Deren Freizügigkeit beschränkt
der neu formulierte Satz 2 von § 23 Abs. 5 SGB XII.
Mit dem, was die Assistenzgesetzkampagne in den vergangenen 12 Monaten
formuliert hat, hat der Vorschlag eines SGB XII nichts zu tun. Deshalb
muss man einer (gegen den Strich gelesenen) Aussage des Referentenentwurfs
um so mehr zustimmen: Notwendig ist „...stärker als bisher
die eigenständige Verpflichtung der Leistungsberechtigten ...,
ihre gesamten Kräfte dafür einzusetzen, um wieder unabhängig
von der Sozialhilfe leben zu können."
Und zwar aufgrund eines neu zu schaffenden Assistenzgesetzes!