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Persönliche Assistenz, Persönliches Budget und der SGB-XII-Entwurf

INFORUM: Ausgabe 3/2003 (Textauszug)

Persönliche Assistenz, Persönliches Budget und der SGB-XII-Entwurf

von Rüdiger Bröhling, Diplom-Politologe, Marburg

Assistenzabhängige Menschen können mit dem vom Bundeskabinett am 13. August verabschiedetem Gesetzentwurf zur „Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch" nicht zufrieden sein. Im Gegenteil. Wieder einmal zementieren Sozialpolitiker die unangemessene Stellung der Persönlichen Assistenz für Menschen mit körperlichen Behinderungen im Regelungszusammenhang der Sozialhilfe. Hatte die Pflegeversicherung den behinderten Assistenznehmer/n/-innen ein System übergestülpt, das im wesentlichen durch vermeintliche Notwendigkeiten altersbedingter Pflegeabhängigkeit geprägt war, so ist es nun der sozialhilferechtliche Sommerhit des „Förderns und Forderns", mit dem sich Assistenznehmer/n/-innen zukünftig auseinandersetzen müssen.

Explizit verweisen die Autoren im Begründungsteil auf „behinderte und pflegebedürftige Menschen", denen man – anders als im gültigen Recht – die „aktivierenden Instrumente der Sozialhilfe" (§§ 11 und 12 SGB XII) angedeihen lassen will. „Ausgeweitet wird auch das Ziel dieser Leistungen, das über die Überwindung der Notlage hinaus nunmehr auch die Stärkung der Selbsthilfe zur aktiven Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft umfasst." Aktivierung zur Überwindung der Notlage? Wie soll das funktionieren? Sicher: Sozialhilfe beziehende Erwerbslose bekommen vielleicht irgendwann wieder einen bezahlten Job. Empfängerinnen von Krankenhilfe mögen mit der Zeit genesen. 'Besondere soziale Schwierigkeiten' können im Einzelfall beseitigt werden. Hinsichtlich der zügigen Überwindung solcher Notlagen kann der Staat fördernd eingreifen und vielleicht – sofern man das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche für geeignet hält – auch fordernd. Aber bei behinderten Menschen, die von Assistenz abhängig sind und dies auch bleiben werden? Setzten hier die Instrumente der Sozialministerin gar auf die Aktivierung von Wundern, ähnlich jener am See von Galilläa vollbrachten? – „Die Leute staunten, als sie sahen, dass die Stummen sprachen, die Gelähmten umherliefen, die Blinden sahen und die anderen Behinderten wiederhergestellt waren" (Matthäus 15,31).

Das allgemeine Staunen wäre in unseren Tagen allerdings noch größer, wenn ein deutsches Sozialministerium endlich einmal verstünde, was das Konzept des Selbstbestimmt Lebens überhaupt ausmacht. Die Situation von Menschen mit Behinderungen ist eben gerade keine (soziale) Notlage. Denn sie benötigen Assistenz, um die gesellschaftlich vermittelten Behinderungen und Diskriminierungen so weit wie möglich auszugleichen. Die Inanspruchnahme von Assistenz ist kein soziales, sondern ein Bürgerrecht.

Der vom Kabinett abgesegneten Entwurf sieht das völlig anders. Die Leistungen für Menschen mit hohem Assistenzbedarf unterscheiden sich in dem Papier im Prinzip nicht von Leistungen für Menschen in sozialen Notlagen. Dieses Alles-über-einen-Kamm-Scheren hat leider ziemlich negative Folgen für die Ökonomie der Persönlichen Assistenz. Denn wenn keine prinzipiellen Differenzen zwischen den verschiedenen Leistungen bestehen, dann sind auch die bisherige Differenzierungen hinsichtlich der anzurechnenden Einkommen und Vermögen nicht mehr sinnvoll. So streicht Art. 15 des Entwurfs kurzerhand den hohen, für Menschen in Pflegestufe III geltenden Schonbetrag für Geldvermögen bei 'Hilfe zur Pflege'. Statt 4.091 Euro bleiben zukünftig nur noch 2.600 Euro dem Griff der Sozialämter entzogen. Lapidar dazu die Erklärung: „Die bisherige Grenze von 4091 Euro entfällt für die wenigen in Betracht kommenden Fälle; sie wurde zunehmend zu Recht als unbegründet angesehen." Weniger als die in Frage stehende Vermögensgrenze ist allerdings diese 'Erklärung' begründet! So macht das Sozial-"Reformieren" Spaß: Um schlüssige Argumentationen schert man sich nicht mehr, Hauptsache ist, die Kassen der Stadtkämmerer klingeln.

Einschneidender vielleicht noch dürfte sich die geplante Abschaffung der gestaffelten Einkommensgrenzen auswirken. Für alle Leistungen der 'Hilfen in besonderen Lebenslagen' soll ab Sommer 2004 ein Einkommensgrundfreibetrag von etwa 690 Euro gelten (der Wert wird ortsabhängig sein; hier handelt es sich um den statistischen Mittelwert im Westen der Republik). Für Menschen mit hohem Assistenzbedarf (Pflegestufe III) ist dies im Bereich der 'Hilfe zur Pflege' eine deutliche Verschlechterung. Denn derzeit gilt für sie bei häuslicher Pflege der 'besondere Grundbetrag' (853 Euro/West) bzw. beim Pflegegeld der 'spezielle Grundbetrag' (etwa 1.705 Euro/West). Da vor Inkrafttreten der Pflegeversicherung 1995 auch für die Finanzierung der häuslichen Pflege bei dieser Personengruppe der 'spezielle Grundbetrag' galt, ist die kumulierte Schlechterstellung seit Mitte der 90er Jahre eklatant. Unterstellt man einen Eigenbehalt von 25% des über den Freibetrag hinaus gehenden Einkommens, dann ergibt sich rechnerisch zur Rechtslage von 1994 eine Differenz von bis zu 800 Euro. Mit diesem Betrag werden im Vergleich zu 1994 ab Sommer 2004 AssistenznehmerInnen mit hohem Bedarf und Einkommen Monat für Monat zur 'Gesundung' der Gemeindefinanzen beitragen. Wäre es allzu polemisch, an dieser Stelle zu erwähnen, dass in der Bundesrepublik 1997 die Vermögenssteuer, die den kommunalen Haushalten zu gute kam und die zuletzt, 1996, über 9 Mrd. DM in die öffentlichen Kassen spülte, auslief, weil Uneinigkeit über die adäquate Bewertung von Immobilienvermögen herrschte?

Natürlich kommt es nur selten vor, dass eine behinderte Person in Pflegestufe III ein regelmäßiges Einkommen erzielt, für das der 'spezielle Grundbetrag' relevant wäre. Hier geht es wohl vor allem um die stärkere Heranziehung von zahlungspflichtigen Anverwandten. Denn immerhin rechnen sich die ministeriellen Sozialbürokraten ein Einsparvolumen in Höhe von 45 Mio. Euro zusammen – angesichts des Nettosparvolumens des gesamten SGB-XII-Paketes von 66 Mio. Euro keine geringe Summe. Die gesenkte Einkommensgrenze befindet sich zudem in bedenklicher Nähe zur Höhe der Grundsicherung. Dadurch wird der 'Grenznutzen' für erwerbslose AssistenznehmerInnen, eine Erwerbsarbeit aufzunehmen, deutlich verringert. Ein völlig falsches Signal in Anbetracht der immer wieder gerne verkündeten politischen Absicht, die Gleichstellung von Behinderten zu fördern. Die wenigen, die in Lohn und Brot stehen, könnten sich veranlasst sehen, ihre sich nicht mehr sonderlich lohnende Erwerbstätigkeit sogar aufzugeben. Dann wird der Spaß für den „Sozialstaat" am Ende sogar teurer!

Stolz verkündet der Referentenentwurf, den mit SGB IX „eingeleiteten Paradigmenwechsel" für ein „möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben" von behinderten und pflegebedürftigen Menschen durch die Etablierung eines trägerübergreifenden Persönlichen Budgets fortzusetzen und zu erweitern. In der Tat wurde auch in der Behindertenbewegung immer wieder der Wunsch nach einem 'Persönlichen Budget' formuliert. Die nun angestrebte Lösung (zentral geregelt in dem § 17 SGB IX ändernden Art. 8 des Entwurfs), die als „Erprobungsphase" bis Ende 2007 deklariert ist, orientiert sich allerdings stärker an den Bedürfnissen der Sozialhilfeträger und der Dienstleistungsanbieter als an den Interessen der Betroffenen. Unmissverständlich sind die finanziellen Hoffnungen: „Neben der zu erwartenden Verwaltungsvereinfachung für die Leistungsträger wird das Persönliche Budget zumindest mittel- und langfristig zu einer finanziellen Entlastung der beteiligten Leistungsträger führen." Der sich anschließende Satz macht deutlich, in welche Richtung sich die ministeriellen Phantasien ergehen: „Das Persönliche Budget ist auch ein Steuerungsinstrument zum Beispiel für den Ausbau alternativer Wohnformen an Stelle stationärer Versorgung. Die entsprechende Infrastruktur wird sich noch entwickeln müssen." So sieht also ein selbstbestimmtes Leben à la Schmidt aus: Fokusheim und Wohngruppe.

Die anerkannten Dienstleistungsanbieter müssen sich keine Sorgen um ihren Anteil am Pflegemarkt machen.

Pflegeversicherungsrechtliche Sachleistungen sind nicht budgetfähig; hier werden lediglich Gutscheine ausgegeben – zur „Sicherung der Qualität" der Leistung, begründet man das fadenscheinig. Die Leistungen müssen vom Bedürftigen selbst verwendet werden. Das heißt in der Konsequenz freilich: das Persönliche Budget ist überhaupt kein Persönliches Budget. Andererseits bleiben uns damit, immerhin ein Vorteil, Versteigerungen von Sachleistungsgutscheinen bei Ebay und Kleinanzeigen wie „...tausche große Morgentoilette gegen Krankenunterlagen” erspart.

Die individuelle Höhe des Budgets ist (temporär) gedeckelt. Es soll „die Kosten aller bisher individuell festgestellten, ohne das Persönliche Budget zu erbringenden Leistungen nicht überschreiten" (zukünftiger § 17 III SGB IX). „Soll" heißt natürlich, es gibt einige Ausnahmen. In dem Zusammenhang nennt die Erläuterung des Entwurfs lediglich den Auszug aus einer stationären Einrichtung als Beispiel. Ungeregelt bleiben Bedarfserhöhungen bei bereits selbstbestimmt lebenden Menschen, die das Persönliche Budget erhalten. Da der/die Antragsteller/-in sechs Monate an die Budgetentscheidung gebunden ist, wird in diesem Zeitraum bei steigendem Bedarf das sozialhilferechtliche Bedarfsdeckungsprinzip durchbrochen. Sofern der/die behinderte Arbeitgeber/-in sozialversicherte und tariflich entlohnte Assistent/en/-innen beschäftigt, muss in diesem Zusammenhang auch an mögliche Tariferhöhungen und steigende Sozialversicherungsbeiträge gedacht werden, die dann wohl die Arbeitgeberseite aus eigener Tasche zu bezahlen hat.

SGB XII räumt den Sozialämtern aber noch weitergehende Möglichkeiten ein. § 11 II Satz 4 dekretiert: „Die Beratung [der Sozialämter, d. Verf.] umfasst eine gebotene Budgetberatung." Das bedeutet, die Sozialämter können sich, wenn sie es für „geboten" erachten, in die Verwendung des Budgets zumindest beratend einmischen. Interessant ist hierbei § 26 („Einschränkung, Aufrechnung"), der in Abs. 1 festlegt, dass finanzielle Kürzungen möglich sind „...bei Leistungsberechtigten, die trotz Belehrung ihr unwirtschaftliches Verhalten fortsetzen." Dies ist zur Zeit nur möglich bei Empfängern von Hilfe zum Lebensunterhalt; nicht bei Hilfen in besonderen Lebenslagen. Dieser Satz des neuen § 26 könnte (die Formulierung im Entwurf ist nicht eindeutig) zukünftig auch für den Bereich Hilfe zur Pflege gelten. Man darf gespannt sein, wie sich diese Regelung im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens noch entwickeln wird.

Bemerkenswert ist am vorgeschlagenen Budgetkonzept auch, dass – im Gegensatz etwa zum Vorschlag des DPWV Hessen für ein Persönliches Budget – keinerlei Aussagen über die Seite der Assistenzerbringung zu finden sind. Die einzige, bereits erwähnte Ausnahme, die per Gutschein gewährten Sachleistungen nach SGB XI, die immerhin den differenzierten Qualitätsanforderungen der Pflegeversicherung unterliegen, stehen diesbezüglich in diametralem Gegensatz zu den anderweitig finanzierten Assistenzdienstleistungen, für die Qualitätsmerkmale (z. B. Mindestlöhne) absolut keine Rolle spielen. Hier soll offensichtlich der Kreativität keine Grenze gesetzt werden. Alles ist möglich: Nachbarschaftshilfe, Minijobs, Ich-AG, legale (und vermutlich illegale) Assistenz durch osteuropäische Arbeitskräfte und, dafür sprechen alle Erfahrungen, Schwarzarbeit. Vielleicht finden sich sogar ein paar Pflegedienste, die ausgegebene Gutscheine zurückkaufen. Die Sozialämter, die beim Persönlichen Budget auch schon einmal mitberaten und dabei auf Wirtschaftlichkeit pochen, haben sicherlich auch ein paar Ideen. Auf jeden Fall kennen sie eine Menge Leute, die HLU oder Arbeitslosengeld II beziehen und denen nach den anstehenden „Reformen" fast jede wie auch immer entlohnte Tätigkeit zuzumuten ist. Hier greift ineinander, was durchaus zu einem einheitlichen Konzept der herrschenden Sozialpolitik gehört: allgemeines Glück durch Schaffung eines Billiglohnsektors und Kostenbegrenzungen im sozialen Sektor.

Sicherlich mag auch die vorgeschlagene Ausgestaltung des Persönlichen Budgets für Einzelne Chancen und Vorteile bieten. Insgesamt enthält der Entwurf allerdings eine Dynamik zur Erosion des in den vergangenen Jahren erreichten Finanz- und Qualitätsniveaus der Persönlichen Assistenz. Auf Dauer dürften auch jene Assistenznehmer/-innen davon nicht verschont bleiben, die sich nicht auf das Persönliche Budget einlassen.
Der vom Kabinett verabschiedete Entwurf birgt noch einige weitere Gemeinheiten für assistenzabhängige Menschen mit Behinderungen, auf die alle im einzelnen einzugehen hier nicht geleistet werden kann. Zu erwähnen wäre aber doch noch die rassistische Diskriminierung von in Deutschland lebenden Ausländer/n/-innen, die ‘Hilfe zur Pflege’-Leistungen (oder andere Sozialhilfen) beziehen. Deren Freizügigkeit beschränkt der neu formulierte Satz 2 von § 23 Abs. 5 SGB XII.

Mit dem, was die Assistenzgesetzkampagne in den vergangenen 12 Monaten formuliert hat, hat der Vorschlag eines SGB XII nichts zu tun. Deshalb muss man einer (gegen den Strich gelesenen) Aussage des Referentenentwurfs um so mehr zustimmen: Notwendig ist „...stärker als bisher die eigenständige Verpflichtung der Leistungsberechtigten ..., ihre gesamten Kräfte dafür einzusetzen, um wieder unabhängig von der Sozialhilfe leben zu können."

Und zwar aufgrund eines neu zu schaffenden Assistenzgesetzes!

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