Liebe
Mitglieder von ForseA,
liebe Leserinnen und Leser,
sind wirklich schon 16 Jahre seit der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland vergangen, 11 Jahre seit Artikel 3, Absatz 3 "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" ins Grundgesetz aufgenommen wurde, 10 Jahre seit die Pflegeversicherung eingeführt wurde? Trat das SGB IX tatsächlich schon vor viereinhalb Jahren in Kraft, gefolgt vom Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen vor über dreieinhalb Jahren?
Es ist kaum zu glauben, dass diese Zeitspannen tatsächlich real sind. In Bezug auf die Gesetze und die damit beabsichtigten positiven Auswirkungen, erscheinen die Zeiten allerdings noch unrealistischer. Denn bis in viele Verwaltungsstuben scheinen das SGB IX und Co. bis heute noch nicht gedrungen zu sein. Zumindest werden sie mit einer hartnäckigen Ignoranz behandelt. Wäre es nicht so, müssten viele Menschen mit Behinderungen ihre Rechte nicht erst vor den Gerichten einklagen.
"Die Zeit rast" ist ein Satz der täglich vermutlich tausende Mal und jetzt, kurz vor dem Jahresende noch häufiger, gesagt wird. Und tatsächlich empfinden viele Menschen, dass die Zeit immer schneller vergeht. Die Tage sind ausgefüllt, die Zeit reicht kaum um alle Aufgaben zu erledigen und alle Freizeitwünsche umzusetzen. Hektik ist angesagt.
Doch gibt es auch Menschen, die das völlig anders empfinden. Das sind diejenigen alten und behinderten Menschen, die ohne die notwendigen Hilfen unterversorgt zuhause sitzen, zu denen nur wenige Mal am Tag ambulante Dienste oder andere Helfer kommen, um sie mit dem absolut Lebensnotwendigen zu versorgen, die kaum oder keine Kontakte zu anderen Menschen haben, die nicht – wie es so schön heißt – am Leben in der Gemeinschaft teilhaben können. Dazu zählen auch "Heim"bewohner, deren Grundbedürfnisse wie das Essen, die Körperpflege und die Unterkunft gesichert sind, deren Alltag aber mangels Abwechslung, oder wegen der dortigen Angebote, die ihren Bedürfnissen nicht entsprechen, eintönig und langweilig verläuft. Ihnen vergeht die Zeit oft langsam, quälend langsam. Sie wollen leben und nicht nur existieren. Sie fürchten jedoch gleichzeitig Tage der Eintönigkeit, des Alleinseins, der Perspektivlosigkeit.
Hektik zu haben und stets unter Zeitdruck zu stehen, mag nicht gesund und befriedigend sein. Doch Langeweile zu haben und sich ständig nach einer Verbesserung der Lebenssituation zu sehnen, zu wissen wie viele Möglichkeiten das Leben bietet, ohne es mangels der notwendigen Hilfe selbst genießen zu können, ist weitaus schlimmer.
ForseA ist es auch in diesem fast beendeten Jahr wieder gelungen, eine Vielzahl von Menschen mit Behinderungen dabei zu unterstützen, die notwendige Assistenz zu beantragen und die Kostenübernahme durchzusetzen, oder aus "Heimen" auszuziehen. Sicher werden viele von ihnen bald nicht mehr daran denken, wie eintönig und langweilig sie ihr Leben empfunden haben, sondern vielmehr sagen: "Die Zeit rast. Jetzt ist es schon ein Jahr her, dass ich aus dem Heim ausgezogen bin…".
Noch erscheint es, als wenn es eine "Ewigkeit" dauern könnte, bis es ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz gibt. Noch ist keine gesetzliche Regelung vorhanden, die es behinderten Menschen unproblematisch gewährleistet, ihre Assistenzpersonen mit ins Krankenhaus zu nehmen. Noch mag es in weiter Entfernung liegen, bis alle Einrichtungsmauern abgerissen sind und alle Menschen mitten in der Gemeinschaft leben. Noch sind wir von tatsächlicher Chancengleichheit für alle Menschen weit entfernt.
Doch werden ForseA und mit ihm viele andere Organisationen und Einzelpersonen auch im kommenden Jahr mit aller Kraft daran arbeiten, damit in ein paar Jahren behinderte und alte Menschen fragen können: "Ist es wirklich schon so lange her, dass …?"
Eine derjenigen wird sicher Sabine Rohloff sein, deren Brief uns kurz vor dem Jahresende erreichte. Mit ihrem Einverständnis geben wir ihn hier im Wortlaut wieder:
"Ich heiße Sabine Rohloff und bin 45 Jahre alt. Seit meiner Geburt leide ich an einer spastischen Lähmung. Bis vor 8 ½ Jahren lebte ich bei meinen Eltern. Nach dem Tod meiner Mutter bin ich ins Altersheim gekommen. Es sollte nur eine Übergangslösung sein. Daraus wurden 8 ½ Jahre. In der ersten Zeit wollte ich mich meinem Schicksal ergeben. Aber ich merkte sehr bald, dass ich dafür noch zu jung bin. Ich fing an, nach einer anderen Lebensform für mich zu suchen. Ich suchte mir einen Rechtsanwalt, der mich vor Gericht gegen das Bernburger Sozialamt vertrat. Außerdem half mir das Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen. Es gab zwei Gerichtsverhandlungen, die ich beide gewonnen habe. Ich wollte Arbeitgeberin werden. Inzwischen bin ich dabei, mir meine Arbeitnehmer auszusuchen, Eine Wohnung habe ich auch schon, In einem Monat werde ich ein neues Leben beginnen. Ich freue mich sehr auf meinen neuen Start in ein anderes Leben. Ein Traum wird für mich wahr!"
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern einen guten Rutsch in ein positives Jahr 2006.
Elke Bartz