20 Jahre Selbstbestimmt Leben-Bewegung behinderter Menschen
Unsere bisherige Arbeit –
unsere Ziele für die Zukunft
Vortrag von Dr. Klaus Mück
anlässlich des 20-jährigen Dienstjubiläums von Karl Finke
Behindertenbeauftragter des Landes Niedersachsen
am 10. Februar 2011 in Hannover
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Finke,
zunächst möchte ich Ihnen zu Ihrem bemerkenswerten Dienstjubiläum von 20 Jahren gratulieren
und Ihnen die Glückwünsche unseres Vorstands übermitteln, verbunden mit einem herzlichen
Dankeschön für Ihre Arbeit.
„20 Jahre Selbstbestimmt Leben-Bewegung behinderter Menschen, Unsere bisherige Arbeit –
unsere Ziele für die Zukunft" – so lautet das Thema meines Vortrags. Ich habe lange überlegt,
wie man diese Arbeit der letzten 20 Jahre bildhaft darstellen kann, ohne Statistiken zu bemühen
oder relativ nichtssagende Fakten aufzuzeigen. Ich kam dann zum Entschluss, ein bisschen aus
meinem Leben und Erlebtem zu plaudern, um zu zeigen, was bislang erreicht wurde und was
noch notwendig ist für unsere Zukunft.
Die Anreise
Ich möchte mit einem ganz jungen Erlebnis beginnen, nämlichmit der heutigen Zugfahrt von
Karlsruhe nach Hannover. Als ich vor 14 Tagen die Fahrkarte am Fahrkartenschalter organisiert
habe und die Verbindung von Karlsruhe nach Hannover klar war, fragte ich außerdem, ob es
nicht ein Sparkontingent gäbe, das man nutzen könne. Ja, das gäbe es, aber nur für das
dahinterliegende Abteil, aber in das käme man nicht mit dem Rollstuhl. Die Dame konnte das
nicht entscheiden und holte den Fahrdienstleiter, der sich die Sachlage genau anhörte und dann
folgendes sagte: Es gibt doch das Gesetz, dass niemand wegen seiner Behinderung diskriminiert
werden darf. Wenn Herr Mück nicht im Rollstuhl sitzen würde, dann würde er den günstigeren
Preis im Abteil dahinter nutzen und nur weil er im Rollstuhl sitzt, kann er das nicht. Es wäre
also diskriminierend, wenn wir ihm den günstigeren Preis nicht gestatten würden.
Hier gibt es also einen Fahrdienstleiter, der Artikel 3 Absatz 3 GG – Niemand darf wegen seiner
Behinderung benachteiligt werden – nicht nur kennt, sondern im alltäglichen Leben auch danach
handelt. Ich finde das bemerkenswert, zumal dieser Artikelzusatz erst am 15. November 1994 in
Kraft trat, also gerade einmal vor 16 Jahren.
Doch die Geschichte geht noch weiter: Kaum zwei Stunden später erhielt ich einen Anruf von
einer Dame der Fahrkartenausgabe, sie habe meine Fahrt beim MobiService angemeldet, sodass
ich auch in den Zug ein- und ausgeladen werden kann. Leider wurde ihr mitgeteilt, dass ich
nicht den Zug um 05:58 nehmen könne, sondern erst eine Stunde später, da erst ab 06:00 jemand
bereit stünde. Ich müsste also umbuchen. In solchen Momenten – und die gibt es leider immer
noch viel zu oft – ist man versucht, etwas in der Art zu sagen: Prima, die Bahn kommt doch eh
immer zu spät, dann klappt das doch alles. Also, um es nochmal zu verdeutlichen, wir reden hier
allenfalls über 10 Minuten! Ich bin höflich geblieben und meinte, ich habe einen Vortrag in
Hannover zu halten, sodass ich nicht später losfahren könne. Ich habe schon einmal bei der
Rückfahrt von Berlin ein ähnliches Problem gehabt, bei dem der Bahnschutz ausgeholfen habe.
Das könne sie nicht entscheiden und wir vereinbarten, dass ich zwei Tage später mit ihrem
Teamleiter telefonieren werde, den sie bis dahin informieren wolle. Gesagt, getan. Die Antwort
des Teamleiters war knapp, enttäuschend und im Ton unfreundlich: Es gibt keine andere Lösung,
ich müsse eine Stunde später fahren. Ich erwiderte dass, das nicht ginge, oder ich müsse
meinen Vortrag beim Landesbehindertenbeauftragten von Niedersachsen zu seinem Dienstjubiläum
absagen. Die Antwort war: Dann wird das wohl so sein. Nun, er kannte mich nicht, denn
inzwischen sind solche Antworten eine Herausforderung, bei der ich dann erst recht nicht locker
lasse. Letztlich habe ich dann mit dem Bahnhofsmanagement gesprochen und plötzlich war es
möglich, dass ein Mitarbeiter um 05:45 am ServicePoint stand und mir in den Zug half. Musste
das sein? Leider sind solche Situationen für behinderte Menschen nicht selten, sondern eher typisch,
sodass wir lernen mussten und müssen, hartnäckig zu bleiben, einfallsreich und kompro
missbereit zu sein. In Norwegen beispielsweise geht man als Rollstuhlfahrer einfach zur Bahn
wie jeder andere auch, steigt ein und aus, ohne dass weitere Hilfe nötig ist.
Doch nochmal zurück zur Bahnreise. Als ich 1989 von Karlsruhe nach Heidelberg gefahren
bin, musste ich den Zug nach einem besonderen Kriterium aussuchen: Ich musste schauen, ob
am Zug ein Postwagen dranhängt. Flapsig ausgedrückt, damals ist man als Rollstuhlfahrer, insbesondere
mit einem Elektro-Rollstuhl. nicht verreist, sondern man wurde verschickt. Es wurde
allerdings dann doch davon abgesehen, auf die Stirn eine Briefmarke zu kleben. Doch wie kam
ich in den Zug, oder besser in den Postwaggon? Über Holzdielen rechts und links gestützt mit
zwei starken Männern, musste ich auf ein gelbes Postwägelchen hoch fahren. Das hat man dann
mit einem Fahrzeug auf den Bahnsteig gezogen und so stand ich dann da, als lebende Statue,
interessiert beäugt von anderen Mitreisenden. Ich brauche nicht zu sagen, dass man sich dabei
reichlich blöd vorkommt. Aber ich habe mir von einem anderen Rollstuhlfahrer erzählen lassen,
dass es im Vergleich zu 20 Jahren vorher, doch einen Fortschritt gab: Der Postwaggon, den ich
benutzen konnte, hatte Fenster – das gab es früher nicht.
Hilfsmittelprobleme
Bleiben wir noch kurz bei der Mobilität. Seit August letzten Jahres habe ich diesen tollen Rollstuhl,
in dem ich prima sitze und mit dem ich sehr gut zurechtkomme. Um mit einem Rollstuhl
im Auto fahren zu können, gibt es sog. Kraftknoten, die am Rollstuhl befestigt werden und die
das Festmachen des Rollstuhls im Auto sehr erleichtern. Leider musste ich feststellen, dass der
Hersteller der Kraftknoten für diesen Rollstuhl keine Kraftknoten herstellen darf! Per Gesetz!
Bislang war das auch für neue Rollstuhltypen nie ein Problem. Seit einem Jahr hat sich aber das
Medizinproduktegesetz dahingehend geändert, dass man Rollstühle in für den Transport in Fahrzeugen
geeignet und nicht geeignet unterscheidet. Der Unterschied manifestiert sich in einem
Crashtest, bei dem der Rollstuhl mit 30 km/h gegen die Wand gedonnert wird. Alle Rollstühle
produziert vor dem Jahr 2010 sind nicht betroffen. Die Hersteller von Rollstühlen mauern nun
und warten ab, wer diese Crashtests macht. Der Hersteller meines Rollstuhls sagt, jaaa, das ist
ein Aktivrollstuhl und Nutzer dieses Rollstuhls setzen sich in ein Auto auf einen normalen Autositz.
Ich möchte gar nicht wissen, ob dies möglicherweise sogar versicherungsrechtliche Konsequenzen
hat, wenn ich dennoch mit diesem Rollstuhl im Auto festgeschnallt werde. Ich habe
vielleicht zukünftig zu entscheiden, ob ich in einem Rollstuhl sitze, mit dem ich im Alltag sehr
gut zurecht komme, aber nicht mit dem Auto fahren darf, oder ein Rollstuhl, mit dem ich nicht
gut im Alltag klar komme, aber dafür eine Autofahrt zulässig ist. Ach ja, eine Versorgung mit
zwei Rollstühlen ist nicht möglich! Und ein ständiges Hin- und Hersetzen zwischen zwei Rollstühlen
ist weder angenehm noch praktikabel. Was soll ich nun tun?
Wechselwirkungen
Mit diesem Beispiel wird deutlich, dass die persönlichen Einschränkungen eines Einzelnen
durch die Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zur Behinderung werden.
Und genau diese Beobachtung führt in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen
mit Behinderung zu einer neuen Definition des Behindertenbegriffs: Anschaulich ausgedrückt
gehören Einschränkungen zur Natur, zum Leben und das ist auch in Ordnung. Erst die Wechselwirkung
dieser Einschränkungen mit den Rahmenbedingungen in einer Gesellschaft führen
dazu, dass Teilhabe nicht möglich ist. Der Gedanke der Inklusion führt nun weg von der paternalistischen
Fürsorge hin zur selbstbestimmten Teilhabe oder genauer zur vollen und wirksamen
Teilhabe gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft!
Oder ein anderes Beispiel: Wenn Sie in ein Restaurant gehen, dann schauen Sie in die Speisekarte,
was sie Leckeres essen und trinken wollen. Als Rollstuhlfahrer muss man zunächst einmal
nachschauen, ob es eine rollstuhlzugängliche Toilette gibt. Danach entscheidet sich, ob und wie
viel man trinken kann, ohne Gefahr zu laufen, dass man einem drängenden Bedürfnis nachgehen
muss und nicht kann, worüber sich sonst niemand Gedanken macht. Wenn eine behindertengerechte Toilette vorhanden ist, dann ist nicht garantiert, dass sie auch benutzbar ist, denn oft werden
dort Putzmittel und –geräte abgestellt Würden Sie dann jedes Mal, wenn Sie das feststellen,
sich mit dem Wirt anlegen wollen? Eigentlich soll es doch ein schönes Ereignis sein, wenn
man Essen geht …
Startsprung in die Behinderung
Gehen wir nochmal in meine Vergangenheit zurück. Ich saß nicht immer im Rollstuhl, sodass
ich ein Leben mit und ohne Behinderung kenne. Ich hatte mit 15 Jahren einen Badeunfall – der
Klassiker: Köpfer in einen Baggersee. Nicht von einem Bagger oder einer anderen spektakulären
Aktionen, sondern aus einer Höhe von vielleicht 50cm und nur als flach angelegter Startsprung.
Es war also eher Unachtsamkeit als Leichtsinn oder Risikofreude. Sie glauben gar nicht,
wie schnell das passieren kann, von einer Lebenslage in eine völlig andere zu kommen. Da bedarf
es auch keiner spektakulären Wette und es kann ausnahmslos jeden zu jeder Zeit treffen.
Wie froh ist man dann, wenn man auf Strukturen trifft, die die selbstbestimmte Teilhabe weiter
ermöglicht!
Nach einem Jahr Rehabilitation wollte ich wieder zur Schule gehen und mein Abitur machen.
Mit der 10. Klasse sollte es weitergehen. Der Direktor meines ehemaligen Gymnasiums in Ettlingen
bei Karlsruhe hätte mich gerne genommen, doch die Räumlichkeiten ließen es nicht zu.
Der Direktor des anderen Gymnasiums, das passende Räumlichkeiten geboten hätte, sah sich
der Aufgabe nicht gewachsen. Zudem gab es 1983 noch nicht wirklich das Modell der Assistenz.
Auch hier wäre Pionierarbeit notwendig gewesen. So kam ich in das Rehazentrum Neckargemünd
und machte dort auch mein Abitur. Mit dem heutigen Inklusionsgedanken der Behindertenrechtskonvention
wäre mein Lebensweg sicherlich anders verlaufen.
Meine 12-jährige
Nichte hat eine Klassenkameradin, die ebenfalls im Rollstuhl sitzt. Alle anderen Mitschüler
hatten Berührungsängste. Meine Nichte kann problemlos damit umgehen, weil sie von klein auf
durch mich gelernt hat, was es heißt, im Rollstuhl zu sitzen, was es heißt, mit Einschränkungen
zu leben. Für sie war es kein Problem, sich neben die Klassenkameradin im Rollstuhl zu setzen
und mit ihr Freundschaft zu schließen. Dem mühsamen Schritt der Integration können wir uns
erleichtern, wenn wir die Inklusion von Anfang an leben und zwar so weitreichend und so früh
wie möglich!
Leben mit Assistenz
Bei meinem Studium der Informatik an der Technischen Hochschule in Karlsruhe habe ich zunächst
auf ein Assistenzmodell basierend auf Zivildienstleistende zurückgegriffen, mit Zivis, die
zum Teil älter waren als ich. Dass es dann zu Diskussionen und Durchsetzungskonflikten
kommt, ist sicherlich mehr als naheliegend. Irgendwann habe ich mir dann gesagt, es ist mein
Leben, meine Zukunft und ich will mein Leben selbst gestalten. Und plötzlich gab es weniger
Konflikte als zuvor. Damals sprach man noch von Betreuung. Ich muss nicht betreut werden, ich
weiß selbst, wo ich hin will und wie ich das anstelle. Das hat sich dann irgendwann bei meinen
Jungs, wenn sie angesprochen wurden, in dem Satz manifestiert: „Ich bin nur der Zivi!" Und es
spiegelt wider, dass sie nicht Betreuer sind, die mir sagen, was ich wie zu handhaben habe, sondern,
dass sie mir bei Dingen, die ich nicht selbst kann assistieren und zwar so, wie ich mir das
vorstelle. Jedes Jahr muss ich wegen der hohen Fluktuation 6-8 neue Leute einarbeiten, um die
im Schnitt notwendigen 4 Assistenten für meinen 24-Stunden Tagesbedarf bereitzustellen. Im
Laufe der Jahre habe ich vermutlich an die 200 Assistenten eingearbeitet. All diese Assistenten
kennen intimste Dinge von mir, die noch nicht einmal gute Freunde kennen und das ist beileibe
nicht immer angenehm. Assistenz ist kein Luxus und nur weil die ein oder andere hauswirtschaftliche
Tätigkeit mit dabei ist, weil man es selbst behinderungsbedingt nicht machen kann,
ist es nichts auf das man als nichtbehinderter Mensch neidvoll blicken kann, weil man so vieles
nicht selbst machen muss.
Protokolliertes Leben
Da ich derzeit meine Assistenz nicht nach dem Arbeitgebermodell vollständig selbst organisiere, wird die Protokollierung der einzelnen Tätigkeiten meiner Assistenten
notwendig – begründet mit bestehenden Durchführungsverordnungen bzw. Richtlinien. In
der Praxis bedeutet dies, dass meine Assistenten aufschreiben müssen, wie oft sie was bei mir
machen. Und ich muss bestätigen, dass die Anzahl stimmt, sonst begebe ich mich in die Gefahr,
meine Mitwirkungspflicht zu verletzen. Um das mal ganz deutlich auszudrücken: Ich muss darüber
Buch führen, wie oft ich etwas am Tag esse, mich an- und ausziehe und wie oft ich Pinkeln
gehe. Stellen Sie sich mal vor, sie haben an ihrer Badezimmertür eine Liste, auf der sie
eintragen, dass sie gerade einen Toilettengang hinter sich haben. Am Ende des Monats geben
Sie dann die Liste der Hausverwaltung, damit der Vermieter daraus die Abnutzung ihrer Toilette
bestimmen und in Rechnung stellen kann. Das wäre ziemlich absurd, oder? Eigentlich müssten
meine Assistenten auch noch täglich darüber Buch führen, wie gut ich psychisch drauf bin! Das
jedoch habe ich schriftlich untersagt! Wieso muss das modularisiert werden, wenn der Bedarf
klar ist? Wieso muss es protokolliert werden, wenn es immer wiederkehrend und alltäglich ist?
Wieso wird hier so ein massiver Eingriff in die Intimsphäre vorgenommen, wenn es nicht nötig
ist? Hat das nicht etwas mit Würde zu tun, die dabei verloren geht?
Das Persönliche Budget
Hier kann das Persönliche Budget erfolgreich sein, wenn es nicht als Sparmodell missbraucht wird oder dabei den
Betroffenen zusätzliche Hürden in den Weg gelegt werden.
Und dabei ist Assistenz diejenige Unterstützungsleistung, die einem Menschen mit Assistenzbedarf
am ehesten die volle und wirksame Teilhabe gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft
ermöglicht. Das Assistenzmodel hilft also, ein Menschenrecht zu verwirklichen, es zu
leben.
Doch zu welchem Preis? Der weitgehende Verlust der Intimsphäre gegenüber den Assistenten
ist sicherlich nicht vollständig zu verhindern. Doch Prüfungen unter Kostengesichtspunkten, ob
eine andere Leistungsform, wie z.B. die Unterbringung in einem Heim, nicht günstiger wäre,
wenn man gerade mitten im Studium steht und dessen erfolgreiches Ende absehbar ist, machen
einem Angst und kosten unnötig Kraft. Sie müssen sich das mal vor Augen führen: Sie strengen
sich an, haben tagtäglich mit erhöhtem Energie- und Organisationsaufwand ihr Abitur bestritten,
sind halbwegs erfolgreich im Studium und dann wird das alles in Frage gestellt- aus Kostengründen!
Inzwischen wurde der Zivildienst erst verkürzt, dann auch die Anzahl der Zivildienstleistenden
reduziert und letztlich faktisch abgeschafft. Politisch gewollt! Stattdessen wurden
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen – was aus unserer Sicht richtig ist –, die
per se zunächst einmal teurer erscheinen.
Dadurch, dass man als Betroffener seine Assistenz selbst finanzieren muss, muss man entwederüber hohe private Mittel verfügen, oder man ist auf die Eingliederungshilfe nach SGB XII angewiesen.
In diesem Fall ist aber sowohl Einkommen als auch Vermögen für die Assistenz zu
verwerten. Das zulässige Einkommen liegt dann beim doppelten Eckregelsatz – also ca. 700
EUR – und das Schonvermögen bei 2600 EUR. Zugegebenermaßen werden beim Einkommen
noch die Miete und behinderungsbedingte Ausgaben berücksichtigt, sodass das angemessene
Einkommen höher liegt. Aber schon bei den erhöhten Zuzahlungen für behinderungsbedingte
medizinische Ausgaben fängt das Geschachere mit den Behörden an. Dieses angemessene Einkommen
darf ein Betroffener dann im Monat ohne weitere Einschränkung ausgeben. Immerhin
entspringt es ja den Früchten seiner bezahlten Arbeit! Aber angenommen dieser Betroffene ist
ein sparsamer Mensch und legt ein Teil dessen, den er nicht verbrauchen möchte auf die Seite,
vielleicht sogar noch leicht verzinst. Ãœbersteigt nun dieses aus dem angemessenen Einkommen
zusammengesparte Vermögen den Betrag von 2600 EUR, so muss er das übersteigende "Vermögen"
vollständig abgeben! Nur weil er behinderungsbedingt zum Leben Assistenz benötigt!
So etwas nenne ich Diskriminierung! Noch einmal ganz klar: Ich darf als Assistenznehmer von
meinem mir selbst – behinderungsbedingt auch noch oft sehr mühsam – erarbeiteten Einkommen
einen Teil behalten; diesen Teil meines Einkommens darf ich im Monat ausgeben aber
nicht ansparen, sonst muss ich auch noch diesen Teil abgeben. Ist dies volle und wirksame Teilhabe
gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft?
Leben in Partnerschaft?
„Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung." Das steht
nicht in der Behindertenrechtskonvention, sondern in unserem Grundgesetz, Artikel 6 GG. Unter
dem besonderen Schutz! Hier brauchen behinderte Menschen aber eher besonderen Schutz
VOR der staatlichen Ordnung. Denn hier greift der Staat besonders drastisch ein! Klingt provokant
und paradox, nicht? Was meinen Sie, dürfen behinderte Menschen heiraten? Ja, nach Recht
und Gesetz gibt es keinen Paragraphen, der das verbietet. Das wäre ja noch schöner! Aber was
passiert, wenn ein auf Assistenz angewiesener behinderter Mann eine nicht behinderte Frau findet,
die bereit ist, alle seine Einschränkungen, die auch ihr Leben drastisch verändern, anzunehmen
und sogar eine Familie mit ihm gründen möchte? Ihr Einkommen wird bis auf 70% des
Eckregelsatzes einbehalten, sodass ihr gerade einmal 245 EUR verbleiben und dieses Paar zusammen
nicht einmal 1000 EUR ihres selbst verdienten Einkommens behalten darf. Ihr gemeinsames
Schonvermögen wird dabei nicht etwa verdoppelt, sondern lediglich um rund 1000 EUR
auf 3600 EUR erhöht. Es wird also in diesem Fall vom Einkommen der Ehefrau besonders viel
abgezogen und das gemeinsame Schonvermögen noch nicht einmal verdoppelt! Dazu kommt,
dass der Bedarf an Assistenz gekürzt und gefordert wird, dass die Ehefrau diese Lücke schließt.
Das alles passiert ausschließlich aufgrund behinderungsbedingter Umstände! "Ehe und Familie
stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung." "Niemand darf wegen seiner
Behinderung benachteiligt werden.", Artikel 3, Abs. 3 GG. Sehen Sie das verwirklicht? Und
was ist nun ihr Rat? So lange klagen, bis man vor dem Bundesverfassungsgericht Recht bekommt?
Vermutlich ist bis dahin die Beziehung kaputt oder die Zeit für eine gemeinsame Familie
um.
Assistenz aus volkswirtschaftlicher Betrachtung
Ich möchte mich eigentlich gar nicht auf wirtschaftliche Diskussionen einlassen, denn es geht
hier um Menschenrechte. Doch wenn man mal dem Assistenzmodell eine volkswirtschaftliche
Betrachtungsweise zugrunde legt, und die Rückflüsse meiner Assistenz sowie meiner Arbeitsleistung
hinsichtlich der Generierung von Umsatz-, Einkommenssteuern sowie Sozialabgaben
berücksichtigt, so stellt man fest, dass bereits ein mittleres Einkommen ausreicht, um die Aufwendungen
für die Assistenz auszugleichen. Zusätzlich hat man auch noch vier Arbeitsplätze
geschaffen, die darüber hinaus noch krisensicher sind. Die Abhängigkeit der Assistenzleistung
von Einkommen und Vermögen bedeutet Teilhabe unter der Voraussetzung von Bedürftigkeit.
Verstehen Sie das als volle und wirksame Teilhabe gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft?
Das ist nicht nur unsozial, sondern auch volkswirtschaftlich unsinnig, denn irgendwann
ist das Vermögen von Assistenznehmern aufgebraucht und Assistenz brauchen sie trotzdem
weiterhin, da ihre Behinderung zeitlebens bestehen bleibt.
Blick nach vorn
Was wir für die Zukunft brauchen ist vermutlich schon bei Ihnen angekommen: Die volle und
wirksame Teilhabe gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft ist die Garantie und die
oberste Maxime der Behindertenrechtskonvention. Man kann es nicht oft genug hinausrufen!
Wir brauchen ein Verständnis in der Gesellschaft, dass es nicht Luxus ist, wenn man
Nachteilsausgleiche benötigt. Wir brauchen ein Verständnis in den Behörden, dass ein Bedarf
weder verhandelbar noch vom Schreibtisch aus bestimm- oder korrigierbar ist. Und wir
brauchen in der Politik ein Verständnis, dass jede weitere Verzögerung in der Umsetzung der
Behindertenrechtskonvention auf Kosten unserer Lebenszeit geht! Eine Familie lässt sich nicht
mehr gründen, wenn man 50 Jahre alt ist. Eine Altersvorsorge lässt sich nicht mehr aufbauen,
wenn man bereits kurz vor der Rente steht! Artikel 8 der Behindertenrechtskonvention
verpflichtet die Politik, dieses Verständnis zu schaffen. Das ist auch schon möglich, bevor
irgendwelche Aktionspläne aufgestellt sind. Es muss bei jedem Sachbearbeiter vor Ort
ankommen, dass das SGB im Sinne einer vollen und wirksamen Teilhabe gleichberechtigt mit
anderen an der Gesellschaft zu interpretieren ist.
Deshalb brauchen wir ein Gesetz zur sozialen Teilhabe, wie es ForseA und ISL zusammen mit
den behinderten Juristinnen und Juristen demnächst vorschlagen als Experten in eigener Sache.
Darüber hinaus begrüßen wir außerordentlich die Resolution der Behindertenbeauftragten der
Länder und des Bundes gerichtet an die Arbeits- und Sozialministerkonferenz, die u.a. unsere
Forderung nach einer einkommens- und vermögensunabhängigen Reformierung der
Eingliederungshilfe für behinderungsbedingte Unterstützungsleistungen alternativlos aufgreift.
Herr Finke, hier haben Sie unsere volle Unterstützung!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
radio aktiv - Rundfunkinterview unter anderem mit Karl Finke und Dr. Klaus Mück