Deutsche Sozialpolitik
oder die etwas andere Springprozession
Gedanken zum Jahreswechsel 2012/2013
von
Gerhard Bartz
In Echternach, einer kleinen Stadt in Luxemburg, findet alljährlich in der Woche nach Pfingsten die Springprozession statt. Den Namen hat sie von der Bewegungsrichtung, zwei Schritte vor, einen zurück. Die derzeitige Bundesregierung hat sich diese Verfahrensweise angeschaut und auf die ganze Legislaturperiode ausgedehnt. Jedoch hat sie den zweiten Schritt nach vorne aus dem Ablauf gestrichen. Anders ist es nicht erklärbar, dass in der Politik für Menschen mit Behinderungen zwar Bewegung, aber keinerlei Fortkommen registriert werden kann.
Immer wieder bekommen wir nicht nur von dieser Regierung zu hören, dass die wortgetreue Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen nicht finanzierbar und dem Steuerzahler nicht zumutbar sei. Warum kommt niemand auf den Gedanken, dass umgekehrt ein Schuh daraus wird?
Leben nicht Menschen ohne Behinderung, ohne Assistenzbedarf ihren „Wohlstand" auf dem Rücken behinderter Menschen?
Ausgehend von dem Gedanken, dass alle Menschen gleich sind, stellt sich doch die Frage, warum ein winzig kleiner Teil vom Rest einfach zurückgelassen wird.
Es wird u.a. zugelassen, dass dieser kleine Teil
- ständig um sein Dasein kämpfen muss
- sich gegen den Verdacht zur Wehr setzen muss, den Rest der Gesellschaft zu betrügen
- so behandelt wird, als ob er nicht in der Lage sei, das eigene Leben zu gestalten.
- ständig auf dem Prüfstand von Behörden und „Gutachtern" steht, die alles besser wissen und stets bestrebt sind, deren Leben mitzuplanen und mitzubestimmen.
- immer mal wieder zu hören und zu lesen bekommt, sein selbstbestimmtes Leben wäre der „Gesellschaft" nicht zuzumuten, selbst von Regierungsseite.
Mit Letzterem zeigt man an, dass man behinderte Menschen mit Assistenzbedarf gar nicht als Teil der Gesellschaft sieht. Entsprechend auch die Gesetzgebung. Zuletzt zu betrachten bei der Novellierung des Assistenzpflegebedarfsgesetzes. Obgleich sich bei der Anhörung alle Sachverständigen für eine Einbeziehung aller behinderter Menschen aussprach, konnten sich die aus öffentlichen Mitteln bezahlten Vertreter der Kostenträger aus Kostengründen dagegen positionieren. Dass sie damit offen zum Gesetzesbruch aufriefen, der ihrem Amt sicherlich nicht angemessen war und ist, interessierte niemand. Lediglich die Partei DIE LINKE unterstützte uns mit einem entsprechenden Antrag. Aber – unsere Freunde mögen uns verzeihen – genau davor fürchten wir uns. Die LINKE besitzt in der politischen Szene denselben Sympathiegrad wie Barack Obama bei der amerikanischen Tea Party. Mit diesem hohen Grad der Abneigung hat es die Partei schon fertiggebracht, dass andere Parteien die eigene Anträge versenkten, nur weil sie von den LINKEN unterstützt wurden. Dieses Paradoxon bringt es mit sich, dass wir hoffen müssten, dass wir von dieser Seite keine Unterstützung erfahren. Aber wie krank ist das denn?
Kommen wir nochmals zur Theorie zurück, dass nichtbehinderte Menschen ihren Wohlstand auf unserem Rücken aufrechterhalten. Diese ist aus dem Blickwinkel dieser Menschen richtig, objektiv jedoch falsch und hat ihren Ursprung im „Fürsorge"-Gedanke, der der Behindertenpolitik der Nachkriegszeit zugrunde lag. Es bildete sich eine Wohlfahrtsindustrie, die behinderte Menschen aus der Öffentlichkeit entfernte und es ihnen – zumindest nach den Maßstäben des Dritten Reiches betrachtet – gut gehen ließ. Diese Wohlfahrtsindustrie sorgte auch dafür, dass die durch Anstalten auf der grünen Wiese, möglichst noch auf einem Berg weitgehend „unsichtbaren" Menschen mit Behinderungen zu erträglichen finanziellen Bedingungen versorgt wurden. Irgendwann stellten diese behinderten Menschen fest, dass sich die Gesellschaft außerhalb ihrer Anstaltsmauern weiterentwickelte und sie selbst daran keine Teilhabe hatten. Selbst heute noch gehen manche erwachsene Menschen in solchen Anstalten um 17:00 Uhr ins Bett. Selten gezwungen, aber außerhalb der Anstalten wäre das in dieser Größenordnung nicht denkbar.
Wenn der nichtbehinderte Teil unserer Gesellschaft einen winzigen Teil des Wohlstandes abgeben würde, wäre das alles kein Thema mehr. Kein Mensch müsste mehr Angst haben, ausgegliedert zu werden. Aber dieser winzig kleine Teil würde einfach dem Konsum nicht mehr zur Verfügung stehen. Und genau das ist der Knackpunkt.
An der Debatte um Beitragskürzung und Rentenerhöhung wird das besonders deutlich sichtbar. Man hat die Rentenbeiträge gesenkt und damit die Kostenseite der Arbeitgeber entlastet und die Nettolöhne der Arbeitnehmer etwas erhöht, was ja dem Konsum befeuern soll. Da man den Arbeitnehmern gleichzeitig jedoch vielhändig das Geld wieder aus der Tasche zieht, erinnert man sich wieder an die anfangs erwähnte Springprozession.
Den Rentnern hingegen, die angesichts kräftiger Lohnsteigerungen im letzten Jahr auf ebenso kräftige Rentensteigerungen hofften, wird mittels nicht näher erläuterten, aber „hochkomplizierten" mathematischen Bedingungen lediglich ein Prozent zugestanden. Da ohnehin bereits die Deutsche Rentenversicherung die deutsche Versicherungswirtschaft bzw. deren Drückerkolonnen, pardon, Strukturvertriebsmitarbeitern durch Gelder der Beitragszahler unterstützt, drängt sich folgender Gedanke geradezu auf: Im Zuge der Betreuungsgeldverhandlungen wurde erneut ein Konjunkturpaket für die Versicherungswirtschaft beschlossen. Kann die niedrige Rentenerhöhung damit zusammenhängen, dass die Deutsche Rentenversicherung diesen Teil des Preises bezahlen muss?
Dieser Exkurs sollte lediglich dazu dienen zu beweisen, dass die Politik kann, wenn sie will. Wenn sie also nicht tut, dann will sie einfach nicht. Mit Erschrecken stellen wir fest, dass sich bereits Teile der derzeitigen Opposition auf einen Machtwechsel vorbereiten. Wenn es noch Aussagen gibt, werden diese zunehmend vage. Sätze wie „Es soll geprüft werden, wie Leistungen zur sozialen Teilhabe zukünftig ganz oder teilweise einkommens- und vermögensunabhängig ausgestaltet werden können.", stimmen nachdenklich.
Wir sehen einem spannenden Jahr entgegen. Hoffentlich schaffen es die Parteien noch, sich hinsichtlich eines ehrlichen Umgangs mit der Behindertenrechtskonvention eindeutig abzugrenzen. Wischi-waschi hatten wir genug. Wir wollen endlich die Leistungen bekommen, auf die wir gesetzlichen Anspruch haben, die uns jedoch unter Hinweis auf „die Gesellschaft" verweigert werden.