Erika Michels
Ein Leben zwischen Unverständnis und Behördenwillkür
Wie viel Lebensqualität ihr die persönliche Assistenz gebracht
hat, berichtete Erika Michels im Rahmen eines Interviews für die
Publikation „Zwanzig Jahre Assistenz..." Dennoch gibt es
nicht nur Grund zur Zufriedenheit. Immer wieder wird die Mittfünfzigerin
mit Verfahrensweisen ihres Sozialamtes konfrontiert, die an geballte
Inkompetenz oder Willkür seitens der Behörden glauben lassen.
Erika Michels, die mit einer Polyarthritis lebt, ist eine bescheidene
Frau. Jahrelang hat sie sich mit starken Schmerzen alleine geplagt.
Sie erledigte ihren Haushalt - in ihrem weitgehend auf ihre Bedürfnisse
eingerichteten Haus – so lange es irgendwie ging selbst. Hilfe
bekam sie später ausschließlich durch einen Bekannten. Dieser
war durch eine psychische Erkrankung jedoch bald überfordert und
benötigte selbst Hilfe. Sie wollte niemandem zur Last fallen, meint
die Illericherin, weder praktische noch finanzielle Hilfen in Anspruch
nehmen. Lieber schränkte sie sich ein.
Doch irgendwann ging es einfach nicht mehr alleine. Künstliche
Gelenke in beiden Knien und beiden Hüften, sowie die permanente
Ãœberforderung verursachten zunehmende Schmerzen und Unbeweglichkeit.
Zu den rheumatischen Beschwerden kamen starke Verdauungsprobleme. Auf
die Toilette gelangt Erika Michels jedoch nur mit Hilfe durch andere.
Deshalb beantragte sie 1999 die Kostenübernahme für 13,5 Stunden
Assistenz täglich. Die restliche Zeit wollte sie versuchen, irgendwie
alleine zurecht zu kommen.
Zunächst sah es gar nicht so schlecht aus. Ein vierköpfiges
Team vom Sozialamt und Gesundheitsamt besuchte Erika Michels zu Hause.
Es ließ sich von ihr und ihrer Beraterin, Elke Bartz, das Arbeitgebermodell
erklären und darstellen, warum und welche Hilfen sie benötigt.
Eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes befürwortete die Unterstützung
durch Assistentinnen und erkannte an, dass Erika Michels auf umfangreiche
Hilfen angewiesen ist.
Die Wende
Dann gab es jedoch eine Wende. Bevor ein abschließendes Gutachten
erstellt werden konnte, wechselte das zuständige - zuvor unabhängige
- Gesundheitsamt unter das Dach des Landratsamtes. Als dann eine Ärztin
den genauen zeitlichen Umfang der notwendigen Hilfen feststellen sollte,
ermittelte sie einen angeblichen täglichen Bedarf von nur sechs
Stunden im Rahmen der grund- und hauswirtschaftlichen Versorgung und
einer (!) Stunde im Rahmen der Eingliederungshilfe.
In dieser einen Stunde soll Erika Michels alle Einkäufe tätigen
(Illerich ist ein kleines Dorf ohne entsprechende Infrastruktur), Kino-
und Theater- sowie Verwandtenbesuche, Spaziergänge, ihre ehrenamtlichen
Tätigkeiten und alle anderen Aktivitäten außerhalb des
Hauses bewältigen. Schon alleine das Einsteigen ins Auto und das
Verladen des notwendigen Elektrorollstuhles dauern rund 20 Minuten!
Weil ihr das Ein- und Aussteigen aus dem Auto zunehmend schwerer fällt,
hat sie die Kostenübernahme für ein neues Auto beantragt.
Doch dazu später.
Die Ärztin glaubte nicht, dass Erika Michels etliche Male am Tag
Hilfe beim Toilettengang benötigt, Durchfälle zeitlich nicht
planbar sind. Sie meinte, dass deshalb die Hilfen im beantragten Umfang
nicht notwendig seien. Wenn Erika Michels doch einen solch hohen Hilfebedarf
habe, müsse sie halt in ein Heim gehen, drohte sie. Obwohl Erika
Michels eine Zeugin für die Einschüchterungsversuche hatte,
leugnete die Ärztin diese später. Doch die Zeugin wurde nie
befragt!
Zwischenzeitlich telefonierte Elke Bartz nochmals mit der Mitarbeiterin
des Gesundheitsamtes: Sie versuchte darzustellen, warum Erika Michels
die Hilfen so dringend benötigt. Während dieses Telefonates
meinte die Mitarbeiterin: „Wissen Sie, seit wir dem Landratsamt
unterstehen, können wir nicht mehr so begutachten und entscheiden
wie davor."
Gegen den Bescheid, der nur die unzureichenden sieben Stunden Assistenz
täglich bewilligte, legte Erika Michels mit Hilfe ihres Rechtsanwaltes
Widerspruch ein. Nach einem ablehnenden Widerspruchsbescheid beantragte
der Rechtsanwalt eine Einstweilige Anordnung, der nicht stattgegeben
wurde. Die zwischenzeitlich erfolgten Gutachten wurden immer wieder
von der gleichen Ärztin erstellt. Das Gericht sah jedoch kein Problem
darin, dass nicht andere – unabhängige - Gutachter zugezogen
wurden. Es folgte den Angaben der Gesundheitsamtärztin, die –
wen wundert´s – stets zu den gleichen Ergebnissen gelangte.
Außerdem schlug die Ärztin vor, Erika Michels solle die sieben
bewilligten Stunden auf mehrere Einsätze täglich aufteilen,
um so über den Tag zu kommen. Wie das praktisch funktionieren könnte
– die Assistentinnen haben teilweise weite Anfahrtswege zurückzulegen
- und wer die Fahrtkosten für die mehrmaligen Fahrten übernehmen
soll, konnte oder wollte sie nicht darstellen.
Auch das Verhalten des Gerichts bei der (vorläufig) letzten Verhandlung
war für Erika Michels sehr verwunderlich. Zunächst fragte
der Richter die sie begleitenden Assistentin und Elke Bartz, ob sie
die vom Anwalt Erika Michels benannten Zeuginnen seien. Als sie bejahten,
verwies er sie vollkommen zu Recht des Gerichtssaales. Warum er die
Zeuginnen dann letztendlich nicht aufrief und befragte, lässt allerdings
interessante Fragen aufwerfen. Er ließ auch die Beauftragung eines
anderen – neutralen - Gutachters nicht zu. Derzeit, im März 2002, hat sich Erika Michels Situation durch die
sieben Stunden Assistenz gegenüber früher zwar verbessert.
Doch lebt sie immer noch mit starken Einschränkungen. Sie kann
wegen der zu geringen Anzahl der Assistenzstunden ihre weit entfernten
Verwandten oder Veranstaltungen immer noch nicht besuchen. Und auch
sonst muss sie jede Aktivität genauestens durchdenken, damit sie
in der knapp bemessenen Zeit erledigt werden kann.
Nur stark eingeschränkte Mobilität möglich
Egal was sie unternimmt, sie muss wegen der Verdauungsprobleme immer
zusehen, nicht zu weit von einer Toilette entfernt zu sein. Das setzt
bei Aktivitäten außer Haus ständig eine genaue Planung
voraus. Und aktiv möchte die lebensbejahende Frau sein, Kontakte
zu ihrem großen Bekanntenkreis aufrecht erhalten und auch sonst
am Leben in der Gemeinschaft teilhaben.
Ein wichtiges „Hilfsmittel" dazu ist ihr mittlerweile neun
Jahre altes Auto, das auf ihre speziellen Bedürfnisse umgerüstet
wurde. „Seit dreißig Jahren, seit ich meinen Führerschein
habe, fahre ich unfallfrei", berichtet sie nicht ohne Stolz. Allerdings
fällt ihr das Umsetzen vom Rollstuhl in das Auto und zurück
zunehmend schwerer. An Tagen mit besonders vielen Schmerzen ist das
so gut wie unmöglich. Das Ein und Ausladen des Elektrorollstuhles
durch die Assistentinnen ist mit einem erheblichen Zeit- und Kraftaufwand
verbunden. Die geringe Anzahl der Assistenzstunden, aber auch der Umstand,
im Bedarfsfall schnell auf eine Toilette gelangen zu müssen, sowie
das Alter des vorhandenen Autos sind Gründe, warum Erika Michels
die Kostenübernahme für ein neues beantragte. Den Antrag stellte
sie auf Geheiß der Amtsärztin! (Diese Empfehlung gab die
Ärztin, bevor das Gesundheitsamt der Kreisverwaltung unterstellt
wurde).
Es sollte ein Auto sein, das sie im Rollstuhl sitzend fahren könnte.
Außerdem wollte sie darin eine Campingtoilette installieren, um
im Notfall in einer fremden Umgebung nicht erst lange nach einer rollstuhlgeeigneten
Toilette suchen zu müssen. Ihre vorigen Autos wurden bis auf eine
Ausnahme, (bei diesem wurde sie falsch beraten) unproblematisch bezuschusst.
Den Antrag für das nun benötigte Auto stellte sie 1998. Nach
über einem Jahr des Hinhaltens, in dem der damalige Sachbearbeiter
immer neue Unterlagen forderte, sollte sich Erika Michels einer Fahrtauglichkeitsprüfung
unterziehen. Dann würde sie angeblich die Kostenübernahme
bewilligt bekommen. Sie bestand die Prüfung vollkommen problemlos.
Daraufhin folgte prompt .... die Ablehnung.
Das Sozialamt lehnte mit der Begründung ab, dass sie nicht berufstätig
sei. Sie solle den Behindertenfahrdienst oder ein Taxiunternehmen nutzen.
Zweihundert Kilometer stünden ihr monatlich zur Verfügung.
Dass Erika Michels mit diesem Kontingent die meisten ihrer Verwandten
nicht auch nur einmal besuchen könnte, die angebotenen Dienste
gar nicht alle in der Lage wären, ihren E-Stuhl zu transportieren,
die Fahrdienste bei ihren Verdauungsproblemen nicht adäquat reagieren
können und schon allein deshalb ungeeignet sind, interessierte
die Behörde nicht. Auch ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten im
ForseA, die sie gerne noch wesentlich ausdehnen würde, fanden keine
Berücksichtigung. Gegen den ablehnenden Bescheid legte sie Widerspruch
ein.
Die Ärztin war außerdem der Meinung, jede Durchfallerkrankung
habe organische Ursachen und ließe sich mehr oder weniger unproblematisch
auskurieren. Als wenn Erika Michels nicht aus eigenem Interesse alles
dafür tun würde, sich dieser Probleme zu entledigen!
Unter der Androhung, wegen angeblich mangelnder Mitwirkungspflicht das
Auto nicht bewilligt zu bekommen, musste sie sich sogar ambulant ins
Krankenhaus begeben. Dort wurden Untersuchungen wie Magen- und Darmspiegelungen
vorgenommen. Das Ergebnis lautete, dass die Beschwerden auf einer Collitis
Ulcerosa (chronische Darmentzündung) beruhen, die vermutlich stressbedingt
ist. Nichts anderes hat Erika Michels, die sich seit sieben Jahren in
entsprechender ärztlicher Behandlung befand, immer schon erklärt.
Um die häufigen Durchfälle einzudämmen, wurden ihr Medikamente
verschrieben, die sie jedoch nicht vertrug. Als sie sogar Darmblutungen
bekam, setzte sie die Mittel wieder ab und informierte ihren Hausarzt.
Das Gesundheitsamt warf ihr daraufhin mangelnde Mitwirkungspflicht vor.
So quält sie sich nach wie vor mit ihrem alten Auto herum und kann
viele notwendige Aktivitäten gar nicht oder nur eingeschränkt
erledigen.
Alle schlechten Dinge sind drei
Nicht genug, dass die Assistenzstunden nicht ausreichen und ein neues
Auto verweigert wird, muss sich Erika Michels um einen weiteren „Kriegsschauplatz"
kümmern. Um in die Garage und auch sonst aus dem Haus zu gelangen,
hat sie vor vier Jahren einen Aufzug bei ihrem zuständigen Sozialhilfeträger
beantragt. Seit sie nicht mehr laufen kann, ist es ihr unmöglich
den eigentlichen Hauseingang mit seinen sechs Stufen zu benutzen.
Nach viel Hin und Her bekam sie endlich einen Aufzug eingebaut. Doch
hatte sie keinerlei Einflussmöglichkeit auf die Auswahl des Aufzugtyps.
Ohne sich mit ihr abzusprechen und ohne einen Bescheid zu erstellen,
oder sie auch nur zu informieren, bestellte der Sachbearbeiter der Behörde
– der mittlerweile versetzt wurde – eigenmächtig einen
Aufzug und die entsprechenden Handwerker. Wäre Erika Michels vorher
informiert worden, hätte sie darstellen können, warum der
nun bestellte und eingebaute Aufzug ihren Bedürfnissen nur unzureichend
gerecht wird. Obwohl der Sachbearbeiter eigenmächtig und ohne vorher
zu informieren handelte, sollte Erika Michels plötzlich unterschreiben,
dass die Kostenübernahme für den Aufzug lediglich auf Darlehensbasis
oder im Rahmen einer Hypothek erfolgen würde. Diese Ungeheuerlichkeit
konnte erst vor Gericht bereinigt werden. Das Gericht machte dem Sozialhilfeträger
außerdem die Auflage, den Aufzug auf Erika Michels Bedürfnisse
umrüsten zu lassen.
Immer wieder gibt es technische Probleme mit dem Aufzug. Bei Stromausfällen
lassen sich die Aufzugtüren logischerweise nicht elektrisch öffnen
und die gesamte Technik funktionierte nicht mehr. Manuell kann Erika
Michels die Türen wegen des notwendigen erheblich Kraftaufwandes
jedoch nicht alleine öffnen.
Eine Architektin, die sich auf alten- und behindertengerechtes Bauen
und Wohnen spezialisiert hat, bestätigte ihr, dass auch das Bedienteil
für den Aufzug für sie nicht geeignet sei. Während der
gesamten „Fahrt" muss der schwergängige Bedienknopf
gedrückt werden. Das ist Erika Michels kaum noch möglich.
Deshalb beantragte sie die entsprechende Umrüstung beim Sozialhilfeträger.
Dieser schickte als Sachverständigen einen Arzt des Gesundheitsamtes
vorbei. Der Arzt erschien – wie es scheinbar Sitte und Gewohnheit
bei der Behörde ist – nebst einer Mitarbeiterin unangemeldet,
um die Notwendigkeit der Anpassungsmaßnahmen zu beurteilen. Und
er begutachtete gründlich. Er ließ sich zeigen, wie Erika
Michels einen Kugelschreiber benutzt und wie sie sich unter Mühen
aus dem Rollstuhl aufrichten kann. Seinen geballten Sachverstand ließ
er walten, als er behauptete, wenn sie Auto fahren könnte, wäre
sie auch in der Lage den Aufzug zu bedienen.
Er würde beim Sozialamt Einsicht in das dort vorliegende Gutachten
des TÜVs, in dem ihre Fahrtüchtigkeit bescheinigt wird, nehmen.
Seiner Meinung nach sei Erika Michels nicht imstande ein Auto zu fahren.
Erika Michels konnte ihm anscheinend nicht beibringen, dass es sehr
wohl darauf ankommt, ob und wie ein Hilfsmittel oder sonstiger Gegenstand
umgerüstet ist, damit es gefahrenfrei und seinen Bestimmungen entsprechend
bedient werden kann.
Erika Michels erwähnte, dass der Behindertenfahrdienst für
sie ungeeignet sei und ihr nur 200 Fahrkilometer monatlich bewilligt
wurden. Daraufhin meinte der Arzt, das sei doch ganz schön viel.
Sie erwiderte, damit könne sie ihren Bruder nicht auch nur ein
einziges Mal besuchen. Daraufhin entgegnete der Arzt, sie könne
mit den 200 Kilometern aber mehrmals in das sechs Kilometer entfernte
Kaisersesch gelangen. Was sie da allerdings soll, sagte er nicht.
Übrigens, wenn sie den Fahrdienst tatsächlich z.B. für
Einkaufsfahrten nutzen würde, müsste sie die Wartezeiten des
jeweiligen Fahrers aus eigener Tasche bezahlen. Dafür bekam sie
nämlich keine Kostenübernahme zugesagt.
Nun wartet sie ab, was der „sachverständige" Arzt unternimmt.
Die Kostenübernahme für die Aufzuganpassung will er jedenfalls
nicht befürworten. Erika Michels versteht indes die Welt nicht
mehr. „Ich will doch nichts anderes als jeder Nichtbehinderte
auch. Ich will zur Toilette, wenn ich muss, will aufstehen und zu Bett
gehen, wenn ich das Bedürfnis habe. Und außerdem möchte
ich noch am Leben teilhaben, Besuche abstatten, ehrenamtlich tätig
sein. Es ist doch nicht mein Verschulden, dass ich dafür Assistenz
und Hilfsmittel benötige. Ich will doch keinen Luxus, sondern nur
ein ganz normales Leben führen."
Unmittelbar vor Redaktionsschluss wurde bekannt, dass die Behörde
die Kosten für den Aufzugsumbau übernehmen wird.