Wir fordern eine grundlegende Novellierung des Bundesteilhabegesetzes!
Am Ende muss ein Gesetz stehen, zu dem Menschen mit Behinderung nicht nur - wie bisher - gehört wurden. Die Erkenntnisse daraus müssen auch in die Novellierung einfließen. Dann muss das Gesetz endlich verfassungsfest sein und unter Beweis stellen, dass es die Behindertenrechtskonvention auch umsetzt und dies nicht nur vorgibt.
Zu dem diesjährigen Protesttag am 5. Mai haben wir zwei Probleme herausgegriffen, die zeigen, wie nötig unser Protest und ein Paradigmenwechsel in Politik und Verwaltung ist.
Landschaftsverband Rheinland stellt die Erstattung für die Assistenzkosten eines ALS-Patienten ein!
Wie die Westdeutsche Allgemeine Zeitung am 3. Mai berichtete, stellte der LVR offenbar aufgrund eines Missverständnisses kurzerhand die Erstattung seines Kostenanteiles ein.
Hier zeigt sich die Brutalität des Systems: Kostenträgern - hier der Landschaftsverband Rheinland - ist es mitunter nicht bewusst (oder doch?), was sie mit ihrer Zahlungseinstellung auslösen. Hauptsache, die Akten stimmen und die Machtverhältnisse werden demonstriert. Die Große Koalition der letzten Legislaturperiode hätte Großes leisten können. Die gesetzliche Grundlage in Gestalt der Behindertenrechtskonvention war ohnehin vorhanden seitens der Verfassung hätten sie auch volle Deckung gehabt. Doch was geschah: Man blinkte links und bog rechts ab. Selten wurden Menschen mit Behinderung so kaltschnäuzig um ihre Rechte gebracht. Und diese Mannschaft ist auch heute wieder am Ruder. Das sind leider keine Einzelfälle, so etwas erleben wir in unserer Beratungsarbeit wöchentlich. Es war absehbar und wurde der Politik vorhergesagt, aber die zogen ihr Ding einfach durch.
Das zweite Problem beschreibt die
Odyssee einer beabsichtigten Fehlinterpretation
am Beispiel von Unterfranken in Bayern. Dort trat das Problem massiv auf, jedoch sind auch aus anderen Teilen Deutschlands solche Probleme bekannt.
Kurz nach der Verabschiedung des Bundesteihabegesetzes, zum Teil noch vor dem 1.1.2017, stellten manche Kostenträger die Zahlung des Pauschalen Pflegegeldes ein. Begründet wurde dies zunächst mit dem Betreuungsgeld. Nach einer Sitzung der KOLS (Konferenz der Obersten Landessozialbehörden) vom 04.05.2017, deren Protokoll vom bayerischen Staatsministerium für Soziales verteilt wurde, nahmen die Sozialbehörden die Zahlung rückwirkend wieder auf. Im Herbst wurden erneut Briefe verschickt. Man hätte festgestellt, dass aufgrund der Regelungen des Pflegestärkungsgesetzes III das Pauschale Pflegegeld nach § 64a bzw. § 63b SGB XII nicht mehr gezahlt werden könne. Die Adressaten sollten ihr Einverständnis zur Zahlungseinstellung erklären.
Dies wurde natürlich mit dem Argument abgelehnt, dass die Regelungen im SGB XII lediglich an eine andere Stelle verschoben wurden. Daraufhin wurden vom Bezirk Unterfranken Einstellungsbescheide verschickt und die Zahlungen eingestellt. In einem Fall kam der Bescheid einen Tag vor Weihnachten. Gegen diese Bescheide wurden Widersprüche eingelegt, über die bis heute noch nicht entschieden ist.
ForseA protestierte im Namen der Mitglieder und wandte sich an das Bayerische Sozialministerium, an die Behindertenbeauftragte des Freistaates, sowie an die Behindertenbeauftragten der Bundestagsfraktionen. Corinna Rüffer (Bündnis 90/GRÜNE) fragte beim BMAS nach und bekam die Antwort, dass es tatsächlich bei den alten Regelungen bleibe und damit Leistungsverschlechterungen gegenüber dem bisherigen Recht damit nicht verbunden sind. Diese Antwort liegt ForseA vor und wurde sowohl dem Bezirk Unterfranken, als auch dem Ministerium in München und der bayerischen Behindertenbeauftragten zugeleitet. Der Bezirk wurde von ForseA aufgefordert, die Bescheide zurückzunehmen und die Zahlungen rückwirkend wieder aufzunehmen.
Daraufhin schrieb uns der Bezirk, dass er das Ministerium um Aufklärung gebeten hat. Dieses wiederum schrieb uns vor einer Woche, dass man den Bezirk und den Bezirketag um eine Stellungnahme gebeten hat. Weiter teilte er mit: "Im nächsten Schritt werden wir an die anderen Bundesländer herantreten, ob auch dort das Problem bereits aufgetreten ist. Wir werden dann ggf. eine gemeinsame Lösung zur Auslegung des dritten Pflegestärkungsgesetzes erarbeiten und bitten Sie um Verständnis, dass der Abstimmungsprozess einige Zeit in Anspruch nehmen wird."
Man sucht also Gleichgesinnte, um das Verfahren noch weiter verzögern zu können. Abschließend versuchte man es noch mit einer Desinformation: "Gleichwohl steht es allen Betroffenen natürlich frei, den Rechtsweg zu wählen. Nach Einlegung eines Widerspruchs ist die zuständige Widerspruchsbehörde dazu verpflichtet, innerhalb von drei Monaten einen Widerspruchsbescheid zu erlassen. Andernfalls besteht nach sechs Monaten die Möglichkeit zur Klageerhebung vor dem Sozialgericht (vgl. § 88 Sozialgerichtsgesetz)." Danach wäre der vierte bis sechste Monat eines Widerspruches eine rechtsfreie Zeit.
Diese Auseinandersetzung wäre nicht möglich, wäre das Bundesteilhabegesetz übersichtlicher gestaltet worden. So aber sind Interpretationsspezialisten wie in Bayern in der Lage, die handwerklichen Schwächen auszunutzen. Das Ganze erinnert fatal an die Einführung der Pflegeversicherung, die erst nach langer Zeit zum Besitzstandspflegegeld geführt hat. Auch damals wurden Formulierungsschwächen gesucht und ausgenutzt.
Leidtragende sind die Menschen mit Behinderung. Es ist ein Unding, dass Zahlungen kurzerhand eingestellt werden! Dieses Geld wird dringend gebraucht, um die behinderungsbedingten Kosten, die nie alle von Kostenträgern getragen werden, zu bestreiten. Das Einstellen der Zahlung ist eine brutale Machtdemonstration auf dem Rücken von Menschen mit Behinderung. Der Verweis auf den Rechtsweg schlägt fehl: Mit einem Beratungsschein in
der Hand ist es sehr schwer, einen Anwalt mit einem freien Termin zu
finden. Armut und Recht kommen selten zusammen.
ForseA übte früh Kritik am Bundesteilhabegesetz!