Phantom Pflegegelddrittel
von Gerhard Bartz
Nicht nur im SGB XI, der Pflegeversicherung, gibt es eine Pflegegeldleistung, im SGB XII, der Sozialhilfe, gibt es zwei Paragrafen, die ebenfalls eine Pflegegeldzahlung vorsehen.
Der Anspruch selbst ist im § 64a, SGB XII Absatz 1 geregelt: „Pflegebedürftige der Pflegegrade 2, 3, 4 oder 5 haben bei häuslicher Pflege Anspruch auf Pflegegeld in Höhe des Pflegegeldes nach § 37 Absatz 1 des Elften Buches. Der Anspruch auf Pflegegeld setzt voraus, dass die Pflegebedürftigen und die Sorgeberechtigten bei pflegebedürftigen Kindern die erforderliche Pflege mit dem Pflegegeld in geeigneter Weise selbst sicherstellen."
Bei behinderten Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern wird nach § 63b Abs. 4 Satz 2 SGB XII die Leistung der Pflegeversicherung voll auf die Erstattung der Assistenzkosten angerechnet: „Die vorrangigen Leistungen des Pflegegeldes für selbst beschaffte Pflegehilfen nach den §§ 37 und 38 des Elften Buches sind anzurechnen.". Um dies auszugleichen, gibt es einen eigenständigen Anspruch auf das Pflegegeld des SGB XII.
Nun ist es aber so, dass die Leistungsbreite des SGB XII über das hinausgeht, was die Pflegeversicherung leisten muss. Im Absatz 5 des § 63b SGB XII hat der Gesetzgeber eine teilweise Anrechnung ermöglicht: „Das Pflegegeld kann um bis zu zwei Drittel gekürzt werden, soweit die Heranziehung einer besonderen Pflegekraft erforderlich ist, Pflegebedürftige Leistungen der Verhinderungspflege nach § 64c oder gleichartige Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erhalten.". Hätte es sich der Gesetzgeber einfach machen wollen, hätte er hier formuliert: „Das Pflegegeld wird um zwei Drittel gekürzt, soweit …". Das tat er aber nicht, sondern hat stattdessen ein doppeltes Ermessen auferlegt. Das Pflegegeld kann gekürzt werden, muss also nicht. Der Kostenträger muss es nachvollziehbar begründen, falls er zu kürzen beabsichtigt. Und dann muss er auch noch nachvollziehbar begründen, wieviel er kürzen möchte. Die zwei Drittel sind das absolute Maximum, mehr darf er nicht kürzen. Weniger schon. Gar nicht also auch.
Doch es hat sich in unserem Land eingebürgert, dass - von Ausnahmen abgesehen - grundsätzlich 2/3 des SGB-XII-Pflegegeldes gekürzt werden. Die Gesetzeslage ignorierend, spricht man gerne von Drittelpflegegeld, bzw. vom Pflegegelddrittel.
Dass es Kostenträger gibt, die nach dem 1.1.2017 das Bundesteilhabegesetz und/oder das Pflegestärkungsgesetz dazu nutzten, die Zahlung des SGB-XII-Pflegegeldes ganz einzustellen, unterstreicht lediglich, dass sie sich ihrer Stärke wohl bewusst sind. Dass sie die neugewonnene Macht missbrauchen, die ihnen vom Gesetzgeber im Bundesteilhabegesetz eingeräumt wird. Hier hat sich die Lobby der Kommunen und der Länder voll ausgezahlt, dafür mussten sie sich weder anketten noch in die Spree baden gehen. Dennoch war ihr Vorgehen unrechtmäßig.
ForseA liegt eine Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vor, die besagt, dass diesen Streichungen die rechtliche Grundlage fehlt. Ähnlich schreibt es auch das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales an ForseA: „Durch die Einführung des dritten Pflegestärkungsgesetzes haben sich zum 01.01.2017 hinsichtlich des Zwecks zur Gewährung des Pflegegelds keine Änderungen ergeben. Das Pflegegeld nach § 64a SGB XII dient auch weiterhin dazu die Pflegebereitschaft der Pflegepersonen zu erhalten bzw. zu fördern. Liegen die Anspruchsvoraussetzungen für ein Pflegegeld nach § 64a SGB XII im Einzelfall vor, ist grundsätzlich auch ein Pflegegeld zu gewähren, dass dann nach § 63b Abs. 5 SGB XII im Falle der Leistungskonkurrenz ggf. zu kürzen ist.". Vorausgegangen war eine monatelange Streichung der SGB-XII-Pflegegelder durch einen der bayerischen Bezirke, die nun rückwirkend wieder aufgehoben wurde.
Festzuhalten bleibt:
- Selbst bei einer 24-Stunden-Assistenz muss mindestens 1/3 des Pflegegeldes bezahlt werden.
- In allen anderen Fällen ist der Anteil der ehrenamtlichen oder familiären Zeiten zu würdigen. Leistet ein Ehegatte oder Elternteil die Nachtbereitschaft, so kann das durch den Verzicht auf die Anrechnung honoriert werden, ohne dass für diese Entgeltzahlungen anerkannt werden müssen. Statt ohne nachzudenken stur die 2/3 des Pflegegeldes zu streichen, könnte mit diesem Werkzeug kreativ umgegangen werden. Kann sich ein behinderter Arbeitgeber vorstellen, in der Nacht auf die Sicherheit einer Bereitschaft des Assistenzteams zu verzichten, weil er zwei, drei Nachbarn hat, die er in Notsituationen anrufen kann, würde dieses ungekürzte Pflegegeld deren Bereitschaft vielleicht günstig beeinflussen. Solange der behinderte Arbeitgeber mit solch einer Konstellation klarkommt, kann der Kostenträger durch Verzicht auf die Streichung Haushaltsmittel sparen.
Es mag schon sein, dass manchen Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern der Kostenträger das Herz blutet, wenn sie nicht zu belegende Pauschalzahlungen womöglich gar an Grundsicherungsempfänger leisten sollen. Wollte dies der Gesetzgeber jedoch so nicht, hätte er das „kann" und „um bis zu" nicht in Gesetzesform gegossen.
Es ist auf jeden Fall ein Unding, wie willkürlich Sozialhilfeträger mit dem Pauschalen Pflegegeld umgehen. Denn für viele pflegenden Angehörige ist es die verbleibende Möglichkeit, den Unterhalt zu bestreiten. Denn der ängstliche Gesetzgeber weigert sich, Angehörigen ein Entgelt zuzugestehen. Nach wie vor gibt es Mütter, die voll einbezogen und dafür mit einem Drittelpflegegeld abgespeist werden. Mütter und behinderte Kinder, die sich gegenseitig als Geiseln nehmen müssen, weil unsere Gesellschaft lieber Spaßbäder finanziert, als für gleichwertige Lebensbedingen zu sorgen.
Zur Erinnerung:
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."
(Artikel 3 GG)
"Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen."
(Bundesverfassungsgericht am 10.10.2014 Az.: 1 BvR 856/13)
"Der Teilhabebedarf besteht im Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile; maßgebliche Vergleichsgruppe ist der nichtbehinderte und nicht sozialhilfebedürftige Mensch vergleichbaren Alters."
(Landessozialgericht Baden-Württemberg am 14.04.2016 Az.: L 7 SO 1119/10)
Was nutzt die beste Verfassung, wenn selektiv festgelegt werden kann, dass den behinderten Menschen nicht alle „Wünsche" erfüllt werden können? Wie kann es sein, dass Politiker Menschenrechte als „Wünsche" abtun, nur weil sie behinderte Menschen betreffen? barWer sind diese Menschen, die sich anmaßen, über die Menschenrechte anderer entscheiden zu können? Warum dürfen Menschen an anderen Menschen Exempel statuieren, um irgendwelche politischen Träume in die Praxis umzusetzen? Die finanzielle Existenz von Menschen mit Behinderung und ihrer Angehörigen ist oftmals „auf Kante genäht". Hier ist kein Platz für willkürliche Leistungseinstellungen. Diese dürften erst dann wirksam werden, wenn sie abschließend rechtlich geprüft sind.