Bundesverband
Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.


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Archiv » Artikel » Zum 10. Todestag unserer Gründungsvorsitzenden Elke Bartz

Gefangen im Kettenkarussell der Diskriminierung

Am morgigen Samstag, 25. August 2018 jährt sich zum zehnten Mal der Todestag unserer Gründungsvorsitzenden Elke Bartz. Ein paar Jahre lang haben wir versucht, ihr Gedächtnis mit der Verleihung des Elke-Bartz-Preises zu bewahren. Dies scheiterte letztendlich daran, dass eine Gruppe aus dem Vorstand versucht hat, dem Verein eine neue Richtung zu geben. Die Hälfte der bisherigen Preisträger haben die Abwehr dieses Versuches zum Anlass genommen, dem Verein den Rücken zu kehren. Damit war klar, dass der Preis seine Wirkung nicht entfaltet hat. Vielleicht kann zu einem späteren Zeitpunkt ein erneuter Versuch gestartet werden. Wahrscheinlich ist es aber nicht. Unsere Selbstbestimmt-Leben-Bewegung entfernt sich nach wie vor vom Gründungsgedanken unseres Vereines. Die körperbehinderten Menschen mit Assistenzbedarf haben sich nun in drei Gruppen gespalten: a) die schwermehrfachbehinderten Menschen, b) die Menschen, die ihre einzelnen Bedarfe nicht mehr nachweisen müssen und c) diejenigen, denen nach wie vor ein erniedrigender Kampf um einzelne Verrichtungszeiten aufgenötigt wird. Hier kommt das Bild des Kettenkarussells ins Spiel. Diese Gruppe sitzt im übertragenen Sinn in dem Korb. Gehalten werden Sie von der Aufhängung am Karussell. Die Sachbearbeiter der Kostenträger bilden diese Aufhängung. Dort wird entschieden, wie sicher das Leben dieser Menschen in unserer Gesellschaft gestaltet werden kann. Mal ist die Kette länger, mal ist sie kürzer - mitunter reißt sie auch und der Mensch im Korb gerät in eine gefährliche Notlage.

Die Geschichte der Hauschild-Schwestern aus Leipzig

Diese Situation ist schon seit Jahrzehnten - von Nuancen abgesehen - auf fatale Weise gleich, sobald ein Mensch mit Behinderung auf Assistenz angewiesen ist. Im Jahre 1997, dem Jahr unserer Vereinsgründung, begann in Leipzig die am Anfang unendlich erscheinende Geschichte der Hauschild-Schwestern, die in einem sieben Jahre langen Kampf das Arbeitgebermodell für sich erstritten. Ihrer Geschichte haben sie aufgeschrieben, um anderen Menschen Mut zu machen und zu zeigen, dass sich das Kämpfen lohnt. Die damals schon der Forderung, die Leistungen zu poolen, widerstanden haben.  Und kämpfen müssen wir Menschen mit behinderungsbedingtem Assistenzbedarf schon immer. Mehrfach habe ich schon Bescheide gesehen, in denen stand, dass unsere Ansprüche dem Steuerzahler nicht zu vermitteln sind. Und schon sind wir in die Bittstellerrolle gedrängt. Dabei nehmen wir nur gesetzlich zustehende Rechte in Anspruch. Aber was ist das für ein Staat, in dem Sachbearbeiter und Politiker nach Gutsherrenart Grundrechte „gewähren", Gesetze anwenden - oder auch nicht?

Aussonderung findet immer noch statt

Nach wie vor werden in Deutschland Menschen ausgesondert. Das fängt im Sonderkinderarten an, und setzt sich über Sonderschulen, Werkstätten für Menschen mit Behinderung, Behindertenanstalten sowie Alten- und Pflegeheimen fort. Ist ein Mensch nur dann ein Mensch, wenn er aktuell oder zukünftig an der Wertschöpfung teilnehmen kann? Da können noch so viele farbige Hochglanzprospekte gedruckt werden. In der Realität werden Menschen mit Unterstützungsbedarf von der Gesellschaft ferngehalten. Ganze Wissenschaftszweige erforschen, wie Menschen mit Behinderung möglichst ökonomisch so leben, dass sie den Rest der Bevölkerung nicht von der Wertschöpfung abhalten. Am Beispiel der Krankheit wird das besonders deutlich: Nach spätestens 78 Wochen ist der kranke Mensch nicht mehr krank, sondern „ausgesteuert". Er wird zwangsverrentet oder fällt in die Sozialhilfe. Viele Krankenkassen warten diese Frist mittlerweile nicht mehr ab. Unter der finanziell veranlassten Vermutung, dass keine Heilung mehr möglich ist, wird sehr viel Druck auf die kranken Menschen ausgeübt, entsprechende Anträge zu stellen.

Menschen, die also für die Volkswirtschaft als Schaden gelten, werden ausgesondert. Nur noch das absolut Notwendigste wird zähneknirschend herausgereicht. Nun muss man angeben, wie oft man am Tag zur Toilette muss, mit Angabe der jeweils benötigen Zeit und natürlich auch den entsprechenden Zeitpunkten. Nicht selten werden diese Intervalle zusammengestrichen und als Alternativen Katheder, Windeln oder Toilettenstühle als Wohnaccessoire zur Auswahl gestellt.

Kampagnen nicht nachhaltig

Bleibt also festzuhalten, trotz der vielen ForseA-Kampagnen hat sich kaum etwas geändert. Besonders deutlich sichtbar wurde das beim Bundesteilhabegesetz: Zunächst wurde uns über Jahre hinweg Interesse geheuchelt. In vielen Veranstaltungen wurden wir angehört. Zahlreiche eigene Besprechungen im BMAS und in den Sozialministerien der Länder erforderten großes Engagement und kosteten auch viel Geld. Als sich am Ende abzeichnete, dass wir von der Politik betrogen werden sollten, gab es zahlreiche Protestveranstaltungen, in Berlin und überall im Land. Ein paar kleine Zugeständnisse gab es. Andere Fiesheiten wurden nochmals in die Zukunft verbannt, damit sie nicht heute schon wehtun.

Betrügerische Politik

Unter dem Vorwand, die Behindertenrechtskonvention (BRK) der Vereinten Nationen umzusetzen, erdreistete man sich, ein solches Gesetz zu verabschieden. Dieses hätte es nach Artikel 4 der BRK nie so geben dürfen. Auch mit unserer Verfassung ist es nicht in Einklang zu bringen. Nach wie vor gilt, dass Menschen mit Behinderung die Kompetenz abgesprochen wird, ihr Leben selbst zu gestalten.

In Deutschland gibt es nach wie vor zwei Wirklichkeiten, die nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun haben:

Die Wirklichkeit aus Sicht der Menschen ohne Behinderung: Ihnen wird eine Situation vorgegaukelt, in der es bunte Bilder in Hochglanzprospekten gibt, tolle Gesetze, die erst bei näherem Hinschauen offenbaren, dass sie aus „kann", „soll" und ähnlichen unkonkreten Festlegungen bestehen. Dass es viele Ermessensspielräume gibt, die bei wohlwollender Betrachtung gut ausschauen.

Die Wirklichkeit aus Sicht der Menschen mit Behinderung: Diese leiden darunter, dass sie nur insoweit frei sind, wie dies Sachbearbeiter zulassen. Diese wiederum treten mit aller Gewalt im Leben dieser Menschen auf. Frei von jeder Haftung, frei sogar von strafrechtlichen Bedrohungen wird gelogen, betrogen, erpresst. Sachbearbeiter haben alle Zeit der Welt. Sie gehen in Rente, werden krank, gehen in Urlaub, wechseln. Alles Gründe, die Verfahren endlos in die Länge zu ziehen. Antragsteller haben diese Zeit nicht, sie werden in ihren Notlagen alleine gelassen. Per amtlicher Feststellung wechselt die Sachbearbeitung vom überregionalen oder regionalen Kostenträger und schon beginnt das Sch…Spiel von vorn. Mitunter reicht hierzu sogar ein Sachbearbeiterwechsel innerhalb der Behörde. Ein Umzug in eine andere Stadt ist mit unwägbaren Risiken verbunden und sollte gut überlegt sein.

Um wieder auf das Kettenkarussell zurückzukommen: Diese Maschinen gibt es auch schon lange. Ebenso der Umgang unserer Gesellschaft mit behinderten Menschen. Der Nichtbehinderte, nichtalte Mensch könnte wissen, wie es um die Lebensumstände behinderter und alter Menschen bestellt ist. Aber er verdrängt das Wissen. Schließlich ist er weder alt noch behindert. Und wenn irgendwann doch, dann ist es für ihn auch zu spät.

Wir müssen wirksam und nachhaltig werden

Menschen mit Behinderung müssen erreichen, dass sie Wirkung erzielen. Der erste Schritt muss sein, dass sie endlich aufhören, sich auseinanderdividieren zu lassen. Unsere Kräfte sind begrenzt und so kostbar, dass wir diese gezielt einsetzen müssen. Und im zweiten Schritt müssen wir die Öffentlichkeit erreichen. Wir müssen ihr klar machen, dass sie derzeit ihre eigene Zukunft verkonsumieren. Ihr wird immer erzählt, dass alte, kranke und behinderte Menschen auf Kosten der Jugend leben. Das ist grottenfalsch. Die Einkommen dieser Jugend sollen in den Konsum fließen, und sei er noch so sinnlos. Aufwände in die kollektive Zukunftssicherung würden der Wirtschaft Umsätze kosten. Dies ist um jeden Preis zu verhindern.

Resume

Elke hat den Verein 1997 gegründet. Seither haben wir zig Menschen geholfen, die Assistenzprobleme hatten. Aber im politischen Bereich haben wir keinen Millimeter an Boden gewonnen. Wir haben zwar den Artikel 3 GG. Aber viele von uns glauben selbst nicht an dessen Wirksamkeit, sie wurde uns - selbst aus den „eigenen" Reihen - ausgeredet.

„Seid wachsam. Seid achtsam. Sucht euch Freunde. Der Rest kommt von alleine.", so Elke in ihrem letzten Interview mit Heike Zirden von der Aktion Mensch. Sehr viele Freunde haben seither ForseA verlassen, meist wegen sehr kurzfristigen Überlegungen. Strategisch haben sie sich und uns alle damit geschwächt. Und eine Besserung ist nicht in Sicht. Die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung beansprucht viele Kapazitäten, ohne dass sie wirkliche Wirksamkeit entfalten kann. Denn hier sind enge Grenzen gesetzt. Auch das ist Strategie, leider nicht unsere, sondern zu unseren Lasten! Und das Ende dieser Aktion könnte für viele erschreckend sein.

Link zur Elke-Bartz-Gedenkseite

Link zum Nachruf von Jens Bertrams zum 1. Todestag

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