Unsere Meinung zum SGB IX und weiteren Gesetzesvorhaben
Anhörung der verpassten Chancen!?
Nach dem geplanten Gleichstellungsgesetz wäre ein
eigenständiges Leistungsgesetz die richtige Basis zur tatsächlichen
Gleichstellung und Teilhabe in allen Bereichen des täglichen Lebens. Mit
einem Leistungsgesetz kann der Gesetzgeber beweisen, dass es ihm wirklich Ernst
damit ist, behinderte Menschen als gleichberechtigte Bürgerinnen mit
gleichen Chancen anzuerkennen und nicht weiter als Fürsorgeobjekte zu
behandeln, nur weil sie auf Leistung wie Assistenz usw. angewiesen sind.
Zweifelsohne ist es als Erfolg zu werten, dass mit dem
künftigen SGB IX ein Gesetz zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter
Menschen geschaffen werden soll. Es gibt sicherlich positive Regelungen im SGB
IX. Doch bedarf es bis zum endgültigen Inkrafttreten etlicher
Änderungen und Ergänzungen, damit es nicht zur Enttäuschung
für viele wird. Noch ist das SGB IX ein "Ja-aber-Gesetz", das viele
Rechts-Unsicherheiten und Defizite mit sich bringt (siehe auch unsere
Stellungnahme.
Ohne Karl-Hermann Haack, dem Beauftragten der Bundesregierung
für die Belange der Behinderten, wäre der Gesetzesentwurf vermutlich
noch lange nicht so weit fortgeschritten wie er es jetzt ist. Man denke nur an
die Pflegeversicherung, die mehr als zwanzig Jahre "Vorlaufzeit"
benötigte. Was die Pflegeversicherung letztendlich behinderten, chronisch
kranken und alten Menschen brachte bzw. nicht brachte, ist jedoch hinreichend
bekannt.
Am 19. und 20. Februar fand im Ausschuss für Arbeit und
Sozialordnung des Deutschen Bundestages eine Anhörung statt.
Behindertenverbände, Kostenträger und Leistungserbringer hatten
Gelegenheit, zum Gesetzesvorhaben Stellung zu nehmen. Doch es war seltsam: Bis
auf ganz wenige Ausnahmen gab es - im Gegensatz zu den schriftlichen
Stellungnahmen, die als Ausschussdrucksachen 14/1298, 14/1299 bezogen werden
können - kaum konstruktive Kritik sondern eher Lobhudeleien. Unserer
Meinung nach verpasste Chancen, vor der zweiten und dritten Lesung im Bundestag
noch einmal positiven Einfluss nehmen zu können.
Schon jetzt haben Leistungserbringer und Kostenträger klar
gemacht, wie sie einzelne Textpassagen des SGB IX bewerten bzw. auslegen. Macht
der Gesetzgeber seinen Willen nicht wesentlich deutlicher, steht zu
befürchten, dass es ähnlich wie bei Artikel 51
Pflegeversicherungsgesetz vor sechs Jahren (Besitzstandsschutz) zu verdrehten
Auslegungen mit der Folge einer Lawine von Gerichtsverfahren gibt.
Aus Sicht des ForseA ist ein besonderer "Knackpunkt" die
Tatsache, dass die persönliche Assistenz im Privatbereich im SGB IX
keinerlei Berücksichtigung findet. Damit bleiben AssistenznehmerInnen nach
wie vor auf Gnade oder besser Ungnade der Leistungen nach dem
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) angewiesen und der berüchtigte § 3a
BSHG als "Heimeinweisungsparagraf" gefürchtet. Damit verbunden ist
ebenfalls, nach wie vor ein Leben auf Sozialhilfeniveau fristen zu
müssen.
Dies gilt im Ãœbrigen auch bei allen anderen
Sozialhilfeleistungen, da zwar die Sozialhilfeträger in den Kreis der
Rehabilitationsträger aufgenommen werden, die Leistung jedoch nur
einkommens- und vermögensabhängig bleiben.
Kein Wunder, dass der Ruf nach einem eigenständigen
Leistungsgesetz immer lauter wird. Das SGB IX kann nur ein Schritt auf dem Weg
zur gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen sein. Weitere müssen
folgen!
Elke Bartz
Vorsitzende des Forums selbstbestimmter Assistenz
behinderter Menschen
- Anhörung im Deutschen Bundestag
Anhörung zum Sozialgesetzbuch IX des Ausschusses für
Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages im Reichstag
Stellungnahme zum SGB IX
Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für Arbeit
und Sozialordnung des Deutschen Bundestages zum Gesetzesentwurf für ein
Sozialgesetzbuch IX am 19./20 Februar 2001 von Elke Bartz, Vorsitzende des
Forums selbstbestimmter
Assistenz behinderter Menschen
Das Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen,
ForseA e.V., begrüßt grundsätzlich die Schaffung eines
eigenständigen Gesetzes zur Rehabilitation und Sicherung der Teilhabe
behinderter Menschen in allen Bereichen des Lebens in der Gemeinschaft.
Weiterhin begrüßen wir die Beteiligung der Selbsthilfeverbände
bei der Konzipierung des Neunten Buches Gesetzbuch, SGB IX. Es gilt, ein Gesetz
zu schaffen, das den individuellen Lebenssituationen der Menschen mit
Behinderungen gerecht wird, deren Selbstbestimmung fördert und
Wahlfreiheit garantiert. Es gilt weiterhin, Ungerechtigkeiten und
Unstimmigkeiten zu vermeiden, sowie den Willen des Gesetzgebers deutlich zu
formulieren, um Fehlinterpretationen und Anwendungsmissbräuchen
vorzubeugen.
Zu den Inhalten des SGB IX:
In Kapitel 1 Allgemeine Regelungen unter § 9 (2) wie auch
etlicher weiterer Paragrafen können an Stelle von Sachleistungen auch
Geldleistungen erbracht werden, wenn diese "....wirtschaftlich zumindest
gleichwertig ausgeführt werden können....". Faktisch bedeutet
dies, dass Sachleistungen durchaus kostenintensiver als Geldleistung sein
dürfen. Das Gleiche gilt jedoch nicht umgekehrt. Damit wird das Wahlrecht
der Leistungsberechtigten stark eingeschränkt.
Teil 1
Zu Kapitel 1
§ 13 (6) Gemeinsame Empfehlungen. "...Ihren Anliegen
(der Verbände behinderter Menschen etc. Anm.) wird nach Möglichkeit
Rechnung getragen..." Der Zusatz nach Möglichkeit weicht das
Beteiligungsrecht der Verbände behinderter Menschen etc. auf. Sie gelten
dadurch nicht als gleichwertige Verhandlungs- und Beratungspartner.
§ 14 (2) Zuständigkeitsklärung. Es werden zwar
Fristen zur Bearbeitung von Anträgen definiert. Wird jedoch ein Gutachten
erforderlich, ist für die Erstellung des Gutachtens keine Frist
vorgeschrieben. Damit kann das Antragsverfahren wieder unzumutbar
verzögert werden. Dies führt u.a. zu Rechtsunsicherheiten für
die Leistungsberechtigten, da diese in der Regel nicht wissen, ab welchem
Zeitraum sie Leistungen wegen Bearbeitungsverzögerungen selbst
vorfinanzieren und rückfordern können (§ 15).
§ 15, Erstattung selbstbeschaffter Leistungen,
"...können Leistungsberechtigte dem Rehabilitationsträger eine
angemessene Frist setzen...." Die Angemessenheit der Frist ist nicht
ausreichend definiert. Damit liegt das volle Risiko, die Kosten für
selbstbeschaffte Leistungen nicht erstattet zu bekommen, beim
Leistungsberechtigten. Im Zweifelsfall wird sich der zuständige
Rehabilitationsträger auf eine Unangemessenheit der Frist berufen, was die
Leistungsberechtigten häufig in Gerichtsverfahren zur Klärung zwingen
wird. Ein weiterer Risikofaktor für die Leistungsberechtigten ist die
Tatsache, in der Regel nicht wissen (zu können), wie hoch die Kosten der
letztendlich bewilligten Leistungen sein werden. Sollten die ansonsten zu Recht
selbstbeschafften Leistungen kostenintensiver sein, muss der
Leistungsberechtigte die Mehrkosten in jedem Fall selbst tragen.
Zu Kapitel 2, Ausführung von Leistungen zur Teilhabe
§ 18 Leistungsort
"Sachleistungen können auch im Ausland..." zu
ergänzen ist "und Geldleistungen" da ansonsten die
Wahlmöglichkeit der Leistungsberechtigten unangemessen eingeschränkt
wird. Weiterhin wird die Freizügigkeit behinderter Menschen unangemessen
eingeschränkt, wenn diese Leistungen nur in Mitgliedsstaaten der
Europäischen Union und nicht im sonstigen Ausland erbracht werden.
§ 20 (3) Qualitätssicherung
"...Deren Anliegen wird bei der Ausgestaltung der
Empfehlungen nach Möglichkeit Rechnung getragen." Auch hier werden
die Verbände behinderter Menschen etc. durch den Zusatz "nach
Möglichkeit" nicht als gleichwertige Verhandlungspartner anerkannt.
§ 21 (2) 4. und 6. Verträge mit Leistungserbringern
"...angemessene Mitwirkungsmöglichkeiten" und
"angemessener Anteil behinderter Frauen". Es steht zu
befürchten, dass der schwammige Begriff der Angemessenheit, wie
häufig in der Praxis erwiesen, zu ungunsten der Leistungsberechtigten
ausgelegt wird.
Zu Kapitel 4, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
§ 29 Förderung der Selbsthilfe. Selbsthilfegruppen,
-organisationen und -kontaktstellen leisten nicht nur im Bereich der
medizinischen, sondern auch der beruflichen und sozialen Rehabilitation
wertvolle Arbeit, die sich letztendlich auch kostensenkend für die
Rehabilitationsträger auswirkt. Daher dürfen Leistungen zur
Selbsthilfeförderung nicht nur im medizinischen Bereich zur Verfügung
gestellt werden.
Zu Kapitel 5, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
§ 33 (8) 2. "...Verdienstausfalls des behinderten
Menschen oder einer erforderlichen Begleitperson..." Vor dem Wort
"oder" ist "und/oder einzufügen, da sowohl die einen als
auch die anderen Leistungen notwendig sein können.
§ 33 (8) 3. Es wird immer eine Anzahl von schwerbehinderten
Menschen geben, die trotz entsprechender Qualifikation auf unbegrenzte Zeit auf
Arbeitsassistenz angewiesen sind. So wird z.B. selbst der bestqualifizierteste
mit einer Muskelerkrankung lebende Arbeitnehmer nicht plötzlich nach drei
Jahren den Aktenordner selbst aus dem Regal holen können. Es wäre
fatal, diese stets auf Arbeitsassistenz Angewiesenen nach drei Jahren wieder
vom Arbeitsmarkt auszugliedern.
Dies gilt im Übrigen für alle
Befristungen von Leistungen, ohne welche die behinderten ArbeitgeberInnen ihre
Berufstätigkeit aufgeben müssten.
Zu Kapitel 7
§ 55 Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
Mobilität ist ein Grundbedürfnis unserer modernen
Gesellschaft. Noch immer werden Menschen mit Behinderungen in ihrer
Mobilität behindert, da sie öffentliche Verkehrsmittel nicht
uneingeschränkt nutzen können, Hilfsmittel mitführen
müssen, etc. Hilfen zur Mobilität sind daher eine wichtige
Grundvoraussetzung zur Teilhabe in der Gemeinschaft. Diese wären unter
Punkt 8 anzuführen.
§ 57 Förderung der Verständigung
Kommunikation ist Grundvoraussetzung für ein
gleichberechtigtes Leben in der Gemeinschaft. Hilfen zur Verständigung
dürfen daher nicht nur "...aus besonderem Anlass..."
gewährt werden.
§ 58 Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und
kulturellen Leben
2. Hilfen zur Förderung der Begegnung und des Umgangs mit
nichtbehinderten Menschen.
Die explizite Erwähnung "nichtbehinderten
Menschen" beinhaltet eine Diskriminierung behinderter Menschen. Sie
suggeriert, dass die Begegnung mit anderen behinderten Menschen nicht
gleichwertig und damit nicht gleich förderungswürdig ist. Richtig
wäre die Formulierung "mit anderen Menschen" oder "mit
nichtbehinderten und behinderten Menschen".
Teil 2
Besondere Regelungen zur Teilhabe behinderter Menschen
Kapitel 2, Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber
§ 72 Beschäftigung besonderer Gruppen
schwerbehinderter Menschen
(1) und (2) Der Begriff "angemessen" definiert nicht
ausreichend den jeweiligen Rechtsanspruch des behinderten Menschen bzw. die
jeweilige rechtliche Verpflichtung der Arbeitgeber.
Auch im weiteren Gesetzestext wird der Begriff der
Angemessenheit häufig verwendet. Aus Platzgründen wird auf eine
weitere Auflistung verzichtet. Wir möchten jedoch nochmals
ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Ungenauigkeit des Begriffes in der
Praxis zu starken Rechtsunsicherheiten führen, die vermutlich nicht selten
in (kostenintensiven) Rechtsverfahren geklärt werden müssen.
Artikel 15, Änderung des Bundessozialhilfegesetzes
Das ForseA begrüßt die Herausnahme des
ursprünglich in früheren Entwürfen vorgesehenen § 143a
BSHG. Es ist jedoch zu befürchten, dass der an seine Stelle
eingefügte § 40a BSHG, Sonderregelungen für behinderte Menschen
in Einrichtungen, ähnliche Auswirkungen haben wird, wie sie von §
143a zu erwarten waren, nämlich dass behinderte Menschen gegen ihren
Willen in eine andere Einrichtung verlegt werden können. Auch hier werden
nur "angemessene Wünsche" der behinderten Menschen
berücksichtigt. Die Angemessenheit stellt keinerlei Schutz der Betroffenen
dar, da sie nicht von ihnen selbst definiert wird. Diese neue Regelung
würde zudem alle HeimbewohnerInnen treffen, da sie Im Gegensatz zu §
143a keinen Bestandsschutz für sogenannte Altfälle beinhalten.
Zur Begründung zu Teil 1, Kapitel 1, § 1. Dort
heißt es: "Der in seiner Zielsetzung umfassende Ansatz bezieht alle
Lebensumstände behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen
ein,.."
Dies ist nach unserer Bewertung leider nicht der Fall, denn
das Angewiesensein auf persönliche Assistenz (Pflege und sonstige
Hilfeleistungen) ist im SGB IX in keinster Weise berücksichtigt. Doch
gerade diese Hilfen bilden für auf Assistenz Angewiesene die Basis, um
überhaupt am berufliche und gesellschaftlichen Leben teilhaben zu
können. Weiterhin stellt die Nachrangigkeit der Leistungen nach dem BSHG
eine gravierende Benachteiligung der Betroffenen dar. Gleichgültig, wie
leistungsfähig sie sind, wie weit sie sich beruflich qualifizieren und
engagieren: sie selbst und ihre Angehörigen müssen stets ein Leben
auf Sozialhilfeniveau fristen.
Weiterhin beinhaltet § 3a BSHG die stete Bedrohung
für die Betroffenen, gegen den Willen aus dem sozialen Umfeld heraus in
eine Anstalt verwiesen zu werden oder unterversorgt zu Hause zu bleiben, wenn
die ambulante Versorgung (vermeintlich) kostenintensiver als die
stationäre ist.
Zwar werden die Sozialhilfeträger mit Schaffung des SGB
IX zu den Rehabilitationsträgern gezählt. Da jedoch die
Nachrangigkeit (ebenso Einkommens- und Vermögensabhängigkeit ) auch
im Bereich der Eingliederungshilfen beibehalten wird, erhalten Menschen mit
Behinderungen die Leistungen nach dem BSHG nach wie vor nicht als
Nachteilsausgleiche, sondern stets mit für sie negativen finanziellen
Folgen (siehe oben).
Zu § 23 Servicestellen
Verbände, Selbsthilfegruppen etc. erhalten Gelegenheit,
sich an den Servicestellen zu beteiligen. Eine Kostenerstattung dafür ist
jedoch nicht vorgesehen. Insbesondere für kleinere Organisationen, die
dennoch gute und effektive Arbeit leisten, kann dies zur Folge haben, dass
diese ihre Arbeit mangels finanzieller Mittel nicht einbringen können.
Das ForseA hofft, dass die eigenen und auch die berechtigten
Anmerkungen anderer Selbsthilfeorganisationen und Träger der
Wohlfahrtsverbände in der endgültigen Fassung Berücksichtigung
finden, damit die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
tatsächlich stattfinden kann.
bundesweites, verbandsübergreifendes
Forum
selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen (ForseA) e.V.
Elke Bartz,
Vorsitzende
im Februar 2001