Bundesverband
Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.


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19.09.2016 Teilhabegesetz für Kostenträger

Teilhabegesetz für Kostenträger

Zunehmend verfestigt sich der Gedanke, dass der Fokus der Regierung eher auf das Wohlergehen der Kostenträger gerichtet ist als das auf der Bürgerinnen und Bürger. Dabei hat die Regierung doch auf genau diese ihren Diensteid geschworen. Vielleicht hat sie dabei nicht daran gedacht, dass diese auch behindert sein könnten? Wie dem auch sei, zwischen Schein und Sein klafft eine Lücke, die auch mit dem Grand Canyon in Konkurrenz treten könnte. Zum Schein gab es einen jahrelangen Beteiligungsprozess, zu dem sich die Regierung ja verpflichtet hatte. Heerscharen behinderter Bürgerinnen und Bürger pilgerten an die Regierungssitze, um den Regierungen des Bundes und der Länder ihre Kriterien eines guten, fairen Teilhabegesetzes mitzuteilen. Da sich die Behindertenrechtskonvention nach dem erklärten Willen der Vereinten Nationen innerhalb der ohnehin vereinbarten Allgemeinen Menschenrechte bewegte, dachten wohl viele, es wäre ein leichter Weg. Manche, die zu Kaffee und Schnittchen Einzelgespräche im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) vereinbaren konnten, freuten sich über offene Ohren dort. Dass diese nach beiden Seiten offen waren, wurde erst später klar. Entsprechend dann die Ernüchterung, als der Referentenentwurf zum Teilhabegesetz veröffentlicht wurde.

Es gab Warnungen

Die stringente Arbeitsweise des BMAS konnte man bereits daran erkennen, als eine interessengeleitete Übersetzung in die Deutsche Sprache veröffentlicht wurde. Als kürzlich Österreich nach UN-Vorgaben eine neue Übersetzung gesetzlich verabschiedete, weigerten sich die Schweiz und Deutschland, diese Übersetzung zu übernehmen (kobinet-Nachricht vom 04.07.2016 Warum aus Österreich eine korrigierte deutsche Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention kommt). Gerichte in Deutschland dürfen sich ohnehin nur an den in den amtlichen Sprachen der Vereinten Nationen veröffentlichten Übersetzungen orientieren. Daher ist es offensichtlich, dass die Regierung bestrebt ist, seinen Bürgerinnen und Bürgern den wahren Sinn der Konvention vorzuenthalten. Ein Schuft, der Böses dabei denkt?

Schaut man nun die Nationalen Aktionspläne Deutschlands und den Staatenbericht Deutschlands an, kann man nur staunen, wie freihändig die Bundesregierung mit der Realität behinderter Menschen in unserem Land umgeht.

Wir hätten also gewarnt sein können. Aber wir waren eingelullt, Begeistert von farbigen Drucksachen und tollen Veranstaltungen lebten wir in Trance. Das Erwachen war dann auch entsprechende schmerzhaft. Auf nahezu 400 Seiten wurden wir mit einem Gesetzentwurf konfrontiert, mit dem wir in diesem Leben nicht gerechnet hätten. Hier kam nun der Gegenteil des schönen Scheins, die harte Realität des Seins ans Tageslicht. Schnell zeigte es sich, dass es nicht "wir" waren, welche die Feder des BMAS geführt haben. Unbeachtet von der Öffentlichkeit wurde in vertrauter Gemeinsamkeit der "Sozial"-Politiker, der Kostenträger und sicherlich auch der Wohlfahrtskonzerne ein Papier zusammengeschustert, das seinem Sinn und Zweck Lügen straft. Diese beginnt bereits in der Überschrift: "Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen". Ohne uns festlegen zu wollen: Die Zahl der Abweichungen von den durchaus geschürten Erwartungen liegt sicherlich im dreistelligen Bereich. Da man auch noch die Bearbeitungszeit durch hinausgezögerte Veröffentlichungen künstlich verkürzte, hat es vermutlich niemand geschafft, den Entwurf in der gebotenen Sorgfalt zu prüfen und diese zu dokumentieren. Die meisten Kommentatoren beschränkten sich darauf, bereits bekannte Fallstricke zu suchen und diese zu kritisieren. Die Gefahr ist riesengroß, dass noch sehr viele Gemeinheiten so gut im Gestrüpp des Entwurfes stecken, die noch nicht entdeckt wurden und uns später schmerzhaft auf die Füße fallen.

Und nun?

Nach wie vor könnten wir uns darauf verlassen, dass Deutschland die Behindertenrechtskonvention einhält. Im Artikel 4 der Konvention hat sie folgende Regelungen mit unterschrieben: Dass sie bestehende Gesetze, soweit sie nicht konventionskonform sind, ändert oder aufhebt und Handlungen oder Praktiken, die mit diesem Übereinkommen unvereinbar sind, zu unterlassen, auch dafür zu sorgen, dass die Träger der öffentlichen Gewalt und öffentliche Einrichtungen im Einklang mit diesem Übereinkommen handeln. Eigentlich hat es eine Regierung nicht verdient, dass ihr mit soviel Misstrauen begegnet wird. Diese Regierung aufgrund des unsäglichen Umgangs mit unseren Rechten schon. Da sich diese Unlauterkeit sicherlich nicht nur im Umgang mit Behindertenrechten wiederspiegelt, hat sie sich die Distanz der Menschen im Land zu ihrer Politik "redlich" verdient. So ist mit dieser Regierung kein Staat zu machen.

Bundesteilhabegesetz wird dringend gebraucht

In der letzten Woche schlossen wir unsere Seminare für dieses Jahr ab. Auch in diesem Jahr waren beide Seminare sehr gut besucht. Aufgrund der von den Seminarteilnehmern geschilderten Probleme könnte man durchaus zu dem Schluss gelangen, dass die Kostenträger heute schon dem Anarchismus anheimfallen.

In ganzen Regionen wie zum Beispiel im Bereich des Landschaftsverbandes Rheinland werden den Menschen das pauschales Pflegegeld nach § 64 SGB XII, das laut § 66 SGB XII um bis zu 2/3 gestrichen werden kann, zur Gänze weggenommen. Begründungen erspart man sich. Derselbe überregionale Sozialhilfeträger deckelt den Stundenlohn auf 11 Euro, ohne damit der Besonderheit des Einzelfalls Rechnung zu tragen. Die Bestätigung des Landessozialgericht NRW, dass die Lohnempfehlung unseres ausdrücklich erwähnten Vereins (TvÖD-K EG 4a Stufe 2 in einer derzeitigen Höhe von 13,79 € (West)) durchaus angemessen ist, stört ihn überhaupt nicht.

Andere Länder, andere Sitten: In Thüringen lassen zusammengestrichene Bedarfe darauf schließen, dass bei einer Budgethöhe von 6000 Euro Schluss ist. Manche Sozialämter gehen vom Mindestlohn aus. Dass dieser bei Bereitschaftszeiten auch noch unterschritten wird, ignoriert man eindeutig das Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichtes. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass man für diesen Lohn nicht die Leute anspricht, auf deren Unterstützung wir dringend angewiesen sind. Die Aufgaben unserer Behindertenassistentinnen und -Assistenten sind umfangreich, vielseitig und verlangen Verantwortungsbewusstsein und Belastbarkeit. Kostenträger dagegen gehen anscheinend immer noch davon aus, dass sie Menschen dafür bezahlen, dass diese uns durch den Park schieben.

Menschen mit Behinderung warten seit 2009 darauf, dass durch die Behindertenrechtskonvention Verbesserungen ihrer Lebenssituation, die auch heute noch viel zu oft von zermürbenden belastenden und menschenverachtenden Auseinandersetzungen geprägt ist, eintreten. Was ist das für eine Gesellschaft, die nach wie vor die Aussonderung, Diskriminierungen, Erpressungen, Betrügereien zu unserem Nachteil zulässt? Es muss so sein, denn sonst würden Sozialverwaltungen und die Politik dieses Verhalten behinderten Menschen gegenüber nicht wagen.

Kein Zurück!

Nein, es ist unser Gesetz und wir werden es nicht beerdigen, denn wir unterstellen, dass genau dies eines der Pläne der Sozialdemokratin Nahles gewesen wäre. Dann würden wir sicherlich wieder über lange Jahre der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention hinterherlaufen bzw. -rollen. Jede/r davon Betroffene müsste sein Recht vor Gericht erstreiten. Dort wird angesichts der ungepflegten, veralteten Gesetze heute bereits die Konvention herangezogen, in Stuttgart beispielsweise im Landessozialgericht die französische Übersetzung.

Wir müssen abwarten, wie das Gesetz, nachdem es die Hürden Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident genommen hat, ausschaut. Und gegebenenfalls danach klagen bis vor das Bundesverfassungsgericht. Denn das Gesetz ist Lichtjahre von der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention aber auch von unserer Verfassung entfernt.

September 2016

Gerhard Bartz
ForseA-Vorsitzender

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