Quo vadis Menschenwürde?
von Elke Bartz
im Dezember 1998
Mainz im November 1998. Das ZsL Mainz veranstaltete eine Tagung zum
Thema behinderte Menschen und Arbeit. Es war eine hervorragend organisierte
Tagung, an der über 120 behinderte und nichtbehinderte Menschen
teilnahmen. Das überaus große Interesse bewies, welchen Stellenwert
Arbeit und Berufstätigkeit auch für behinderte Menschen in
unserer leistungsorientierten Gesellschaft habt.
Arbeit bedeutet nicht nur Broterwerb, sondern ist in der Regel auch
gesellschaftlicher Status, Anerkennung. Darum sind solche Veranstaltungen
wie die Mainzer auch wichtig und unbedingt notwendig.
München (und viele andere Städte) im November 1998. In Pflegeheimen
liegen Frauen und Männer, die mit und ohne richterliche Anordnung
mit Gurten in ihren Betten fixiert werden, die nicht verstehen, warum
sie sich nicht mehr bewegen dürfen, warum ihnen niemand hilft.
Für die Erarbeitung von Verbesserungen ihres Alltagslebens gibt
es kaum Tagungen. Und falls doch, freuen sich die Veranstalter, wenn
die Teilnehmerzahl den zweistelligen Bereich erreicht.
Wenn RollstuhlfahrerInnen aus feuertechnischen Gründen aus einem
Kino gewiesen werden, wenn hörbehinderte Menschen in Theatersälen
keine Hörschlangen vorfinden, wenn qualifizierte BewerberInnen
nur wegen ihrer Beeinträchtigungen den Arbeitsplatz nicht bekommen,
sind das Benachteiligungen und Verletzungen der Grundrechte, die nicht
hingenommen werden dürfen, die abgeschafft werden müssen.
Wenn man jedoch schon von eklatanten Menschenrechtsverletzungen spricht,
weil ein rollstuhlbenutzender Mensch wegen mehrerer Stufen in einem
bestimmten Geschäft nicht einkaufen kann, wird es gefährlich.
Gefährlich nicht für den Rollstuhlbenutzer, der zurecht frustriert
unverrichteter Dinge nach Hause fahren muß, sondern gefährlich
für Menschen, die zum Überleben und zur Wahrung ihrer Menschenwürde
auf Pflegeleistungen angewiesen sind und diese nicht erhalten.
Denn es stehen keine Superlativen mehr zur Verfügung, wenn es tatsächlich
um eklatante Menschenrechtsverletzungen geht, wenn Menschen außerhalb
zwingender medizinischer Notwendigkeiten Magensonden gelegt bekommen,
weil niemand Zeit hat, ihnen das Essen zu geben, wenn ebenso Blasenkatheter
verabreicht werden, weil die Zeit für die Hilfe beim Toilettengang
fehlt, wenn diese Mißhandlungen als „pflegeerleichternde
Maßnahmen" nicht nur hingenommen, sondern häufig sogar
(z.B. von den Gutachtern der Medizinischen Dienste der Krankenkassen)
forciert werden.
Oder zählt Menschenwürde tatsächlich so wenig? Hat die
Befriedigung selbst elementarster Bedürfnisse wirklich nichts mehr
mit Menschenrechten zu tun? Ist Lebensqualität für behinderte,
chronisch kranke und alte Menschen nur Luxus, den niemand bezahlen will?
Wo bleibt die Solidarität?
Behinderte und chronisch kranke Menschen kämpfen zunehmend für
ihr Recht auf Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in allen Bereichen.
Viele mußten etliche Jahre in Sondereinrichtungen verbringen,
sei es in Sonderkindergärten, - schulen, Internaten oder Pflegeanstalten.
Sie wissen aus eigenen Erfahrungen, was es bedeutet, gegen den Willen
ausgesondert zu werden, von welchen strukturellen Zwängen ein solches
Dasein bestimmt wird.
Die aktuelle Gesetzgebung (z.B. §3a BSHG) gibt den Kostenträgern
scheinbar das notwendige Werkzeug in die Hand, Menschen aus Kostengründen
aus der Gesellschaft zu entfernen. Die Pflegeversicherung hat das ihre
dazugetan, indem sie „pflegebedürftige" Menschen ausschließlich
als medizinisch defizitäre Objekte behandelt.
Die Sozialhilfeträger nutzen die vermeintliche Gelegenheit, Leistungen
zu Lasten der Betroffenen zu kürzen oder gar ganz zu verweigern.
Bei korrekter Anwendung der Gesetze bietet sich zwar nach wie vor die
Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben mit Assistenz zu führen.
Doch diejenigen, die sich im Gesetzesdschungel nicht auskennen oder
adäquat beraten werden, bleiben auf der Strecke. Die Bedeutung
des peer counseling, der Beratung von Betroffenen für Betroffene,
ist notwendiger denn je. Sie bietet die Chance, Kenntnisse im Umgang
mit Behörden zu erwerben und Rechte einzufordern.Und wer kümmert
sich um die alten Menschen in den Anstalten, die keine Kraft mehr zum
Kämpfen haben? Hört die Menschenwürde tatsächlich
am Pflegebett auf? Sind alte Menschen nur noch Aufbewahrungsobjekte,
deren Sterben auf Raten zum Alltag gehört?
Fragen über Fragen, die sich aufdrängen, wenn man die aktuelle
Politik und den Umgang der Kostenträger mit den Menschen beobachtet.
Wer keine Leistung (mehr) erbringen kann, sondern im Gegenteil beanspruchen
muß, wird schnell zur Manöveriermasse der Kostenträger
mit dem Ziel, bis zur „biologischen Endlösung" so wenig
Kosten als möglich zu verursachen.
Gerade alte Menschen, die auf Hilfeleistungen anderer angewiesen sind,
zählen zu den schwächsten Gliedern der Gesellschaft. Dennoch
erfahren sie die wenigste Solidarität. Sie sind nicht mehr in der
Lage, sich selbst zu helfen, benötigen das Verständnis und
die Unterstützung anderer.
Daß sie Wünsche und Bedürfnisse haben, die über
die reinen lebenserhaltenden Maßnahmen hinausgehen, wird ihnen
jedoch häufig abgesprochen. Sicher werden die wenigsten von ihnen
eine Disco besuchen wollen. Doch warum soll der Besuch eines Kirchenkonzertes
oder einer Theaterveranstaltung weniger wichtig sein?
Doch viele alte Menschen in Anstalten wagen gar nicht mehr, von solchem
„Luxus" zu träumen. Sie wären froh, regelmäßig
gewaschen zu werden, Hilfe beim An- und Auskleiden zu bekommen, oder
im Sommer mal mit dem Rollstuhl auf den Balkon geschoben zu werden.
Seit etlichen Monaten sind die sogenannten Münchner Altenheimskandale
bekannt. Reaktionen von Angehörigen und Pflegepersonal aus vielen anderen
Städten beweisen, daß in München keine grausame Ausnahmesituation
herrscht.
Claus Fussek, der maßgeblich an der Aufdeckung der Münchner
Menschenrechtsverletzungen beteiligt ist, spricht von einer „Allianz
des Schweigens", denn sowohl Angehörige, PflegerInnen, Anstaltsleitungen,
ÄrztInnen, Heimaufsichten und PoltikerInnen wissen vom menschenverachtenden
Umgang mit alten Frauen und Männern. Doch außer ein paar
Statements in den Medien seitens der Verantwortlichen hat sich nichts
gravierendes am Anstaltsalltag für die Betroffenen geändert.
Nach wie vor ist das Pflegepersonal völlig überlastet, weil
das Durchschnittsalter und damit verbunden der Pflegebedarf der AnstaltsbewohnerInnen
ständig steigt, ohne daß der Pflegeschlüssel angehoben
wird. Es gibt Anstalten, in denen eine einzige Nachtwache für über
hundert „pflegebedürftige" Menschen zuständig
ist. Nach wie vor wird in München von „Kaviarleistungen"
geredet, wenn alte Menschen nach 19 Uhr noch Tee verabreicht bekommen.
Warum werden die Verantwortlichen dieser Mißstände aus Politik
und Verwaltung nicht gezwungen, in die Zimmer der alten Menschen zu
gehen und diesen zu erklären, warum ihnen keine Lebensqualität
mehr zugestanden wird, warum sie ans Bett fixiert und mit Sedidativa
ruhiggestellt werden (über 400 000 sedierende Maßnahmen täglich
„erleichtern" die Pflege in Deutschlands Anstalten)?
Die Gesellschaft teilt sich zunehmend in zwei Welten: Die vor einer
unsichtbaren und dennoch weitgehend undurchsichtigen Mauer, und in die
Welt dahinter. Vor der Mauer befinden sich die jungen, aktiven, gesunden
Menschen, die mit einer unbestrittenen Selbstverständlichkeit am
Leben teilnehmen, ihr Lebensrecht unangefochten wahrnehmen. Die anziehen
können, was sie wollen. Die essen und trinken können, wenn
sie hungrig und durstig sind. Die in ihrer Familie oder als Single ihr
Leben verbringen. Die glauben, niemals auf die andere Seite zu gelangen.
Denn dorthin will niemand. Dort befinden sich die alten und die schwachen
Menschen, die den Erwartungen und dem Druck der Leistungsgesellschaft
nicht (mehr) standhalten, die im Gegenteil von der Gesellschaft Leistungen
benötigen.
Diese Menschen müssen sich ständig (z.B. vor dem MDK und den
SachbearbeiterInnen der Sozialhilfeträgern) rechtfertigen. Sie
müssen erklären, warum sie ihr Essen nicht in zehn Minuten
hinunterschlingen können, wie oft am Tag und warum sie zur Toilette
müssen. Und wenn sie dazu Hilfe benötigen, müssen sie
in der Regel die Hilfe annehmen, die ihnen zugebilligt wird. Sie müssen
ihre Intimsphäre aufgeben, sich von fremden Menschen entblößen
lassen (z.B. alte und auch junge Frauen von Männern), auch wenn
diese ihnen unsympathisch sind. Sie haben keine Einflußmöglichkeit
darauf, wann die Leistungen erbracht werden, sollen sich noch dankbar
zeigen, daß sie diese Leistungen überhaupt erhalten.
Immer wieder blicken Menschen durch Löcher hinter die unsichtbare
und doch scheinbar so undurchsichtige Mauer. Die meisten wenden sich
entsetzt ab, froh auf der „richtigen" Seite zu stehen. Einige
wenige erfassen das eigentlich Unfaßbare und beginnen, für
die Menschen hinter der Mauer zu kämpfen. Die Menschen hinter der
Mauer hoffen, daß endlich etwas passiert, daß das, was ihnen
tagtäglich angetan wird, endlich geändert wird. Denn sie können
nicht verstehen, warum Familienangehörige, Pflegepersonal, PolitikerInnen
und viele andere mehr sehen, was hinter der Mauer geschieht und doch
nichts dagegen tun. Und die, die nichts tun, wissen anscheinend nicht,
wie schnell sie selbst auf der anderen Seite der Mauer stehen können.
Daß sie selbst eines Tages diejenigen sind, die nicht verstehen
können, warum ihnen niemand hilft.
Wir alle sind aufgefordert, uns für die Rechte der Menschen einzusetzen,
egal ob diese Menschen behindert, chronisch krank, alt oder jung sind.
Wir müssen denjenigen, die sie benötigen, die gleiche Solidarität
beweisen, die wir von anderen für unsere Belange fordern.
Nicht nur in Anstalten
existieren Mißstände. Niemand weiß, wie viele Menschen
mehr oder minder unterversorgt zu Hause sitzen! Sie leben mit der Angst,
(wieder) in Anstalten eingewiesen zu werden, wenn sie die notwendigen
Assistenzleistungen beantragen und durchkämpfen wollen.
Und die Kostenträger nutzen diese Ängste, bescheiden Anträge
zunächst einmal (häufig konträr der Gesetzeslage) negativ,
wohl wissend, daß viele AntragstellerInnen weder über Mut
noch Rechtskenntnisse verfügen und ins Widerspruchs- oder gar Klageverfahren
gehen. Glücklicherweise lehnen sich immer mehr behinderte und chronisch
kranke Menschen gegen diese, verwaltungstechnisch leicht zu handhabende,
Aussonderungspolitik auf.
Nicht die Ursache der Behinderung oder chronischen Krankheit darf über
Leistungen und damit verbundener Lebensqualität der einzelnen entscheidend
sein. Menschen, deren Behinderung z.B. auf einem Arbeitsunfall beruht,
erhalten in der Regel die von ihnen benötigten Hilfsmittel und
sonstigen Leistungen.
Geburtsbehinderte oder im Kindesalter erkrankte Menschen und ihre Familien
müssen ihr Leben häufig auf der Stufe von Sozialhilfeempfängern
verbringen, da sie ihr Einkommen und Vermögen stets vorrangig einbringen
müssen. Besonders auch Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen,
die nie Rentenversicherungs- und Krankenversicherungsansprüche
erwerben können, weil sie in Aussonderungseinrichtungen untergebracht
werden, sind davon betroffen.
Die neue Regierung hat auch den Stimmen behinderter, chronisch kranker
und alter Menschen ihre Wahl zu verdanken. Diese WählerInnen erhofften
sich von einer neuen Regierung eine humanere Sozialpolitik, die auch
ihre Belange berücksichtigt. Doch die neue Regierung setzt erste
Zeichen mit der Ernennung eines nichtbehinderten „Beauftragten
der Bundesregierung für die Belange der Behinderung." Selbst
die einfach umzusetzende Forderung (es standen zwei geeignete Kandidaten
zur Verfügung) nach einem behinderten Menschen für dieses
Amt, verwirklichte sie nicht.
Auch Oskar Lafontaines Gedanken zur Pflegeversicherung, nämlich
diese abzuschaffen, weckt größte Bedenken. Und plötzlich
wird die aus der Opposition heraus als „zunehmend unsoziale und
inhumane" beschimpfte Sozialpolitik zur „Vollkaskoversicherung,
die abgeschafft werden muß". Es gilt wachsam zu sein, Kontakt
mit den PolitikerInnen zu halten und sie zur Umsetzung ihrer Wahlversprechen
aufzufordern.
Denn nach den Wahlen ist auch vor den Wahlen!