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Totale Abhängigkeit im Alter - ein Leben jenseits von Freiheit und Würde?

INFORUM: Ausgabe 1/2003 (Textauszug)

Totale Abhängigkeit im Alter - ein Leben jenseits von Freiheit und Würde?

Zur Altenpflege unter ethischem Aspekt

Den nachfolgenden Vortrag hielt Prof. Dr. Otto Speck bei einem „Pflegestammtisch" in München

Zur Aktualität des Themas:

Was bedeutet es, wenn hier so viele Menschen zusammenkommen, um darüber zu streiten, ob die Menschenwürde in Altenpflegehelmen massiv verletzt wird oder nicht? Soweit ich sehe, stehen sich drei Gruppen mit unterschiedlichen Positionen gegenüber:

  • Zum einen sind es die moralisch Betroffenen, die nicht anders können, als die unerträglichen Zustände anzuklagen, die sie aus eigener Erfahrung belegen können, im wesentlichen Angehörige und couragierte Fachleute.
  • Zum andern sind es die Angegriffenen, die sich gegen eine „Verunglimpfung" und „Kriminalisierung" ihres Berufsfeldes wehren.
  • Schließlich sind es die übergeordneten Verantwortungsträger, von denen man erwartet, dass sie den umstrittenen Zuständen nachgehen, um eine menschenwürdige Pflege zu garantieren, die aber im wesentlichen schweigen.

Alle diese Gruppen im Dreieck aber versichern, dass für sie die Achtung der Menschenwürde als verbindlich gilt. Wie passt das zusammen? Ist das Ethische so flexibel anwendbar, dass es jeder für sich reklamieren kann? Müsste dann nicht jegliches Verhalten in gleicher Weise gültig, also gleichgültig sein?

Die prompte Zurückweisung jeder Kritik- und Schuld erinnert mich an die uns Autofahrern vertraute Faustregel nach einem Unfall: Keine Schuld anerkennen! Abstreiten bis zum Äußersten! Solange diese Rechtsstreit-Mentalität vorherrscht, ethische Werte verdrängt und jedes Schuldeingeständnis als taktischen Fehler oder als Schwäche erscheinen lässt, wird. sich an der beklagten Situation der Altenpflege nichts ändern.

Die Leidragenden sind in erster Linie hilf- und wehrlose Menschen, die erleben müssen, dass für sie eine Welt zusammenbricht, die sie ein Leben lang mitgestaltet hatten, damit sie eine menschliche sei.

Allgemeine Vorbemerkungen:

Ich möchte ausdrücklich betonen, dass das, was hier als ethische Orientierung angesprochen wird, als allgemein bekannt gelten dürfte, und etwa in jeglicher Pflegerinnen-Ausbildung und Pflegetheorie unbestrittene Gültigkeit hat. Das eigentliche Problem stellt sich in der menschlichen Praxis mit ihren Unwägbarkeiten.

1. Totale Abhängigkeit
Was die Situation alter pflegebedürftiger Menschen besonders kennzeichnet, ist deren einschneidende Abhängigkeit von Anderen. An sich erlebt der Mensch eine vergleichbare Abhängigkeit auch am Anfang seines Lebens. Die Entwicklungslinien sind aber entgegengesetzte: Während beim kleinen Kind die Fremdbestimmung auf die Entfaltung von Selbstbestimmung gerichtet ist, erlebt der in Selbstbestimmung gereifte alte Mensch deren Abbau und Verlust. Abhängigkeit an sich ist etwas menschlich Natürliches. Legitim ist sie aber nur, soweit Selbsthilfe nicht möglich ist. Andernfalls wirkt sie zerstörend.

2. Selbstbestimmung (Autonomie)
Der partiellen Abhängigkeit steht die Angelegtheit auf Selbsttätigkeit, Selbststeuerung Unabhängigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung oder Autonomie gegenüber. Es sind dies menschlich höchste Werte. Aus ihnen geht die Selbstachtung hervor, ohne die die eigene Lebensführung ihr Zentrum verlieren müsste. Wenn Freiheit und Selbstbestimmung höchste Werte sind, muss Hilfe stets Hilfe zur Selbsthilfe sein. Helfendes Eingreifen ist nur dann gerechtfertigt, wenn es dazu beiträgt, dass der Andere sein Leben möglichst selbsttätig leben kann, auch wenn es nur noch Spuren von Autonomie sein sollten.

3. Achtung vor dem Anderen
Die Selbstachtung wiederum hängt wesentlich davon ab, wie weit der Mensch von Anderen geachtet wird, oder was er ihnen wert ist. Dabei kann es nicht allein auf Verdienste ankommen. Es muss einen Menschenwert und damit eine Achtung geben, die in jedem Falle, also unbedingt, gilt, eben weil der Andere Mensch ist wie ich. Er ist Wert an sich.

Wenn meine Achtsamkeit für den Anderen ansprechen soll, muss ich ihm ins Angesicht schauen können. Erst auf gleicher Augenhöhe kann ich den Impuls wahrnehmen, der von ihm ausgeht und mich auffordert: Tu mir nicht weh! Hilf mir, aber nur soweit ich Hilfe brauche. Sei mir nah, aber wahre auch Distanz mir gegenüber!

Wenn diese Achtung des Anderen für den Einzelnen nicht mehr spürbar wird, fühlt sich der Mensch ausgestoßen. Massive psychophysische Schäden können eintreten; der Lebenswille kann brechen. Umgekehrt wird durch Achtung Leben gestützt und belebt, gleichgültig, wie unzulänglich oder imperfekt es sei.

4. Missachtung - Demütigung

Missachtung verletzt. Sie wird spürbar, wenn die Eigenbedürfnisse nicht mehr „zählen", wenn man zu „einer Nummer wird", zu einem bloßen Objekt, dem man sogar die Gesprächsgemeinschaft verweigern kann. Was damit praktiziert wird, ist Erniedrigung und Demütigung. Es wird im Grunde Gewalt angetan. Dies geschieht vor allem dann, wenn die äußeren Bedingungen „unmenschliche" sind. Demütigung und Erniedrigung können zum festen System und zum Alltag werden.

5. Menschenrechte
Wir alle kennen den ethischen Grundsatz: Behandle den Anderen so, wie Du behandelt werden möchtest! Wir kennen auch den biblischen Satz: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst! Nachdem die religiösen Leitbilder mehr oder weniger verblasst sind und sich immer mehr subjektiv geprägte Normen- und Wertsysteme Geltung verschafft haben, müssen wir uns ethisch neu orientieren, um die Menschlichkeit zu bewahren.

Wir halten uns heute vor allem an die „Menschenrechte", ein Kulturgut, das die Menschen im Laufe ihrer jüngsten Geschichte erworben haben, das aber zugleich auch in der menschlichen Natur seine Wurzeln hat. Das Soziale, die Beachtung des Anderen neben mir, ist auch biologisch vorprogrammiert. Wir fühlen diese Angelegtheit spontan, z. B. wenn wir einem anderen Menschen begegnen, der Hilfe braucht: Unwillkürlich wollen wir zupacken und helfen. Wir können nicht einfach vorübergehen. Wir empören uns, wenn Andere vernachlässigt, gedemütigt oder sonstwie psychophysisch verletzt werden. Die moralischen Gefühle sind die Grundlage unseres ethischen Verhaltens.

Diese unsere moralischen Gefühle können verloren gehen, wenn sie nicht gepflegt und von uns kontrolliert werden. Schleusen der Gleichgültigkeit und der Unmenschlichkeit konnten sich öffnen. Achtung voreinander haben wir in unserer Lebenspraxis zu lernen oder wir haben sie nicht.

Gefühle allein reichen aber nicht aus. Von jedem wird erwartet, dass er sein Tun und Lassen auch rechtfertigen und begründen kann. Wir haben Rechenschaft abzugeben. Es kann nicht gleichgültig oder Zufall sein, wie wir miteinander umgehen. Wir können es nicht zulassen, dass die Menschenrechte verletzt werden.

Wann aber werden sie verletzt? Viele verletzen und merken nichts bzw. bestreiten es. Die Verletzung spürt in erster Linie der Andere, das Opfer. Viele von ihnen schweigen, wenn ihnen Gewalt angetan wird, wenn sich einer zum Herrn über sie macht, weil sie sich nicht wehren können.

6. Menschenwürde
Wir stützen uns heute vor allem auf den ethischen Grundbegriff der Menschenwürde. Die Achtung der Menschenwürde gehört zu den Menschenrechten. („Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" 1948). Die Menschenwürde hat höchsten ethischen Rang. Wir sagen, sie gilt absolut und darf durch nichts relativiert werden. Der Mensch ist Wert oder Zweck an sich, weil er Mensch ist.

Menschenwürde kommt also jedem Menschen zu, sei er jung oder alt, gut oder böse, gesund oder krank, reich oder arm, verdienstvoll oder nicht. In diesem Sinne kann niemandem seine Menschenwürde abgesprochen werden. Sie ist unverfügbar. Sie ist von keinen Bedingungen abhängig. Sie gilt als unbedingter innerer Wert. Sie hat keinen Preis, keinen Marktwert, etwa nach Mode, Gebrauchsqualität oder Kassenlage.

Eine Aufteilung der Menschen in mehr oder weniger nützliche oder würdige müsste verheerende Folgen für das Zusammenleben haben. Ganz bewusst haben die Autoren unseres Grundgesetzes die Achtung der Menschenwürde zum ersten Artikel unserer Verfassung erklärt; vorausgegangen war die ungeheuerliche Barbarei und Menschenverachtung in der Nazizeit. Der Staat hat die Wahrung der Menschenwürde laut Grundgesetz als ein Grundrecht zu garantieren und dafür zu sorgen, dass keine rechtlichen Regelungen erlassen und keine Praktiken geduldet werden, die dieses Recht verletzen. Gegebenenfalls hat er einzugreifen.

Spezielle Bemerkungen zur Ethik der Altenpflege


Nach allem, was wir inzwischen über die akute Situation in der Altenpflege wissen, ist davon auszugehen, dass es hier zu massiven Verletzungen der Menschwürde kommt. Warum gerade hier?

Warum sind gerade alte und pflegebedürftige Menschen derart entwürdigenden und lebensbedrohenden Bedingungen ausgesetzt, wie dies permanent authentisch berichtet wird? Warum lösen diese Berichte in der Öffentlichkeit nur hilflose Empörung aus im Unterschied zu sonstigen Reaktionen auf Missstände oder Vergehen, bei denen in aller Regel sofort gesetzliche Gegenmaßnahmen gefordert oder eingeleitet werden? Warum bitten die Informanten - es sind im allgemeinen die verzweifelten Angehörigen - um Schutz ihres Namens, wenn sie nachweislich nur die Wahrheit wiedergeben? Warum fühlen sich Menschen, die in der Pflege arbeiten, von den Berichten über Missstände verletzt, auch wenn sie diese kennen?

Warum sehen sich engagierte und couragierte Pflegekräfte, die sich zur öffentlichen Kritik an ihrer entwürdigenden Berufspraxis entschließen, mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes bedroht und das in einem demokratischen Staat? Warum tun sich Staatsanwaltschaften so schwer, mit Rechtsmitteln einzugreifen? Handelt es sich um einen rechtsfreien Raum? Warum herrscht bei den übergeordneten verantwortlichen Instanzen weithin das große Schweigen, obwohl es sich eindeutig um Verletzungen des Art. 1 Abs. 1 GG handelt, wo es heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt"? Angesprochen sind die Einzelnen, aber auch die Verbände und die staatlichen Instanzen.

  1. Was den Einzelnen betrifft, so fühlen sich viele Menschen heute angesichts der Wertevielfalt um sie herum moralisch verunsichert. Das, was ethisch verpflichtet, ist nicht mehr klar definiert und allgemein verbindlich. Wir reden kaum mehr vom Gewissen. Der ursprüngliche ethische Impuls, alten Menschen zu einem menschenwürdig Leben zu verhelfen, kann ins Wanken geraten. Die ethische Gesinnung kann Schaden nehmen.
  2. Dies kann vor allem unter dem Einfluss gesellschaftlicher Bedingungen geschehen, die das eigene Gewissen unter Druck setzen. Nutzenwerte können in den Vordergrund treten und Solidaritätswerte zurückdrängen. Die soziale Achtsamkeit kann dadurch getrübt oder ausgeschaltet werden. Die Dominanz ökonomischer Werte begünstigt die Stärkeren und Produktiveren, während das Schwächere bzw. Nicht-mehr-Nützliche abgewertet wird. Alte und aufwändig zu Pflegende gelten volkswirtschaftlich als belastende, d. h. zu reduzierende Kostenfaktoren.

    In der öffentlichen Diskussion tauchen dann Schlagworte auf, wie: „Ist das höhere Lebensalter noch finanzierbar?"' – „Wie alt sollen Menschen werden?" – „Ökonomische Grenzen der Lebensrettung" – „Die Alterspyramide als apokalyptische Vision".

    Die Politik reagiert relativ hilflos. Sie weiß sich zwar dem Art. 1 (1) verpflichtet, reagiert aber auch mit dem Rechenstift. Rationalität sei angesagt und diese erfordere, nüchtern abzuwägen, was wir uns „wirtschaftlich noch leisten können", und ob sich „eine teure Pflege" lohne, zumal in Zeiten der „Kostenexplosion" und der nötigen Kostendämpfung. Moralische Gefühle müssten zurücktreten. (400 Mill.-Defizit, Transferieren nach Osteuropa!?)

    Es ist mir natürlich bekannt, dass das nicht das Ganze unserer Sozialpolitik ist. Sie wehrt sich gegen einen Abbau sozialer Qualität gerade bei den sozial Schwächsten; aber sie gerät eben auch in den Sog einer kritischen wirtschaftlichen Entwicklung. Dabei kann nicht mehr nützliches Leben zu einem Restdasein werden, das eigentlich möglichst bald zu Ende gehen sollte. - Manchmal haben wir den Eindruck, als sei in Deutschland eine Wohlstandserhaltungs-Hysterie ausgebrochen, als stünden wir vor dem wirtschaftlichen Ruin, der nur abgewendet werden könne, wenn man „unnötige" Kosten senkt, also den relativ hohen Aufwand für die „Überflüssigen" - ein neuer soziologischer Begriff! Mit einer derartigen Denkweise, die das Soziale relativiert, verändern sich auch die allgemeinen Mentalitäten und Normen.
  3. Eine dritte Einflussgröße sind die institutionellen Bedingungen. Sie können ethisches Verhalten erschweren oder unmöglich machen. Die rechtlich fixierten Strukturen unserer Altenpflege haben zu Arbeitsbedingungen geführt, bei denen die Ethik nur geringe Chancen hat und ethische Achtsamkeit abstumpfen kann. Die personellen Ressourcen sind derart knapp bemessen, dass die Helfenden überfordert und gezwungen werden, ethische Rücksichten zu vernachlässigen. Wenn das Personal bis an den Rand der Erschöpfung arbeiten muss, bleibt - ich zitiere eine Pflegerin - keine Zeit für Menschlichkeit. Es wird ausschließlich nach wirtschaftlichen Kriterien gearbeitet. Eine menschenwürdige Pflege ist nicht mehr möglich. Ein Leistungskatalog, der nicht eine einzige Minute für Gespräche erlaubt, ist schlechthin unmenschlich.

    Institutionelle Strukturen dieser Art können zu einer „Gewöhnung" an eigentlich unverantwortliche Zustände führen: Die Pflegequalität und damit die Lebensqualität werden herabgesetzt. Die Achtung vor den hilflosen alten Menschen wird unterminiert. Diese verfallen körperlich-seelisch und erfordern damit einen erhöhten Zuwendungs- und Pflegeaufwand, der aber aus finanziellen Gründen nicht geleistet werden kann. Ein Teufelskreis, der alle in die Verzweiflung oder Resignation treiben könnte und dabei die Kosten nach oben treibt!

    Ethisch unverantwortbar ist es, wenn das Pflegepersonal sich genötigt sieht, moralische Grundsätze abzulegen, und zuzulassen,
    • dass hilflose Menschen in einer unverantwortlichen Abhängigkeit gehalten werden und keine ausreichenden Möglichkeiten haben, selbstbestimmt zu leben,
    • dass sie nicht täglich angemessene Mahlzeiten und ausreichend Flüssigkeit erhalten,
    • nicht zu jeder Zeit auf die Toilette gehen können,
    • nicht jeden Tag gewaschen, angezogen und gepflegt werden,
    • nicht täglich aus den Betten kommen und frische Luft atmen können,
    • sich nicht ihren Zimmerpartner selbst wählen können,
    • dass sie Magensonden erhalten, obwohl diese nicht nötig sind,
    • dass ihnen keine Gelegenheiten zu Gesprächen zustehen,
    • dass bei der großen Zahl nicht deutschsprechender Pflegepersonen jegliche sprachliche Kommunikation unmöglich wird,
    • und dass die Intimsphäre gröblichst dadurch verletzt wird, dass Frauen es sich gefallen lassen müssen, von Männern gewaschen zu werden, was im Falle muslemischer Frauen einen klaren Sittenverstoß darstellt.

    Was hier passiert, ist eine institutionelle, rechtlich sanktionierte Demütigung und Erniedrigung. Eine ganze Gesellschaft stellt sich damit in Frage, als human zu gelten. (A. Margalit: Keine anständige Gesellschaft!)

    Ethisch geboten wäre eine aktivierende Hilfe zur möglichsten Selbsthilfe, zumindest aber eine Hilfe, die nicht zum Verlust der Selbstkontrolle und des eigenen Lebenswertes führt. Auch der schwächste alte Mensch sollte erleben können, dass er auch an seinem Lebensende noch an der kulturellen und sozialen Gemeinschaft Anteil hat, in der er aufgewachsen ist und die er sein Leben lang mitgestaltet hat. Der Verlust dieser Teilhabe bedeutet einen Absturz aus einer Welt der Menschlichkeit, in der das eigene Leben bisher Sinn und Halt gefunden hatte, in etwas, was der Hölle gleichkommt.
  4. Wer aber ist eigentlich für das alles verantwortlich? Wir müssen noch eine vierte Größe nennen, nämlich diejenigen, die organisatorisch und rechtlich übergeordnete Verantwortung tragen. Sie sind in einer prekären Situation: Sie fühlen sich aus ihrer Sicht zugegebenermaßen sozial verantwortlich, sehen aber keine Möglichkeit, die Realität entsprechend zu ändern. Sie sind von ihr im allgemeinen auch sehr weit entfernt, nicht auf Augenhöhe! Obwohl - oder weil - die Situation der zahlreicher werdenden alten pflegebedürftigen Menschen auf einen ethischen und sozialen Notstand zutreibt, bleiben sie hilflos und schweigen. Ihre verständlichen, aber insgesamt seltenen Versuche, sich zu rechtfertigen, wirken realitätsfremd und bringen nichts. Die „staatliche Gewalt" greift nicht ein, obwohl klare Missstände zu Tage treten. Es heißt, einklagbare Straftatbestände seien nicht nachweisbar. Es handle sich eher um moralisch anfechtbare Einzelfälle.

    Hier stellt sich im übrigen die generelle Frage nach der Kontrollierbarkeit der Pflege. Wirkliche Lebensqualität ist letztlich nicht messbar. Wie schwerwiegend und eindeutig müssen Missstände sein, damit sie rechtlich einklagbar sind? Fatal wäre es, wenn die faktische Machtlosigkeit der externen Instanzen es erlaubte, öffentlich behaupten zu können, in der Altenpflege sei alles in Ordnung; und wer Gegenteiliges behaupte, habe mit Verleumdungsklagen zu rechnen. - Man könnte irre werden!
Wohin treibt also das Ganze?

Wenn die politische Hilflosigkeit und der wirtschaftliche Druck weiter anhalten, wird sich der Gedanke aufdrängen, das Problem durch Eingriffe lösen zu sollen, zumal viele hilflose und verzweifelte alte Menschen in ihrer Situation sich selbst ein Ende ihrer Leiden wünschen. Vom englischen Moralphilosophen J. Harris stammt das Wort, man solle die Alten sterben lassen, „Wenn es ihnen doch tot besser geht". Ein Leben, in dem die Freude am Leben fehle, und das keinerlei Sinn mehr habe, so argumentiert der australische Moralphilosoph P. Singer in seiner „Praktischen Ethik", sei nicht mehr lebenswert. Wenn aber nicht mehr lebenswert, so lege es die Vernunft nahe, über die Beendigung solchen Lebens nachzudenken.

Wie stehen wir zu diesen „ethischen" Thesen? Die Euthanasie ist in zwei unserer Nachbarländer gesetzlich erlaubt. Andere werden vermutlich folgen. Deutschland spielt historisch bedingt eine Sonderrolle. Aber wie lange noch werden hier die ethischen Dämme halten? Wo wäre die nötige Grenzlinie zu ziehen? Wer kann verantworten, dass Ärzte und Angehörige verpflichtet werden, über den Sinn und die Beendigung eines Menschenlebens nachzudenken, und dieses u. U. enden zu lassen. Stellt eine solche „Pflicht" nicht eine ethische Perversion im Sinne einer „paktierten Kooperation" (Luhmann) dar?

Wird unser ethisches Wertesystem nicht grundlegend verändert, wenn da oder dort, laut oder leise davon die Rede ist, dass unheilbar kranke alte Menschen den Nachfolgenden „Platz machen" sollten (Richard Lamm, amerikanischer Gouverneur), und wenn es als nötig angesehen wird, entgegenstehende „überholte" moralische Bedenken beiseite zu lassen. Das Basteln an Kriterien, wer als Mensch noch Lebenswert habe und wer nicht, bedeutet, dass sich der Mensch zum Herrn über Leben und Tod macht. Es wäre die zivilisatorisch sanktionierte Entwürdigung des Menschen, der als unbrauchbar gewordenes Wesen ausgestoßen wird.

 

Worauf wird es ethisch ankommen?

Sind wir einer nicht mehr aufzuhaltenden Entwicklung ausgeliefert? Wenn Krisen gemeistert werden sollen, wird es im Besonderen auf die ethisch Verantwortlichen ankommen, und das sind wir alle. Der Ethik kommt gerade in unserer hochrationalisierten, religiös emanzipierten Gesellschaft eine wichtige Korrekturfunktion zu. Dabei wird es vor allem darauf ankommen, dass wir nicht ablassen, die Achtung der Menschenwürde einzufordern und ihren Sinn zu vertreten. Es wird auf Menschen ankommen, die auch in einer Sinn-Krise nicht resignieren sondern - etwa durch ihr persönliches Engagement - neue Sinn-Möglichkeiten aufzeigen, auch wenn sie dabei penetrant werden und ihr Aufschrei nahezu verhallt. Die alten Menschen erwarten, dass unverantwortliche Zustände offen gelegt und wenn nötig angeklagt und abgestellt werden. Es gibt schließlich durchaus Modelle einer wirklich menschenwürdigen Pflegepraxis und damit auch bessere Perspektiven für eine menschlichere Zukunft. Was nicht verloren gehen darf, wäre die Tugend, die wir Zivilcourage als zivile Tapferkeit nennen.

Eine menschlichere Zukunft wird uns nicht geschenkt. Wir selber müssen für sie eintreten. Dass wir hier schon eine Menge mobilisiert und sensibilisiert haben, zeigt u. a. dieser „Stammtisch" hier.

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